Deutschland/Litauen/NL 2022 · 109 min. · FSK: ab 12 Regie: Sergei Loznitsa Drehbuch: Sergei Loznitsa Musik: Christiaan Verbeek Schnitt: Danielius Kokanauskis |
![]() |
|
Skelette der Städte, gottgleiche Perspektive | ||
(Foto: Progress) |
Rückblick. Kaum waren die mahnenden Worte des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyjs zur Eröffnung des 75. Festival de Cannes verhallt, schon flogen die Kampfjets über die Croisette. »Jeden Tag sterben Hunderte von Menschen. Sie werden nach dem Schlussapplaus nicht wieder aufstehen«, hatte Selenskyj gesagt und damit den Krieg in der Ukraine ins Bewusstsein der Festivalgäste gerückt. Einen Tag später feierte der 80er-Jahre-Film Top Gun seine Wiederauferstehung, wieder wurde eng mit der US-Navy und dem amerikanischen Verteidigungsministerium zusammengerabeitet. Ein PR-Gag der französischen Armee folgte, reale Kampfjets überzogen die Croisette mit der Trikolore. Schau her, schien Cannes an Putin adressiert zu sagen, wir können, was du selbst noch nicht einmal am »Tag des Sieges« kannst, und das sogar just for fun: Wir können militärische Stärke. Wir können Grande Nation!
Dass man aber mit Krieg nicht spielen soll, demonstrierte ein paar Tage später eindrucksvoll Sergej Loznitsa mit seinem Film The Natural History of Destruction – deutsch übertitelt mit Luftkrieg – der jetzt, gut ein Jahr nach dem Beginn des Ukraine-Krieges, in die deutschen Kinos kommt.
Die Aufmerksamkeit der Filmwelt ist seit Kriegsbeginn auf den ukrainischen Regisseur gerichtet. Neben Luftkrieg hat er 2022 auch The Kiev Trial auf Festivals gezeigt, außerdem Babi Yar. Context und Mr. Landsbergis, die er schon 2021 fertiggestellt hatte. Kaum ein Festival kam letztes Jahr ohne einen Film von Loznitsa aus. In dem jüngsten Prozessfilm The Kiev Trial geht es um die Gräueltaten der deutschen Besatzer in der Ukraine in den Jahren 1942/43. Das ist nicht unwichtig zu wissen, während man Luftkrieg sieht, der die Kriegsverbrechen der Deutschen insgesamt in die Ellipse einer großen Auslassung wirft.
Kurz nach Kriegsbeginn war Loznitsa aus der Europäischen Filmakademie ausgetreten, weil diese den Ukraine-Krieg nicht als solchen benannt und sich lediglich »schwer besorgt« über die russische Invasion gezeigt hatte. Kurz darauf hat die Ukrainische Filmakademie wiederum Loznitsa ausgeschlossen, weil dieser sich als »Kosmopolit« bezeichnet hat und sich nicht zur »nationalen Identität« bekennen wollte. Dazu ist zu wissen, dass Loznitsa seit Beginn des Jahrtausends in Berlin lebt und sich eher aus der Ferne, wenn auch intensiv, mit den Vorgängen in der Ukraine befasst. Oftmals beobachtend-dokumentarisch, wie in Maidan, bisweilen auch sehr inszeniert, wie in Donbass, wo die sehr realen Krieger in ihren Fantasie-Uniformen nicht von dieser Welt zu sein scheinen. Loznitsa ist ein Dokumentarfilm-Künstler, der seiner Interpretation gegenüber dem vermeintlich dokumentarischen Wahrheitspostulat den Vortritt lässt. Das kommt nicht immer und vor allem nicht bei allen gut an.
Jetzt also ist es Zeit für Luftkrieg, einen gänzlich aus Archivmaterial montierten Film, das Loznitsa nachvertont hat – ein Verfahren, das er bereits 2005 für Blockade angewendet hat (und ihm damals viel Kritik einbrachte).
