Longlegs

USA 2024 · 102 min. · FSK: ab 16
Regie: Oz Perkins
Drehbuch:
Kamera: Andres Arochi
Darsteller: Maika Monroe, Nicolas Cage, Alicia Witt, Blair Underwood, Dakota Daulby u.a.
Longlegs mit Nicolas Cage
Verwandlung des Nicolas Cage
(Foto: DCM)

Das Bekannte im Unbekannten

Ein Killer, eine Agentin und ihre Verbindung zueinander – »Longlegs« von Oz Perkins ist ein solider aber wenig überraschender Beitrag zum Horror-Thriller-Genre

Es ist merk­würdig, aber man hat es schon öfter erlebt: dieses Déjà-vu bei Filmen, die man zum ersten Mal sieht. Und auch bei Longlegs, dem neuesten Schocker von Oz Perkins (Gretel und Hänsel), scheint einem einiges schon einmal begegnet zu sein. Ein teuf­li­scher Trick? Alles der Reihe nach, vor der Auflösung erst einmal zur Handlung.

Die wird beherrscht von einer brutalen Mordserie, die die Ermittler seit dreißig Jahren vor ein Rätsel stellt. Wie aus dem Nichts schlachten bisher harmlose Fami­li­en­väter Frau und Kinder ab und richten anschließend sich selbst. Auf den ersten Blick private Tragödien, die nichts mitein­ander zu tun haben. Doch in allen Fällen schien eine unbe­kannte Hand mit am Werk zu sein. Immer wurde am Tatort ein Zettel, dicht beschrieben mit rätsel­haften Symbolen gefunden, unter­schrieben mit dem seltsamen Pseudonym »Longlegs«.

Nun scheint aber etwas Licht in die Sache zu kommen, entzündet von der jungen FBI-Agentin Lee Harker (Maika Monroe). Die intro­ver­tierte Frau scheint selbst einen Draht zum Über­na­tür­li­chen zu haben, was den Stein der Lösung nach drei Dekaden des Still­stands endlich ins Rollen bringt. Doch Schritt für Schritt wird auch klar, dass Lees Vergan­gen­heit weitaus mehr mit dieser Mordserie verwoben ist, als zunächst ange­nommen. Für Longlegs ist sie wahrlich keine Unbe­kannte.

Wie gesagt, irgend­woher kennt man das alles, selbst wenn man mit Perkins' Geschichte zum ersten Mal konfron­tiert ist. Die Einflüsse aus Das Schweigen der Lämmer und David Finchers Sieben fallen da natürlich recht schnell auf. Aber es sind eher andere Filme, die einem wieder in den Sinn kommen, während man sich Longlegs zu Gemüte führt. Es sind die unzäh­ligen Psycho­thriller, deren Titel und Handlung man inzwi­schen vergessen hat. Ein rätsel­hafter Mörder mit ausge­klü­geltem System trifft Ermittler mit dunkler Vergan­gen­heit, je nach Belieben wird etwas Okkul­tismus einge­streut – da klingelt was, wenn auch nur aus weiter Ferne. Man kann es nicht anders sagen, beim Schauen stellt sich schnell eine gewisse Ernüch­te­rung ein. »Ach, einer von diesen Filmen ist das.« Dabei macht Longlegs nicht alles verkehrt. Immer wieder verdichtet sich die Atmo­sphäre zu einer bedroh­lich-melan­cho­li­schen Nebelwand, in der Einfa­mi­li­en­häuser zu Ruinen werden. Das Böse scheint in jeden Schau­platz des Films einzu­si­ckern und ihm die Farbe zu rauben. Dazu bekommt der Horror gerade in den Rück­blenden oft einen surrealen Anstrich, der die bekannten Muster der Handlung in den Hinter­grund treten lässt.

Trotzdem will Oz Perkins' Werk einen nicht so richtig aus dem Kino­sessel reißen. Das liegt nicht nur am Allzu­be­kannten, sondern auch daran, dass trotz der gelun­genen Grund­stim­mung die Span­nungs­schraube über weite Strecken bedeutend zu wenig angezogen wird. Zudem schafft es Maika Monroe nicht, dem Publikum ihre Figur näher­zu­bringen. Natürlich, die Unnah­bar­keit der Agentin ist Ausdruck eines tief­sit­zenden Dunkels, das sie für diesen Fall prädes­ti­niert. Trotzdem ist einem als Zuschauer Lee Harker meist eher egal. Was man disku­tieren kann, ist, ob das Monroes Leistung oder dem Drehbuch geschuldet ist.

Und dann gibt es da ja noch das geheime Zugpferd von Longlegs: Nicolas Cage als titel­ge­bender Seri­en­killer. Der ist genauso, wie man ihn sich vorstellt, wieder typisch over the top. Nun, das passt zu Cage, aber passt es auch in diesen Film? Irgendwie ja, irgendwie nein. Auch wenn er mit seiner Perfor­mance (und seiner Maskerade) wie ein Fremd­körper im sonst sehr ernsten Film wirkt, dieser Moment der Irri­ta­tion hat doch seinen Reiz. Ähnlich verhält es sich mit der Auflösung des Falls, die gleich­zeitig ziemlich raffi­niert und total weit hergeholt wirkt. Wenn man das alles verschmerzen kann, ist Longlegs auch kein schlechter Film. Er macht einige Sachen richtig, tut aber auch nicht genug, um über die Grenzen seines Genres hinaus etwas Beson­deres zu sein. Für den, der kein Vollzeit-Experte im Horror-Thriller-Fach ist, wird er sich wahr­schein­lich zu den zahl­rei­chen Genre-Kollegen gesellen, die man bereits halb vergessen hat.

