Russland 2014 · 141 min. · FSK: ab 12 Regie: Andrey Zvyagintsev Drehbuch: Oleg Negin, Andrey Zvyagintsev Kamera: Mikhail Krichman Darsteller: Alexey Serebryakov, Elena Lyadova, Vladimir Vdovitchenkov, Roman Madyanov, Anna Ukolova u.a. |
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Im Angesicht des toten Moby Dick |
Dieses Drama biblischen Ausmaßes ist in gewisser Weise ein russisches Kinowunder. Ist es doch fast nicht zu glauben, dass Regisseur Andrey Zvyagintsevs bitterer Film Leviathan, der Russland, abgesehen von den beeindruckend-rohen Landschaften, nichts Positives mehr abzugewinnen weiß und gegen allgegenwärtige Korruption im Staate wettert, vom Kulturministerium mitfinanziert und ohne jegliche Zensur nach Cannes durchgewunken wurde. Das überwältigende internationale Echo des monumental bebilderten, russlandkritischen Dramas ließ Kulturminister Wladimir Medinski denn auch zu der Verkündung hinreißen, dass zukünftig keine Gelder mehr für solch staatsdiffamirerende Filme zur Verfügung stünden.
Regisseur Andrey Zvyagintsev schafft es vortrefflich, das harte Leben seines Protagonisten auf einer Halbinsel in der Barentssee mit Bildern einer schroffen, ungestüm und unbeherrschbar scheinenden Natur zu umrahmen, die, von pompöser Musik untermalt, die Nichtigkeit des einzelnen Menschenlebens zu unterstreichen scheinen. Vor dem kolossalen Landschaftshintergrund geht es mit Protagonist Kolya (Aleksey Serebryakov) beständig bergab. Er muss als moderne Hiobsgestalt den Verlust aller seiner Habseligkeiten, der Ehefrau und die Enttäuschung seines so lange an ihn glaubenden Sohnes hinnehmen, ohne auf eine finale Erlösung hoffen zu dürfen.
Zvyagintsev zeichnet ein verkommendes Russland, in welchem für das Gute kein Platz mehr ist und die Mühlen der Korruption alles zermahlen, was ihnen im Wege steht. Die einstige Weltmacht siecht dahin, wie das am Strand angespülte majestätisch- furchteinflößende Skelett suggeriert. Ehrliche Seelen und Anti-Alkoholiker haben dabei im Reich der allgegenwärtigen Korruption und Wodkaseligkeit anscheinend nichts mehr verloren. Nicht umsonst trägt Zvyagintsevs, die Hilflosigkeit des Individuums gegenüber der staatlichen Allmacht demonstrierendes Drama den Namen der furchteinflößenden mythologischen Kreatur des Leviathan, die auch Thomas Hobbes für den Titel seiner staatstheoretischen Schrift (»Leviathan or the Matter, Form and Power of a Commonwealth Ecclesiastical and Civil«) 1651 wählte.
Die moderne Passionsgeschichte, die überraschenderweise mit einigen amüsanten Momenten aufwartet, spart nicht mit bissiger Kritik an der Korruptionsbestie, die auch die orthodoxe Kirche und die Judikative längst vereinnahmt. Doch Leviathan hat bei all seiner visuellen Monumentalität damit zu kämpfen, dass das von Kolya durchlittene Martyrium, anders als beispielsweise die Passionsgeschichten eines Lars von Trier, emotional nicht ergreift. Auch führt die distanzierte Schilderung der mit biblischer Symbolik angereicherten Ereignisse zu einer weitestgehend teilnahmslosen Betrachtung der Figuren. Schilderte Regisseur Andrey Zvyagintsev in The Return – Die Rückkehr noch auf intime Weise ein zerrüttetes Vater-Sohn-Verhältnis, ist seine moderne Hiob-Mär nicht mehr auf ihre zentralen Figuren hin ausgerichtet, sondern vielmehr auf eine niederschmetternde, allegoriereiche Status Quo-Zeichnung Russlands fokussiert. Dabei beschreibt der Regisseur ein Land, in welchem das Leben mit seinen zahlreichen Tiefschlägen nur noch durch einen stetigen Wodkafluss durchgestanden werden kann.
Während die einen durch Vetternwirtschaft und Paktierungen im Reich Vladimir Putins immer mächtiger und reicher werden, müssen die anderen bluten und hinnehmen, dass sie keine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation erleben. Korruption und Wodkakosum gehen dabei wie selbstverständlich Hand in Hand – ist die Betäubung durch den gleichbleibend hohen Alkoholpegel doch die einzige Möglichkeit den Machtmissbrauch durch die Oligarchen und die damit einhergehende Ungerechtigkeit stoisch zu ertragen: Nastrovje!