Seinen Film hat Loznitsa im Original nach einem Essay von W.G. Sebald benannt: »The Natural History of Destruction«. In seinem Text reflektiert der deutsche Schriftsteller die Auseinandersetzung mit dem Luftkrieg der Allierten. Zentral ist für ihn die Frage, weshalb dieser in der deutschen Literatur nicht thematisch oder künstlerisch aufgegriffen wurde. Loznitsas Film ist gewissermaßen eine die Schallmauer des Schweigens durchbrechende, brachiale Antwort in der Kunst.
Luftkrieg skizziert die Chronologie einer Vernichtung. Der Film beginnt am Vorabend des 2. Weltkriegs in Berlin. Man trifft sich zum Tanzkaffee im Café Kranzler, es ist die auslaufende Weimarer Republik, bald schon sind erste Hakenkreuzfahnen zu entdecken. Die Metropole pulsiert, die Straßenbahnen evozieren das Berlin von Alfred Döblin und Erich Kästner, im Münchener Rathaus dreht sich wie heute das Glockenspiel, auf dem Land marschieren bislang nur Gänse, Schafe und Pferde. Der Zeppelin »Hindenburg« macht Luftaufnahmen der unzerstörten Städte, und ganz Deutschland wirkt wie ein Märchenland, wie der Schauplatz von »Zwerg Nase« oder »Hans im Glück«.
Dann kommt die Aufrüstung, es geht rasant in den Krieg hinein, die Assembly Lines der Kriegsmaschinerie werden in der beschleunigenden, rhythmisierten Art der Avantgardisten montiert. Dann folgt auch schon der Luftkrieg der Alliierten, der sich ganz auf die Zerstörung des vom Film etablierten deutschen Idylls konzentriert. Die Kriegsverbrechen der Nazis sind Loznitsa dabei kein einziges Montagebild wert. Loznitsas Luftkrieg ist monothematisch, und will die Ambivalenz beim Sehen provozieren: Ohne Not gleiten die Aufnahmen vom Leben unschuldiger deutscher Zivilisten in den gewaltvollen Krieg der Alliierten und die erbarmungslose Vernichtung der deutschen Städte hinüber. Das hinterlässt heftige Wirkung. Ein Schwarm von Bomben wird bei einem einzigen Flug über die deutschen Städte abgeworfen, akribisch dokumentieren sie die Einschläge, die brennenden Städte, die Vernichtung. Die aufheulenden Motoren der Kampfflugzeuge türmen sich zu einer Symphonie des Grauens.
Dann kommt die Flucht aus den Städten, die vollbeladenen Handkarren, der Hunger. Der Krieg – und der Film – kommen zum Ende. Die letzten Bilder gehören den Trümmerfrauen, die mit dem großen Aufräumen beginnen.
Dieses übergangslose Hintereinander von Frieden und Krieg ohne den Aggressor und den Vernichtungswillen der Nazis zu zeigen, ist mehr als ein filmischer Kollateralschaden. Mit der entscheidenden Ellipse werden auch die Alliiertenkämpfe als Akte der Aggression und Vernichtung wahrgenommen. Einerseits. Andererseits stammt das Material unter anderem aus den Militärarchiven, wurde zur Unterweisung, auch der moralischen, der Soldaten eingesetzt und muss auch als Propaganda-Material der Nazi-Gegner ins Bewusstsein gehoben werden. Daher auch die Faszination für die Bombenabwürfe, die steil auffliegenden Bomber, die Vernichtung der Städte unter dem Bombenhagel, für die Zahnräder der Kriegsmaschinerie. Ähnlich feierten das schon die Futuristen um Marinetti in ihrem Manifest von 1909:
»Schönheit gibt es nur noch im Kampf. Ein Werk ohne aggressiven Charakter kann kein Meisterwerk sein. Die Dichtung muß aufgefasst werden als ein heftiger Angriff auf die unbekannten Kräfte, um sie zu zwingen, sich vor den Menschen zu beugen. (…) Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt (…).«
Ein ungutes Gefühl der Verstörung stellt sich ein, eine Abwehrhaltung, die sich auch gegen den Film richtet. Am Ende, auch weil man sich Kriegsverherrlichung in diesen Tagen kaum vorstellen kann, und auch nicht zum Werk von Loznitsa passt, bleibt dann aber doch: die Abschreckung vor der Gewalt des Krieges. Aber muss das mit diesen Mitteln sein? Aber auch das passt in das Werk von Loznitsa, der in vielen seiner Filme mit Ambivalenzen und Suggestionen spielt.
