Das letzte Schweigen

Deutschland 2010 · 114 min. · FSK: ab 12
Regie: Baran bo Odar
Drehbuch:
Kamera: Nikolaus Summerer
Darsteller: Ulrich Thomsen, Wotan Wilke Möhring, Katrin Saß, Burghart Klaußner, Sebastian Blomberg u.a.
Eine Heuleiche

Das Böse im Normalen

Mörder in der Mitte der deutschen Vorstadt

Der Film macht von Anfang an klar, worum es geht. Ein insis­tie­render, vage an Bernard Hermans Hitchcock-Scores erin­nernder Geräusch­tep­pich, vermischt mit fernen Kinder­schreien, lässt den Betrachter nicht eine Sekunde im Unklaren darüber, womit man hier zu tun hat: Thrill, Horror, es wird Tote geben, all das ist nur eine Frage der Zeit. Das Bild fährt derweil auf eine Wohnungstür zu. Die liegt in der höheren Etage eines mehr­s­tö­ckigen Gebäudes. Das Innere der Wohnung ist in Halb­dunkel getaucht, Vorhänge sperren das Sonnen­licht aus und bewegen sich leicht, ein Venti­lator dreht sich. All dies evoziert bekannte Kino­bilder, es sind klas­si­zis­ti­sche Ornamente, die große Erwar­tungen schüren wollen und – viel­leicht eine Spur zu deutlich – um die Bereit­schaft des Betrach­ters bitten, in diesem Film mehr zu sehen, als Durch­schnitts­ware.

Ein Film­pro­jektor dreht sich, das an die Wand geworfene Bild zeigt ein junges Mädchen­ge­sicht mit Brille, das unsicher und ängstlich aussieht, dann ist der Film vorbei und ein harter, doch arg eindeu­tiger Schnitt führt direkt auf den Unterleib eines Mannes. Noch ein zweiter sitzt in diesem Wohn­zimmer, dann sieht man beide, wie sie in ein Auto steigen und wegfahren. »8.Juli 1986« wird einge­blendet, und nun zeigt das Debüt von Baran Bo Odar, die Verge­wal­ti­gung und den Mord an einem jungen Mädchen, den die beiden Männer begehen. Wobei der jüngere von ihnen, Timo, eher passiv, entsetzt, aber ohne Wider­stand dabei­ste­hend, beteiligt ist. Nicht im Unklaren ist der Zuschauer also darüber, wer hier die Täter sind; es geht in diesem Film um ihr Seelen­leben, Spannung und Horror müssen daraus entstehen, dass der Zuschauer Dinge kommen sieht, oder fürchtet.

Dann springt die Handlung in die Gegenwart. Timo, eindring­lich gespielt von Wotan Wilke Möhring, den wir eben noch als Mitläufer beim Mord gesehen haben, ist jetzt Architekt und verhei­ra­teter Fami­li­en­vater, und lebt in einem Nach­barort. Der Film skizziert im Folgenden das Soziotop bundes­deut­scher Vorstadt­ver­hält­nisse: Gutsi­tu­ierte Familien in Bungalows mit Garten, man hat zwei Autos, die Kinder spielen Tennis. Eine Familie lernt man näher kennen, und ahnt sofort, warum: Die Tochter wird ein nächstes Opfer werden. Hinzu kommen ein paar andere Figuren: Etwa die Mutter des 1986 ermor­deten Mädchens, die jeden Tag am Tatort vorbei­joggt, und Blumen hinter­legt; vor allem aber der Mikro­kosmos der örtlichen Polizei. Der alte Kommissar, der einst erfolglos ermit­telte, feiert gerade seinen Ausstand, sein Nach­folger ist ein unan­ge­nehmer, mit der Aufgabe über­for­derter Anpasser, der immer dumme Fragen stellt. Dann gibt es den »Sensiblen«, der über den Krebstod seiner Frau nicht wegkommt, und der bei den auf den neuen Mord folgenden Ermitt­lungen der Empfind­same ist, ein Instinkt­mensch mit »zweitem Gesicht« und insofern hier eine proble­ma­ti­sche Figur, als das sie eher in einen Mystery-Thriller gehörte. Schließ­lich seine hoch­schwan­gere Partnerin, die »gute Seele« des Kommis­sa­riats.

All dies sind im Großen, Ganzen inter­es­sante, auf ihre Art echte, gut entwor­fene Figuren – eine beacht­liche Leistung für einen Erstling, und Regisseur und Dreh­buch­autor Baran Bo Odar gewann zudem bis in die Neben­rollen eine hoch­karä­tige Besetzung: Jule Böwe, Burghart Klausner, Katrin Sass, Oliver Stokowski, Claudia Michelsen, Sebastian Blomberg, Karoline Eichhorn – und vor allem Ulrich Thomsen in der Rolle des zweiten Mörders von stiller, fröh­li­cher Bosheit, ein teuf­li­scher Schurke.