Der wahre Horror wohnt daheim

Osgood Perkins mausert sich mit »Longlegs« zum Meister des Unbehagens

»This is a cruel world«, sagt Lees Mutter. »Espe­ci­ally for the little things.« Eine grausame Welt sei es, vor allem für die Kleinen. Lee solle froh sein, überhaupt das Erwach­se­nen­alter erreicht zu haben. Das sei nicht allen vergönnt.

Lee hat mehr als nur eine Ahnung von jener Welt­grau­sam­keit, von der ihre Mutter spricht. Die junge FBI-Agentin ist, zu Beginn der Clinton-Ära, auf der Spur eines Seri­en­mör­ders, der ganze Familien auslöscht. Das Muster: Alle diese Familien haben eine kleine Tochter, die am 14. eines Monats Geburtstag hat. Die Massaker ereignen sich um diesen Tag herum. Es tauchen Beken­ner­schreiben auf, codiert in einer Chiffre ähnlich der des Zodiac-Killers. Signiert mit »Longlegs«. Und: Der Mörder war nicht vor Ort. Sondern hat die Eltern durch satanisch-hypno­ti­schen Einfluss dazu gebracht, die Taten zu begehen.

Die Figur der Lee ist freilich bewusst angelegt als eine Verwandte von Clarice Starling aus The Silence of the Lambs, Agent Scully aus The X Files. Doch wo Jodie Foster und Gillian Andersons Charak­tere sich taff durch­boxen gegen die Welt der Männer und Monster, wirkt Lee labil, fragil.

Egal, was das Lebens­alter sagt: Lee scheint nicht wirklich erwachsen. Mica Monroe gibt Lee, als würde die sich schämen, dass ihr Körper Raum bean­sprucht. Als würde ihr Blick stets mit dem Schlimmsten rechnen. (Und nicht zu unrecht...) Sie ist das verkör­perte Unwohl­sein – in keiner Umgebung heimisch. Ist im Grunde ein Kind, ausge­setzt im finsteren, bitter­kalten Wald.

Longlegs ist im Herzen kein Seri­en­mörder-Thriller, sondern ein dunkles Märchen. In dem es auch mit der surrealen Logik einer grund­ver­un­si­chernden, latent verscho­benen Welt folge­richtig wirkt, wenn plötzlich vom Teufel besessene Puppen ins Spiel kommen.

Denn das ist alles insgeheim viel näher an Osgood Perkins' Gretel & Hansel als an den ober­fläch­lich benenn­baren Genre-Verweis­filmen. Ist eine finstere Fantasie übers Verlas­sen­sein und die Familie.

Über nunmehr vier Langfilme hat Osgood Perkins sich zur sehr eigenen Stimme im Genrefilm gemausert. Noch hat er nicht hundert Prozent Kontrolle über sein Talent. Was seinen Werken aber auch etwas lebendig Über­schießendes gibt. Und allmäh­lich schält sich da eine Hand­schrift heraus, ein sehr indi­vi­du­eller Vibe, eine Weltsicht, die sich durch­zieht von The Blackcoat’s Daughter bis Longlegs.

Im Zentrum stehen junge Frauen, die sich in isolierter Umgebung ominösen Mächten ausge­setzt finden. (Rose, Kat & Joan in The Blackcoat’s Daughter, Lily und – zeit­ver­schoben – Iris in I Am The Pretty Thing That Lives In The House, Gretel, Lee...) Und deren Erfahrung stell­ver­tre­tend ist für eine exis­ten­ti­elle Verun­si­che­rung. Für das Ringen um einen Platz, einen Stand in einem angst­ein­flößenden Kosmos.

Wo so viel des aktuellen US-Horror­kinos sich erschöpft in Geis­ter­bahn­schre­cken und so gern von konser­va­tiver Wieder­her­stel­lung religiös-patri­ar­chaler Ordnung träumt, ist Osgood Perkins ein Meister des tiefen Unbe­ha­gens.

Longlegs ist voller subtiler, subku­taner, subli­mi­naler Vers­törungen. Es gibt konkret mehr oder minder unter­schwellig versteckte, grenz­wahr­nehm­bare Erschei­nungen einer Teufels­ge­stalt – einzel­bild­kurzes Aufblitzen, sekun­den­bruch­teil­lange Reflek­tionen, Präsenz im Bild­hin­ter­grund. Aber auch die Kadrie­rungen, Symme­trien, Leerräume der Kame­ra­ein­stel­lungen lassen die Menschen darin oft verloren oder einge­sperrt wirken. Die Rhythmen der Sprache, die Musik sind immer leicht gegen ein natür­li­ches Fließen gesetzt.