Es macht was mit einem, wenn man über eine Stunde lang auf Flugzeuge und Bomben blickt, auf brennende Häuser und fliehende Menschen. Das ist kaum auszuhalten, und doch virtuos in seiner Montage und grandios im zusammengetragenen Material. Der Film erfüllt seinen provozierenden Originaltitel, hier scheint Zerstörung auf Zerstörung zu folgen, als wäre das ein Naturgesetz. Mitten in der »Naturgeschichte der Zerstörung« des Krieges erkennt man: Manchmal ist das verstörende Gefühl einfach nur richtig. Kunst soll einen nicht gleichgültig lassen. Kunst soll aufrütteln, muss keine eindeutigen Botschaften transportieren, darf Ambivalenzen zulassen. Das regt übrigens zum Nachdenken an. Loznitsa hat wieder mal ein Werk geschaffen, das all dies erfüllt – und seinem Ruf als unangepasstem Filmemacher alle Ehre tut.
Manchmal ist die Leinwand ganz schwarz. Dann zucken Blitze durch die Nacht. Sie malen abstrakte Symbole in den Himmel. Dazu regnen Sternschnuppen auf die Erde nieder. Kometen sausen übers Firmament, prasseln gegeneinander. Da hinten implodiert ein Stern. Dort drüben birst ein Mond. Plötzlich scheinen tausend Sonnen zugleich, für einen langen Augenblick illuminieren sie das Dunkel taghell und werfen gleißend-weiße Schatten auf die stumme Welt da unten. Etwas aus den Lüften löst sich und stürzt wie ein gefallener Engel still in die Nacht hinein, bevor er kurz ein Lichtgestöber entfacht, aufschlagend auf den wattegleichen Boden.
Von weit oben her richtet sich die Perspektive, selbst schwerelos in Bewegung, als ob eine fließend-fliegende Kamera auf eine Umlaufbahn geschleudert würde. Als blicke ein Gott von der Seite auf das Spektakel, halb wohlgefällig, halb entsetzt.
+ + +
Die Ästhetik der Zerstörung.
Denn unten sterben Menschen. Und eigentlich ist es kein Naturschauspiel und kein prachtvolles Feuerwerk, das sich da am Himmel entzündet und dessen Farbenspiel noch im Schwarz-Weiß der Bilder zu ahnen ist.
Es ist ein Luftkampf, es sind fliegende Bomber mit ihren »Christbäumen«, um bei Nacht besser zu sehen, was sie gleich vernichten werden, es ist Leuchtspurmunition, die zwischen ihnen und manchmal auch durch sie hindurchsaust, die da um die Wette leuchten.
Endlose Minuten lang sind einige der Sequenzen, die einfach nur hinsehen und etwas zeigen, was schwer zu verstehen ist und in seiner Abstraktion der gottgleichen Totalperspektive einem Bild moderner Malerei ähnelt, oder auch einem frühen Experimentalfilm.
Es ist alles aber überaus wirklich, was wir hier sehen.
+ + +
Ein abgründiger, ebenso faszinierender, wie gelegentlich schockierender Film: Der in der Sowjetunion geborene Sergei Loznitsa, der bekanntlich auch seltsam burleske Spielfilme macht, aber eigentlich seit jeher ein Dokumentarfilmer ist, dessen Filme vom nüchtern realistischen Ansatz der Leningrader Dokumentarfilmschule geprägt sind, fügt hier seinem umfangreichen Werk etwas ganz Eigenwilliges, Neues hinzu. Loznitsas sogenannte Dokumentarfilme sind eigentlich eher dokumentarische Essays, die ganz auf der Montage historischen Archiv-Filmmaterials beruhen, das vom Regisseur dann diskret vertont wird.
