Liebe Angst

Deutschland 2022 · 81 min. · FSK: ab 12
Regie: Sandra Prechtel
Drehbuch: ,
Kamera: Susanne Schüle
Schnitt: Andreas Zitzmann
Filmszene »Liebe Angst«
Zwei Wege, eine Wut...
(Foto: Real Fiction)

Ich grolle nicht

Sandra Prechtels Dokumentation über die transgenerationalen Traumata einer jüdischen Familie ist ein offener, familientherapeutischer Raum, der so irritierend wie umwerfend ist

So einen Film würde es in Amerika, Austra­lien oder Israel natürlich nicht geben. Dort, wohin zahl­reiche jüdische Opfer des Holocaust nach ihrem Überleben auswan­derten und schon sehr schnell klar wurde, dass das Verschweigen dieser Traumata Folgen auch für die nächsten Genera­tionen hat. Diese so wichtigen thera­peu­ti­schen Prozesse sind inzwi­schen bis in die Popu­lär­kultur diffun­diert und lassen sich in Filmen und Serien wie Trans­pa­rent, in dem Jewish­ness, familiäre Holocaust-Geschichte und Queerness atem­be­rau­bend verquirlt werden, nur allzugut ablesen.

So einfach ist es in Europa und besonders im deutsch­spra­chigen Kultur­raum nie gewesen, sind Thera­peuten, die sich auf dieses Problem­feld spezia­li­siert haben, an einer Hand abzu­zählen und trifft man selbst als Therapeut mit einem derar­tigen Fami­li­en­erbe auf ungeahnte Hürden, so wie das vor drei Jahren Daniel Howald in Who’s afraid of Alice Miller? so beein­dru­ckend wie berührend gezeigt hat.

Vielen bleibt deshalb nichts anderes übrig, als die trans­ge­nera­tio­nale Trauma­be­wäl­ti­gung selbst in die Hand zu nehmen, um die Folgen des Schwei­gens wenigs­tens irgendwie zu arti­ku­lieren.

Wie so ein Prozess aussehen könnte, zeigt Sandra Prechtel in ihrem nach Sports­freund Lötsch (2008) und Roland Klick – The Heart Is a Hungry Hunter (2013) dritten Doku­men­tar­film sehr eindring­lich. Sie hat für Liebe Angst mit der Sängerin Kim Seligsohn ein Drehbuch entwi­ckelt, das Selig­sohns selbst-thera­peu­ti­schen Prozess mit ihrer Mutter Lore begleitet wie das Auge eines Thera­peuten seine Patienten. Das bedeutet auch, dass hier keine lineare Geschichte erzählt wird, dass es wie in einer Therapie immer wieder über­ra­schend ist, welche Erin­ne­rungs­mo­mente wann an den Strand des verba­li­sierten Bewusst­seins gespült werden. Nur der Anfang ist eindeutig: da ist Kim, die spürt, was sie nicht weiß und da ist das Schweigen ihrer Mutter Lore, die mit sechs Jahren aus ihrem Versteck heraus erleben musste, wie ihre jüdische Mutter nach Auschwitz depor­tiert wurde, um wie die meisten Fami­li­en­an­gehö­rigen getötet zu werden.

Prechtel folgt in ihrem Mutter-Tochter-Porträt diesem unglei­chen Paar mit asso­ziativ-doku­men­ta­ri­scher Klarheit, doku­men­tiert dieses Ringen um Wahrheit, Aussprache und Heilung mit vorsichtig suchenden Einstel­lungen und Dialogen, die jedes Mal ein wenig mehr preis­geben, die auch vom Suizid von Kims Bruder erzählen und die unvor­her­ge­se­henen Folgen von Verdrän­gungs­pro­zessen.

Liebe Angst reagiert in seiner Ästhetik adäquat auf die Traumata seiner Opfer, ist wie ein Arno Schmidt­scher Zettel­kasten, aus dem – wie Lore es selbst im Alltag tut – eine Kartei­karte nach der anderen gezogen wird und die Komple­xität der psychi­schen Verwer­fungen und die verzwei­felte Suche nach Lösungs­an­sätzen fast schon physisch spürbar wird.

Das über­rascht, überzeugt, irritiert aber auch. Denn das Private, das hier gezeigt wird, das Leiden von Lore, die sich windet und krümmt, um sich dem verzwei­felten Angebot ihrer Tochter zu entziehen, ist fast schon eine zu aggres­sive Demas­kie­rung des Leids, weil ein schütz­tens­werter thera­peu­ti­scher Raum der Öffent­lich­keit preis­ge­geben wird. Doch diese Irri­ta­tion ist dann auch wichtig, stellt sich beim Betrachter doch die Frage, ob es, wie einige Thera­peuten inzwi­schen vertreten, viel­leicht mit dem Reden nicht immer getan ist, dass auch das Schweigen seinen thera­peu­ti­schen Sinn hat und nicht unbedingt »erobert« werden muss.

Ein Schluss, dem sich auch Kim Seligsohn anzun­ähern scheint. Und mit dem Ende, einem völlig umwer­fenden Vortrag von Robert Schumanns »Dich­ter­liebe«, dem atem­be­rau­benden »Ich grolle nicht, und wenn das Herz auch bricht...«, ist dann auch alles gesagt, was gesagt werden muss und die Katharsis so voll­kommen vollendet, dass man nur noch weinen möchte.