May December

USA 2023 · 118 min. · FSK: ab 12
Regie: Todd Haynes
Drehbuch: ,
Kamera: Christopher Blauvelt
Darsteller: Natalie Portman, Julianne Moore, Cory Michael Smith, Charles Melton, Gabriel Chung u.a.
Filmszene »May December«
Wahrheit, zu groß und zu schwer, um sie zu ertragen...
(Foto: Wild Bunch)

Echolot in Untiefen

Todd Haynes erkundet mit überragenden Darstellern die Untiefen von Schein und Sein, Liebe und Kontrolle, Wahrheit und Lüge in einer dysfunktionalen Beziehungswelt

Im Angesicht einer fast schon infla­ti­onären Wieder­auf­nahme des alten Harold und Maude-Themas aus dem Jahr 1971, Filmen wie Meine Stunden mit Leo, Im Herzen jung, Wild wie das Meer oder Im letzten Sommer, in denen jüngere Männer Bezie­hungen mit sehr viel älteren Frauen erleben durften, scheint Todd Haynes im ersten Moment nur ein weiterer Besucher dieses Topos zu sein, der im Kern natürlich auch die Selbst­er­mäch­ti­gung der Frau in unserer west­li­chen Gesell­schaft spiegelt und glei­cher­maßen die Bedürf­nisse eines immer älter werdenden Kino­pu­bli­kums bedient.

Doch Haynes macht gleich von Anfang an deutlich, dass es ihm nur im Ansatz um den von der Realität inspi­rierten Teil einer wahren Geschichte geht, der Geschichte der 2020 verstor­benen Lehrerin Mary Kay LeTour­neau, die 1996 im Alter von 36 Jahren mit ihrem damals 12-jährigen Schüler Vili Fualaau ein Verhältnis begann, dafür ins Gefängnis kam, um nach ihrer Haftzeit jedoch wieder mit Vili zusam­men­zu­leben und zwei Töchter mit ihm zu bekommen. Denn Haynes erzählt nicht den Skandal, sondern erzählt, wie Hollywood Skandale dieser Art verein­nahmt. Es ist eine Selbst­re­fle­xion, und nur ihr erster Teil.

Dafür lässt Haynes die junge Schau­spie­lerin Elizabeth Berry (Natalie Portman) an Gracies alias Mary Kay LeTour­neaus (Julianne Moore) Tür erscheinen, um mit ihr ein paar Tage Alltag im fami­liären Umfeld zu verbringen. Es soll eine Art Feld­for­schungs­auf­ent­halt sein, um mit Gracie ihre Rolle als Gracie zu erar­beiten, die sie in einem Film über die ungleiche Beziehung spielen soll. Also ein Bestand­teil klas­si­schen Method Actings, das ja grund­sätz­lich vorsieht, dass der Schau­spieler am Ende empa­thisch mit seiner Rolle verschmilzt.

Diese Film-im-Film-Reflexion, die subtil gängige Holly­wood­me­cha­nismen konter­ka­riert, besticht vor allem durch die träge Alltäg­lich­keit in dem kleinen Ort Savannah in Georgia. Eine fast schon einlul­lende Alltäg­lich­keit, die erst nach und nach ihre Spitzen offenbart, als Elizabeth durch Inter­views mit Gracies Ex-Mann, ihrem jetzigen Mann und ehema­ligen Schüler und vor allem Gracie selbst erkennt, dass nicht alles glänzt, was Gold ist. Vor allem aber auch, dass nicht alles stinkt, was faul ist.

In den dichten Momenten der Annähe­rung der beiden Frauen, eine Annähe­rung, die zunehmend zum Kampf über die Wahrheit von Vergan­gen­heit und Gegenwart wird, deutet Haynes dann aber auch an, dass er sich nicht nur im Kontext ameri­ka­ni­scher Film- und Lebens­wirk­lich­keit befindet, sondern in Anleihen an Ingmar Bergmans Iden­ti­täts­drama Persona (1966) mit Bibi Andersson und Liv Ullmann, es auch um Heilung von Iden­ti­täten geht und um das, was jenseits der gängigen Wirk­lich­keit als Wahrheit definiert werden könnte.

Wie bei Bergman – aller­dings in vertau­schen Rollen – scheint auch bei Haynes eine »Rollenü­ber­nahme«, eine Über­as­si­mi­lie­rung statt­zu­finden, vor allem in dem Moment, als sich Elizabeth und Gracie gemeinsam vor dem Spiegel zu einer fast perfekten Symbiose schminken und Elizabeth im Folgenden den intimsten Spuren ihres »Vorbilds« nachgeht.