»Sie haben nicht das Recht, sich hier aufzuhalten. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.« – »Du Abschaum hast noch nie irgendwelche Rechte gehabt. Weder hast du welche, noch wirst Du je welche haben.« – Filmdialog
»Alle Macht kommt von Gott. Solange es dem Herrn beliebt, musst Du Dir keine Sorgen machen.« – »Aber beliebt es ihm denn?« – Filmdialog
»Dieser Film sollte nach dem Herrschenden benannt werden, nicht nach dem Beherrschten.« Also sprach Regisseur Andrey Zvyagintsev in einem Interview. Aber wer herrscht hier? Gott? Der Staat, dessen frühneuzeitlich-absolutistische Variante der britische Staatsphilosoph Thomas Hobbes Mitte des 17. Jahrhunderts »Leviathan« taufte? Oder der Wal, also eine mythische, übermenschliche Macht?
»Akhnaten« heißt die Oper von Phil Glass, die zu Anfang und zu Ende dieses Films aus allen Kino-Boxen dröhnt, zu deutsch »Echnaton«, benannt nach jenem altägyptischen Pharao, der gegen den etablierten ägyptischen Götterhimmel rebellierte den Monotheismus einführen wollte – und damit scheiterte. Solcher Referenzen, solcher Bezüge zum Großen der Menschheitskultur, und zugleich zu Geschichten vom Kampf der Menschen gegen die göttliche Ordnung, vom Widerstand gegen die Macht gibt es viele in Leviathan, dem großartigen, widersprüchlichen, anstrengenden, faszinierenden vierten Film des Russen Andrey Zvyagintsev, der hier selbst so eine zeitlose und doch ganz gegenwärtige Geschichte erzählt.
Es beginnt mit statischen Bildern einer menschenleeren felsigen archaischen Küstenlandschaft – zu der erwähnten, immer irgendwie Koyaanisqatsi-haften Phil-Glass-Musik. Allerdings bemerkt man Straßen und Stromtrassen zwischen der mächtigen Natur. Das Licht scheint eines aus dem hohen Norden zu sein, und wüsste man nicht, dass es sich um einen russischen Film handelt vermutete man, es
sei Island oder Nordnorwegen. Hier liegen auch langsam vor sich hinrottende Schiffswracks und das riesige Gerippe eines Walfischs herum. Niemand nimmt davon noch Kenntnis, irgendwie Alltag. Hier spielt der Film, in einer kleinen gottverlassenen Fischermetropole irgendwo am nordwestlichen russischen Polarmeer.
Was ist der Leviathan? Das ist hier die Frage. Es ist die Natur selbst, das Meer, die menschenleere Landschaft.
Ein Mann lebt hier in einem großen Haus, mit seiner gutaussehenden zweiten Frau, dem Sohn aus erster Ehe und vielen Büchern. In den ersten Minuten sieht man diesen Kolya, er ist Fischer und Mechaniker. Im Morgengrauen fährt er los und holt einen anderen vom Provinzbahnhof ab; es sind zwei Freunde aus der Armeezeit, sie verstehen sich gut, vertrauen sich: Dimitri, der Besucher, trägt einen Anzug, er kommt aus der Großstadt, und ist, man erfährt es schnell, Rechtsanwalt.
Wir lernen
die Familie des Einheimischen kennen, seine junge, hübsche und energische Frau Lilya und den halberwachsenen Sohn, dessen Mutter verstorben ist. Und das Haus, in dem er lebt: Alt, schön, über dem Dorf gelegen mit großen Fenstern und prächtigem Blick, innen vollgestopft mit alten Dingen, Möbeln, Literatur.
Man erfährt, dass es um dieses Haus einen Gerichtsprozess gibt, der Bürgermeister hat es darauf abgesehen, der Anwalt aus der Metropole soll helfen. »ich glaube, heute wirst du verlieren«, sagt er, und kurz darauf verliest die Richterin im minutenlangen monomanischen Stakkato-Ton das Urteil, eine absurde Szene, in der die Kamera langsam auf Richterin zufährt, auch das dauert Minuten.