Und der Film hat sozusagen ein Wurzel­werk, das jenseits der offen­baren filmi­schen Quer­ver­weise in ein Erdreich der okkulten wie kultu­rellen Bezüge wuchert. Es ist keine bloße Hommage, dass der Film in den frühen ’90ern ange­sie­delt ist, mit Rück­blenden aus der Nixon-Ära: Das waren die Jahre, in denen in den USA – siehe The Exorcist, siehe »Satanic Panic« – besonders virulent die Angst davor herrschte, der Teufel hätte sich der Jugend bemäch­tigt.

Osgood, der Sohn von Anthony Perkins, ist eine Art Gegen­s­tück zu Ari Aster: Unter- statt über­schätzt. Weniger präten­tiös. Ohne die unfrei­wil­lige Albern­heit (aber auch mit deutlich weniger absicht­li­cher). Jedoch beide mit dem großen Thema: Der wahre Horror wohnt daheim. Die Familie, das Heim sind bei Aster wie Perkins keine Zuflucht, kein Hort der Sicher­heit.

An seiner Insze­nie­rung von Menschen kann Perkins noch feilen – die trifft nicht immer die perfekte Balance von bewusster Gespreizt­heit und bloß aufge­setzter Arti­fi­zia­lität. Aber kaum jemand im aktuellen Horror­kino hat ein besseres Auge, Gespür für Räume.

Perkins liebt trostlose, einsame Häuser. Inte­ri­eurs, deren glosendes Braun nicht warm, sondern schwärend und beklem­mend wirkt. Das Hexenhaus aus Gretel & Hansel ist nur eine archi­tek­to­nisch über­spitzte Variante der Suburbia- und Provinz-Eigen­heime in Longlegs. Die hier strotzen vor einem Grusel der Norma­lität.

Selbst Nicolas Cage in der Titel­rolle fügt sich stimmig in diese Welt, ohne den Film (wie sonst so oft) zu sprengen mit seinem bewusst anti-realis­ti­schen Schau­spiel­stil, seinem »Nouveau Shamanism«. Er ist zwar, von der Maske fast unkennt­lich gemacht, das exal­tier­teste Element. Doch man glaubt durchaus, dass es in diesem Film-Kosmos Bruch­stellen gibt, durch welche eine derartige Gestalt herein­krie­chen kann.

Oder auch: Leer- statt Bruch­stelle. Recht bald wird in dem Film klar, dass Lees eigene Kindheit eine Quer­ver­bin­dung aufweist zu dem Fall, auf den sie angesetzt ist. Wie in The Silence of the Lambs, wie in so vielen Horror­ge­schichten, erzwingt die Begegnung mit dem Monster auch in Longlegs für die Prot­ago­nistin eine Konfron­ta­tion mit einem eigenen, frühen Trauma.

Doch bei Perkins ist das kein bloßer Akt der Katharsis. Sondern ein Abstieg zum wahren Fundament des Grauens. Lee kehrt zurück ins Heim ihrer Kindheit, zu ihrer Mutter. In ein Haus, in dem offenbar alles gehortet wurde, nichts wegge­worfen. Und in dem dennoch keine Spur eines Vaters verblieben scheint.

Nur bei einem Asso­zia­ti­ons­test lässt Lee einmal »Father« hervor­schießen, beim Bild eines mit der Spitze nach unten zeigenden Dreiecks. Genau solche Dreiecke werden später als Symbol Satans etabliert. (Nebenbei: Die Szene mit dem Asso­zia­ti­ons­test verortet Perkins auch in Geis­tes­ver­wandt­schaft zu zwei anderen Söhnen berühmter Genre-Größen, die sich als Regis­seure mit eigener Signatur frei­ge­schwommen haben: Panos Cosmatos mit Beyond The Black Rainbow und Brandon Cronen­berg, insbe­son­dere mit dessen Kurz­filmen.)

Und nein, keine Sorge: Das ist kein Spoiler, dass Lee sich dann als die Tochter des Leib­haf­tigen entpuppt. Auf solch billigen Plot­wen­dungen basiert Longlegs nicht.

Aber eben: Nicht zum erstenmal ist da bei Perkins eine Ahnung, dass ein Versagen, eine Abwe­sen­heit von Eltern zum Einfallstor werden kann für das Böse.

Nicolas Cages Longlegs ist eine seltsam androgyne Gestalt. Ein Vater­mut­ter­mon­ster. Das nicht durch seine Irra­tio­na­lität, durch eine radikale Abnor­mität so erschre­ckend wirkt. Sondern durch die Versatz­stücke des Vertrauten.

Lee muss einen Moment des Erkennens durch­ma­chen. Muss begreifen, dass nicht die Fremdheit das Monströse ist, sondern die unver­mu­tete Nähe.

Auf enorm finstere, perver­tierte Weise entpuppt sich Longlegs letztlich als Film über Mutter­liebe. Und darüber, dass das Überleben in jener grausamen Welt nicht einfach nur ein Glücks­fall ist. Sondern seinen ebenso grausamen Preis hat.