Doch anders als Bergman erweitert Haynes sein Kammer­spiel merklich, geht es hier dann auch um das, was Liebe ist und wo letzt­end­lich die schmale Grenze zwischen Lieben und Miss­brauch ange­sie­delt ist. Und auch bleibt Haynes nicht nur bei der im Zentrum stehenden Binnen­be­zie­hung zwischen älterer Frau und jungem Mann, sondern begibt sich auch in die schwie­rigen Fahr­wasser von fami­liärem Miss­brauch, den Gracie durch ihre Brüder als junges Mädchen erfahren haben könnte, liefert Haynes also eine mögliche Erklärung für Gracies Verhal­tens­weisen. Doch Haynes ist zu klug, um dieses »Stamm­tisch­motiv« allein gelten zu lassen, zieht er auch hier die Möglich­keit einer Wahrheit so schnell wieder zurück, kaum dass sie ausge­spro­chen ist. Selbst das Thema der »Naivität« wird divers durch­de­kli­niert und von Moore so gnadenlos ambi­va­lent ausge­spielt, dass einem Hören und Sehen vergeht. Und zum Glück vergisst Haynes auch nicht das prüde, puri­ta­ni­sche Amerika, das durch dezente Pinsel­striche ebenso Eingang in Haynes’ Film findet: die auch nach so vielen Jahren gelebter »Ungleich­heit« eintref­fenden Pakete mit Fäkalien und die gleich­zeitig die Beziehung von Gracie und ihrem jungen Mann Joe (Charles Melton) stabi­li­sie­renden Torten­be­stel­lungen, die Gracie helfen, einen normal struk­tu­rierten Alltag zu leben. Doch so wie hier nichts eindeutig ist, ist es auch in den intra­fa­mi­liären Bezie­hungen, die Beziehung der unglei­chen Eltern mit ihren Kindern, die dispa­rater nicht sein könnten und viel­leicht die span­nendste Neben­hand­lung dieses unge­wöhn­lich leisen und zugleich eindring­li­chen Films sind.

Letzt­end­lich bleibt trotz aller subtiler Stör­geräu­sche, die Haynes seinem hyper­sen­si­blen Echolot aussetzt, das im Laufe der Zeit durch immer dunklere Untiefen mensch­li­cher Neurosen hindurch­na­vi­giert, dann aber doch so etwas wie ein trös­tender Moment übrig, erkennen alle Betei­ligten doch, dass die Wahrheit zu groß und schwer und vor allem ein viel zu unsi­cheres und poröses Terrain ist, um auf ihr allein zu bestehen, und es dann doch viel­leicht besser ist, sie ruhen zu lassen und sich um das zu kümmern, was sie am besten können: Ihren Alltag zu meistern und die Rolle zu spielen, die von ihnen erwartet wird.

Die Schauspielerin wird zur Detektivin

Verbotene Liebe: »May, December« zeigt die ganze Kunst und den Facettenreichtum des Filmemachers Todd Haynes

»Insecure people are very dangerous, aren’t they? I’m secure. Make sure you put that in there.«
Gracie in May December

Der Filmtitel May December bezieht sich auf einen ameri­ka­ni­schen Slang­aus­druck für (mögli­cher­weise sozial geächtete) Liebes­be­zie­hungen zwischen Menschen mit großen Alters­un­ter­schieden. Das gibt das Thema wie die Haltung des Regis­seurs vor.

+ + +

In einer Szene aus May December wird die Schau­spie­lerin Elizabeth Berry (eine groß­ar­tige Natalie Portman in ihrer besten Rolle seit Jahren) von ein paar ziemlich frechen jungen Thea­ter­stu­denten inter­viewt. Einer von ihnen versucht, sie mit der Frage zu verblüffen, wie es ist, Sexszenen zu drehen. Sie verblüfft ihn und erklärt ihm, dass es nicht immer nur um die Technik geht. Manchmal stimmt die Chemie und sie lässt sich hinreißen. Mit anderen Worten, nicht alles ist reine Darstel­lung, wenn es darum geht, die »Wahrheit« der Szene zu erreichen.

Diesen Ansatz verfolgt die berühmte Holly­wood­schau­spie­lerin Elizabeth auch bei der Vorbe­rei­tung ihres neuesten Films: Sie soll Gracie (Julianne Moore) spielen, eine Frau, die im Alter von 36 Jahren beim Sex mit einem 13-jährigen Jungen erwischt wurde, verhaftet wurde, im Gefängnis ein Kind von diesem Jungen bekam und bis heute mit ihm zusam­men­lebt. Echte Liebe oder toxische Abhän­gig­keit?
Wer will das entscheiden?