Visuell ist das gelungen. Abgesehen vom etwas zu häufigem Zeit­lu­pen­ein­satz und unnötigen Hubschrau­ber­flügen – oder bekommt man an der HFF München sein Examen nur, wenn im Film eine Hubschrau­ber­auf­nahme vorkommt? Ein Flie­ger­schein gehört da jeden­falls zu den Aufnah­me­be­din­gungen – findet Kame­ra­mann Nikolaus Summerer sehr schöne Bilder und einen tref­fenden farb­li­chen Grundton. An der Story irritiert dagegen, das bis zum Ende diverse Motive nicht weiter verfolgt werden, obwohl ihre Spuren so gelegt wurden, dass jeder mitden­kende Zuschauer nur darauf wartet, dass sie endlich entschlüs­selt werden: Eine DVD-Verpa­ckung, die einer Ermitt­lerin auffällt, und ein Junge in der Hochhaus-Siedlung, bezeugen könnte, dass die beiden Mörder sich kennen. Nicht zum Vorteil der Sache bleibt auch der Charakter der Täter unscharf: Keines­wegs ist Pädo­philie als solche schon mit Gewalt­an­wen­dung gleich­zu­setzen, und selbst Gewalt­täter sind keines­wegs auto­ma­tisch Seri­en­mörder.

In der Fülle der Figuren und der in ihnen ange­legten Geschichten zeigt sich zudem ein grund­sätz­li­ches Manko: Das letzte Schweigen will manchmal zuviel und jeden­falls zuviel auf einmal erzählen, und sucht bis zum Ende seinen Focus. Geradezu groteske Folgen hat das Ganze, wenn man beim Nach­denken über den Film irgend­wann erkennt, dass der Regisseur auch in der Frage des Mörders, bzw. der eigenen Position gegenüber dem Thema Seri­en­mord, nichts falsch machen, und schon gar nichts auslassen wollte: Er will, dass wir für den Killer Vers­tändnis und Mitleid haben, und will, dass wir ihn hassen, er will ihn huma­ni­sieren und als Mitmensch zeigen, und als Monster. Er will, dass er weg ist, und immer noch unter uns, er will das Bedürfnis nach Beru­hi­gung befrie­digen, dadurch das der Täter weg ist, und das Bedürfnis nach Beun­ru­hi­gung, dadurch, dass er noch immer unter uns ist. Er will sich, mit anderen Worten, zwischen den Varianten des Seri­en­kil­ler­geres ganz und gar nicht entscheiden müssen. Darum macht er kurzer­hand aus einem zwei. Für Timo dürfen wir Mitleid haben, und er »richtet sich selbst«, für Peer nur Hass, und darum bleibt er unent­deckt.

Auch in seiner Haltung mischt der Film allerlei: Handelt es sich manchmal um eine subtil humor­volle Provinzfarce a la Fargo, die die Polizei ins Zentrum stellt, dann ist es bald ein düster-bedroh­li­cher Seri­en­killer-Movie, und dann wieder das Psycho­por­trait eines Mörders, der mit seiner Tat nicht fertig wird. Und sogar Züge des Sozi­al­melos fehlen nicht. Vor allem scheint sich der Regisseur zwischen Horror- und Thrill­er­genre nicht wirklich entscheiden zu wollen, obwohl beides doch zumindest atmo­s­phä­risch sehr Verschie­denes verlangt.

So weiß man auch am Ende nicht ganz, was eigent­lich der Sinn des Films ist, was er mit dem Betrachter vorhat: Will er einfach nur die Nerven, Sinne und das Gemüt des Zuschauers stra­pa­zieren – wogegen nicht das Geringste zu sagen wäre? Nur fehlte ihm dann einfach der Payoff. Weder wird auf der visuellen oder überhaupt sinn­li­chen Ebene wirklich Hartes geboten, noch echter Thriller-Suspense, noch ein analy­ti­scher Mehrwert im Sinne von Einsichten ins universal Mensch­liche oder konkreter in gesell­schaft­liche Zusam­men­hänge – irgend­etwas davon, zumindest eine ange­deu­tete Rich­tungs­ent­schei­dung, dürfte man schon auch von einem Debüt verlangen. Und die letzt­ge­nannte »zweite Ebene« ihrer Filme ist genau das, was etwa Hitchcock oder Melville bis heute zu Meistern des Genre­kinos und Auteurs in ihm machen.

Das ist das Ärger­liche, dass die vielen guten Ansätze des Films allzuoft nicht zuende geführt werden, das im entschei­denden Moment die künst­le­ri­sche Radi­ka­lität fehlt, der Mut, sich klar auf eine Seite der eigenen Einfälle zu schlagen. So hat dieser Film mitunter den Charakter einer typischen »Visi­ten­karte«, eines ersten Films, in den ein Regisseur möglichst viele weitere andeu­tungs­weise einbaut, um sich für Zukünf­tiges zu empfehlen, vom »Tatort« über das B-Movie und anspruchs­volles Genrekino – wenn denn beides doch irgend­wann einmal in Deutsch­land gemacht werden sollte –, bis hin zum echten Auto­ren­film. Den Zuschauer kann solch ein multi­po­lares Mittel­ding nicht wirklich befrie­digen.

Daran, dass dieser Versuch eines deutschen Genre­films in vielem Einzelnen gelungen ist, in vielen Klei­nig­keiten inter­es­sant, ändert diese Einschrän­kungen aber nichts. Das letzte Schweigen ist genau das, was die deutsche Förder­land­schaft mit all ihren Doppel­zügig­keiten, system­be­dingten Wider­sprüchen und unein­ge­stan­denen Lebens­lügen an Genrekino gerade noch zulässt. Für die Macher ist das ein beacht­li­cher Erfolg.