+ + +
»Die Naturgeschichte der Zerstörung« ist eigentlich der Titel eines Sachbuchs des zu früh verstorbenen, singulären Literaten W.G. Sebald, in dem dieser seine Überlegungen zum Zusammenhang von Luftkrieg und Literatur entfaltet.
Die bittere ethische Frage, die das Herz des Films bildet, lautet: Ist es moralisch vertretbar, die Kriegsführung auf die Zivilgesellschaft auszuweiten, um ein Schurkenregime zu besiegen? Man kann sie bejahen wie verneinen; es gibt für beides gute Gründe. Im Krieg gegen das mörderische Nazi-Deutschland wurde diese Frage ganz praktisch, zugleich aber auch schon damals unter Briten und US-Amerikanern kontrovers diskutiert.
Loznitsas Film erweitert diese Frage durch ein Experiment auf den Bereich des Kinos: Aus deutschem und britischem Filmmaterial zusammengestellt, konfrontiert der Filmemacher sein Publikum unkommentiert und ohne jede politische Positionierung mit einem Kreislauf aus Krieg und Tod.
Statt zwischen den politischen Seiten zu unterscheiden, konfrontiert der Film zwei andere Kategorien: Das technokratische und propagandistische Bild des Kriegshandwerks, das aus Prozeduren, Abläufen, Ritualen und deren Darstellungscodes besteht.
Dazu tritt dann das Bild nackter Menschlichkeit: Wenn Frauen in den Trümmern ihres Lebens stehend in die Kamera blicken. Oder wenn Flüchtlinge ohne Schuhe ihre wenigen Habseligkeiten tragen. Oder wenn Passanten auf die Leichen blicken, die auf den Straßen liegen, während andere achtlos vorbeigehen.
Das ist politisch wie moralisch gefährlich. Denn man erlebt hier auch visuell eine große Gleichmacherei. Will er sagen: Opfer und Täter sind gleich? Oder: Zivilisten sind immer Opfer.
Jedenfalls will er nicht sagen, wovon viele nach dem Krieg überzeugt waren: sowas kommt von sowas.
Ich bin nicht sicher, was Loznitsa hier wirklich sagen möchte. Sebalds auch schon umstrittene Thesen, die einem leichtfertigen deutschen Opferdiskurs zuarbeiteten, waren ungleich subtiler, sie formulierten Fragen, die in diesem Film im Vagen bleiben. Es ist nicht alles gleich im Krieg.
Die Position, alle gleichermaßen zu Opfern zu erklären und »Bomber« Harris mit Goebbels zu parallelisieren, ist zu simplifizierend.
+ + +
Das visuelle Ergebnis jenseits dieser Fragen ist aber eine besondere, filmisch großartige Form der europäischen Erinnerungsarbeit. In einer virtuosen Montage alten Originalmaterials rekonstruiert Loznitsa den Bombenkrieg des Zweiten Weltkriegs. Ohne platte Schuldzuweisungen, aber eindeutig in seiner Haltung des moralischen Abscheus.
So gelingt Loznitsa eine düstere Parabel, die zwar nicht direkt auf unsere aktuellen Kriege zielt, sie aber jede Sekunde mitdenken lässt.
»Mit Bomben wurde noch nie ein Krieg gewonnen«, heißt es an einer Stelle dieses Montagefilms. Das können wir uns auch für die Gegenwart und die Zukunft merken.
Heute lebt der Filmemacher in Berlin. Er hat einen ukrainischen Pass, ist aber dort seit einem Jahr in Ungnade gefallen, weil er sich weigert, sich den Aufrufen zum Boykott des russischen Kinos anzuschließen, Dostojewski und anderes russisches Kulturgut zu canceln und seine russischen Dissidentenfreunde zu verleugnen. Die Zerstörung hat eben auch eine Kulturgeschichte.