Schweden/Dänemark 2002 · 109 min. · FSK: ab 12 Regie: Lukas Moodysson Drehbuch: Lukas Moodysson Kamera: Ulf Brantås Darsteller: Oksana Akinshina, Artyom Bogucharsky, Lyubov Agapova u.a. |
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Lilja und die Vergangenheit |
Laute Musik. Zuerst noch denkt man, dass das Mädchen, das da über die Straße rennt, vielleicht nur spielt. Doch dann entdeckt man die Tränen, sieht die ganze Verzweiflung. Und das Blut im jungen Gesicht. Hektische Handkamerabilder verstärken den Eindruck von Panik und Not, das Drama. Genau wie die Musik der Hardrockband Rammstein: »Mein Herz brennt«. Lilya ist am Ende. Über der Autobahn steht sie an der Brücke. Soll sie springen?
Lange schon hat man an einer Filmfigur keinen solchen Anteil mehr genommen, wie an Lilya. Immer wieder im Verlauf dieser Passionsgeschichte, gerät man als Zuschauer in Versuchung, laut zu rufen: Nein! Tu das nicht! Vorsicht! Doch immer wieder geht es noch eine Stufe tiefer. Die Geschichte eines unaufhaltsamen Abstiegs in die Hölle. In den letzten Bildern erst wird sich die Szene des Anfangs aufschlüsseln, werden wir sehen, ob Lilya springt oder nicht.
Zuvor zeigt Lukas Moodyssons neuer, unbedingt sehenswerter Film Lilja 4-ever, wie es zu alldem kam. Es ist eine einfache klare gute Geschichte; konsequent erzählt, ein Melodram zweifellos, dabei immer von einer noch anderen Art von Ernst durchzogen. Fast traumartig erzählt, erinnert es manchmal an die Filme Robert Bressons, mit denen es auch den religiösen Subtext teilt. Bekannt wurde Moodysson mit seinen beiden fröhlich-sensiblen Filmen Fucking Åmål und Zusammen, und kein Geringerer, als Ingmar Bergman outete sich als Fan des Regisseurs. Schon in diesen beiden Filmen erwies sich Moodysson als Filmautor mit besonderem Gespür für die Führung junger Akteure und für das Darstellen jugendlicher Innenansichten. Auch hier nimmt er sie allein ganz ernst, und ihnen gegenüber erscheint die Welt der Erwachsenen als Alptraum: Von Anfang an meint man im Gesicht seiner neuesten Heldin eine Vorahnung zu entdecken, das geheime Wissen darum, dass dies alles nicht gut ausgehen kann. Lilya ist ein 15jähriges russisches Mädchen. Von dem, was einst die Sowjetunion war, existieren nur noch Ruinen. Das Gelobte Land heißt Amerika. Auch Lilyas Mutter will dorthin, und als sie dies kann, verlässt sie dafür sogar ihr Kind.
Lilya bleibt zurück in einer Welt, in der jeder dem anderen ein Wolf ist. Immer wieder stellt Moodysson dabei auch den Zusammenhang mit westlichen Verhältnissen her, zeigt, dass wir etwas mit Lilyas Leid zu tun haben. Aber im Mittelpunkt steht seine Anteilnahme für das Mädchen. Am eindringlichsten wirkt Lilyas ungebrochener Glückshunger, ihr kindliches Hoffen und eine engelsgleiche Unschuld – gerade weil immer das Schlimmstmögliche passiert: Das Mädchen verliert ihre Wohnung, schnüffelt Drogen, vereinsamt, verarmt, wird vielfach betrogen und landet schließlich als illegale Hure in Schweden. Nur manchmal geht es etwas zu weit, etwa wenn sie einmal »schmutziges« Geld wegwirft, obwohl sie es doch so dringend braucht. Manches dauert auch ein bisschen zu lange. Moodysson ist sehr in seine Figuren verliebt, in diesem Fall auch in deren Leid.
Aber dafür entschädigt das großartige Spiel von Oksana Akinshina. Sie ist klug, toll und echt. Stilistisch ist Lilja 4-ever schnell und gradlinig erzählt, am Beginn wie ein Popmovie, später dann immer karger und konzentrierter. Immer bleibt Moodysson ganz nahe an seiner Hauptfigur, in deren Gesicht sich die Kamera immer wieder einmal für Sekunden vertieft. Mal läuft dazu Vivaldi-Musik, dann »t.a.T.u« und »Forever young«.
Allmählich flieht Lilya immer mehr in eine Traumwelt. Und wenn man am Schluß die Zeitlupe einsetzt, denkt man an alle nicht getroffenen richtigen Entscheidungen in diesem Leben. Dann ist Lilya am Ende. Und steht an der Brücke: »Mein Herz brennt!«