Am Abend dann kommt der Bürgermeister, der es auf das Haus abgesehen hat, unangemeldet an die
Tür, im dicken Auto, mit Leibwächter, besoffen, trunken auch von seiner Macht. Er droht Kolya unverhohlen, ein Abbild von Korruption, Macht, Gewalt. Diese Figur repräsentiert alles, auch die Partei, das Provinzfürstentum, das, was man heute Oligarchie nennt. Aber es könnte alles auch ein Priester zur Zeit von Peter dem Großen sein, ein Adeliger im 18. Jahrhundert, ein Beamter der Zarenzeit in einem Roman von Turgenjew oder Dostojewski. Ist das nun zeitlos oder unpräzis? Geraune
oder das ewige Rußland?
Was ist der Leviathan? Die Bürokratie ist der Leviathan.
Um Recht und höhere Gerechtigkeit geht es hier also, aber eben auch um deren Schattenseiten, um Ungerechtigkeit und Willkür.
Auf den ersten Blick bereits mischt Leviathan die biblische Geschichte von Hiob mit Kleists »Michael Kohlhaas«. In der Figur des Kolya kommen sie zusammen: Der gottesfürchtige, glaubenstreue Leidende und der Gerechtigkeitskämpfer gegen das Establishment.
Denn dieser neuzeitliche Kohlhaas muss nicht allein mit seinem
Glauben ringen, sondern vor allem mit seinem Staat, der dem alttestamentarischen Gott gleich machtvoll, autoritär, oft willkürlich und gelegentlich rachedurstig agiert. Der Anwalt versucht den Bürgermeister zu erpressen, und ganz kurz hält man es für möglich, dass dies Erfolg haben könnte. Aber da hängen wir Zuschauer schon am Haken. Die Macht gibt nicht klein bei.
Eine der eindrucksvollsten Szenen ist ein Sonntagsausflug von Kolya mit Familie und Freunden. Man trinkt viel Wodka und zielt auf Schießscheiben, auf denen Fotos die Gesichter der ehemaligen Führer Russlands zeigen: Lenin, Stalin, Breschniew, Gorbatschow, Jelzin. Einer sogar mit einer Kalaschnikow, einfach, weil Ballern Spaß macht.
»Und habt ihr nicht was Zeitgenössischeres?«, fragt einer. »Lass sie noch ein bisschen an der Wand reifen.« Dies ist eine der lustigsten Szenen, fast wie aus einem Western, dabei grotesk in der Mischung aus Geballer und Wodka-Saufen. Man lacht – und denkt: Ein schreckliches Volk.
Was ist der Leviathan? Der Staat ist der Leviathan.
Man sollte Leviathan, auch wenn diese Sichtweise noch so verführerisch sein mag, dennoch nicht auf das Offensichtliche reduzieren, nicht auf die Kritik am sündhaften politischen System Russlands, das durch Vladimir Putin eher repräsentiert wird, als das es von ihm geschaffen wurde.
Leviathan zwingt schon durch seine Machart zu einem grundsätzlicheren Verständnis: Man wird hier die Ideen der großen russischen Schriftsteller ebenso finden, wie die bedeutender sowjetischer Filmemacher. Die Rebellion gegen Gott und Staat ebenso wie das Bild einer kosmischen Gleichgültigkeit.
Es geht um Gott, und es geht um universale Vergebung. Immer wieder Szenen mit einem Priester. Vor allem die Schurken brauchen die Kirche. Vor allem die
Schurken brauchen Vergebung, göttlichen Beistand. Oder Propaganda.
Was ist der Leviathan? Die Kirche ist der Leviathan.
Ein Stein wird ins Wasser geworfen, und zieht Kreise. Lilya arbeitet in der Fischfabrik, ihre Freundin sagt zu ihr: »Men are all the same, first you are pretty, then they wanna kill you.« Dass sie etwas mit Dimitri, dem Anwalt und vertrauenswürdigen Freund des Gatten hat, das steht zunächst nur seltsam als Andeutung im Raum. »Man is the most dangerous animal«, sagt die Freundin am See.
Später sagt Dimitri zu Lilya: »Kommst du mit mir?« Sie: »Ich verstehe dich nicht.« Sie bleibt bei
Kolya, fragt: Willst du Kinder? Sie hat jetzt Depressionen. Der Sohn hasst sie. Dann ist sie weg.
Was ist der Leviathan? Der moralische Abgrund, die Sünde ist der Leviathan
Man muss zugeben: Ein sehr eindrucksvoller Film, der Bestand hat, eher besser wird in den Stunden und Tagen nach dem Sehen. Man kann sagen: Zumindest darin ein zynischer Film, als dass er sich sämtlicher Klischees bedient, die die Westeuropäer von Rußland haben. Und das als Russe. Ist da nicht auch etwas Selbsthass der russischen Intelligentsia?
Was ist der Leviathan? Der politisch-ökonomisch-religiöse Komplex ist der Leviathan.
Lilya wird tot am Strand gefunden. Kolya wird wegen Mordes verurteilt, 15 Jahre: »That will teach him, to know his place«, sagt der Bürgermeister. Dann kommen Bagger, reißen das Haus ein.
Im Gottesdienst zitiert der Priester »Alexander Newski«, spricht von der »Renaissance der russischen Seele« – auch das so ein Klischee. Aber es ist nicht auszuschließen, dass Russland ein einziges Klischee seiner selbst ist. Die Frage bleibt nur, ob man es so zeigen sollte, auch wenn man Russe ist.
Dann die üblichen Phrasen gegen die Moderne, gegen den »Relativismus«: »How can one preach freedom while destroying the foundations of society? Freedom is finding gods truth. God
sees everything.«
Leviathan – dieser Titel hat, wie der ganze Film, ein Doppelgesicht. Er meint den Walfisch der biblischen Hiobsgeschichte – und man sieht im Film nicht nur das Walgerippe am Strand, sondern auch einmal an entscheidender Stelle einen leibhaftigen Wal, der kurz aus dem Meer auftaucht.
Aber der Leviathan, das ist auch der Titel für den Rohentwurf des neuzeitlichen Staates, der vom Briten Thomas Hobbes Mitte des 17. Jahrhunderts stammt. Dort wird der starke, absolutistische Staat beschrieben, der nichts garantiert außer dem nackten Leben. Aber auch hier ein doppelbödiger Sinn: Denn Hobbes war auch der erste Staatstheoretiker, der den Menschen ein Widerstandsrecht einräumte.
Für Kolya geht – wie bei Hiob – alles schief, was nur schiefgehen kann. Er verliert sein Haus, seine Frau, seinen Sohn und seine Freunde, seine Arbeit, aber er verliert auch seine Ehre und seine bürgerliche Existenz. »Wo ist er, der Gott, der Barmherzige?« – »Gottes Wege sind unergründlich.«
Was ist der Leviathan? Alles ist der Leviathan. Genau diese Totalität, dieses Grenzenlose, Raunende markiert auch die Grenze dieses hochinteressanten, eher jenseits aller Rußlandversteher und Rußlanddiffamierer sehenswerten Films.
Aber erst wenn alle Putin-Kontroversen und Putin selbst verschwunden sind, wird man wissen, ob etwas von diesem Film bleibt.
Nachbemerkung:
In der taz schrieb Barbara Wurm einen spannenden Text zu diesem Film, der glücklicherweise nicht so unkritisch verklärend mit diesem Film umgeht, wie so viele deutsche Rußlandverächter. Darin heißt es unter anderem:
»Zu Jahresbeginn stellte 'Seance', die führende Filmzeitschrift Russlands, ihren Autoren die Frage, ob Leviathan ein universelles Gleichnis oder doch plakative Publizistik sei. Konjunkturen bedienende
Schwarzmalerei, Strategie-Kunst oder eine Enzyklopädie des russischen Lebens? Die Statements belegen, dass niemand die Fähigkeit verloren hat, ästhetische, technische und filmhistorische Urteile zu fällen. Die Autoren von 'Seance' stufen Swjaginzews schon mit The Return – Die Rückkehr (2003) und The Banishment (2007) begonnenen und zuletzt mit Elena (2011) vorangetriebenen Siegeszug im europäischen Autorenkino durchaus kritisch ein. Aber sie zeigen auch, dass ein Film wie Leviathan zurzeit schon allein deshalb unterstützenswert ist, weil er sich (unter dem Strich) gegen den Kompromiss stellt und die Dinge (wenngleich vorsichtig) beim Namen nennt.«
Sicher, auch andere drehen alternativ zum Mainstream. Sicher, dieses Kino mit seiner glänzenden Optik, seinen mythologisch-biblischen Anspielungen und seinen dramatischen Zuspitzungen ist ein wenig prätentiös. Auch im Drehbuch bleiben viele Fragen offen – warum setzt sich ein erfahrener Anwalt ins Auto seines Widersachers, von dem er weiß, dass dieser über Leichen geht? Warum hat er Sex mit der Frau seines ohnehin darniederliegenden Freundes? Dennoch hat Leviathan inszenatorischen Drive und Passagen, die ungemein stark sind. Und andere, die richtig wehtun. Etwa, wenn Kolja und Liljas Freunde sich in ihrer Verunsicherung als Denunzianten erweisen. Leviathan ist dann wie ein Schnitt ins eigene Fleisch.