+ + +

Todd Haynes jeden­falls nicht. Er schildert den Fall ohne jede mora­li­sche Aufregung, aber mit einem spitzen Sinn für die Ironien des Stoffs, die Aktua­lität durch die Bezüge zu all den gegen­wär­tigen Empfind­lich­keits­de­batten west­li­cher Wohl­stands­ge­sell­schaften und ihrer Lust am korrekten Verhalten. Und Haynes inter­es­siert sich für die Lebens­lügen und die Ambi­gui­täten, die allen Haupt­fi­guren in diesem Drama eigen sind, insbe­son­dere der Schau­spie­lerin Elisabeth.
Wegge­lassen wird hier aller Pädo­philie-Beige­schmack, die Liebes­ge­schichte zwischen der älteren Frau und dem Drei­zehn­jäh­rigen wird in jeder Hinsicht ernst genommen.

Zunächst schildert Haynes die Außen­seite aus Sensa­ti­ons­lust und Hexenjagd, die auch ein Vier­tel­jahr­hun­dert später noch nicht vorüber ist, sondern zu täglichen Hass­bot­schaften gegen das unor­tho­doxe Paar führt.
Elizabeth wird Zeugin davon, als sie in Gracies Suburbia-Heim auftaucht, um dort ein paar Wochen mit ihr und ihrem Mann Joe (Charles Melton) zu verbringen, um beider Persön­lich­keit für ihre spätere Rolle besser zu verstehen. Sie beginnt bald, sich intensiv mit dem möglichen Selbst­be­trug ausein­an­der­zu­setzen, der die Beziehung des Paares immer noch zu bestimmen scheint.

Die Schau­spie­lerin wird zur Detek­tivin, und zum Go-Between zwischen Handlung und Publikum.

Bosheit und Ironie Haynes' liegt vor allem in seinem Blick auf die beiden Frauen: Julianne Moore spielt Gracie mit einem Lächeln aus Stahl. Portmans Figur zeigt ihre nicht weniger harte, zudem unver­hohlen feti­schis­ti­sche Seite erst im Verlauf des Films, in dem die Bezie­hungen zunehmend von Miss­trauen und Konkur­renz bestimmt sind und in einen Zicken­krieg und amouröse Konkur­renzen münden.

Portmans Figur ist vor allem auch insofern eine para­dig­ma­ti­sche Künst­ler­figur, indem sie zeigt, dass Kunst überhaupt nicht ohne kultu­relle Aneignung und ohne verbotene Über­griffe und Ermäch­ti­gungen denkbar und möglich ist. Wer May December in seinen Konse­quenzen zuende denkt, wird mit kühl-nüch­ternen, für manche bitteren Einsichten konfron­tiert.

+ + +

1971 waren die Zeiten andere, als sie – leider! – heute sind. Da konnten in einer bemer­kens­werten post-68'-Parallele zum einen ein Joseph Losey in The Go-Between die Liebe eines 13-Jährigen zur briti­schen Ober­klasse schildern und ihre Kompen­sa­tion in der Liebe zur erwach­senen Tochter des Hauses – die dies im Übrigen, wie es der Ober­klassen Art ist, schamlos ausnutzt. Da konnte zum anderen auch Robert Mulligan in Summer of 42 von der Liebe einer attrak­tiven Krie­ger­witwe zu einem 13-Jährigen erzählen, in Form zweier trauriger Menschen, die einander gegen­seitig stützen. Zwei atem­be­rau­bende Filme, die heute eher für Schnapp­at­mung sorgen und mindes­tens als »proble­ma­tisch« geframed werden.

+ + +

Todd Haynes wie gesagt, greift das Sujet auf, um es anders, aber nicht weniger empa­thisch, aller­dings ungleich abgrün­diger zu erzählen. Er wendet sich hier erneut seinen Lieb­lings­themen und -terri­to­rien zu: Der mora­li­sche Bankrott des 'american dream': der Figur der ameri­ka­ni­schen Hausfrau, ihren Lebens­vor­stel­lungen und den Wider­sprüchen, auf denen sie ihre Existenz aufbaut; der Annährung zwischen Unglei­chen; der verbo­tenen Liebe; der Macht der TV-Soaps; also seinen eigenen Werken Far from Heaven, Carol, Mildred Pierce.
Doch in diesem Fall tut er es auf eine relativ indirekte Weise und mit einer Struktur, auf die Ingmar Bergmans Persona unüber­seh­bare Schatten geworfen hat. Dieser Verweis ist auch offen­kundig: Der Name von Liv Ullmans Figur in Persona lautete Elizabeth, und es gibt eine Szene, in der sich Elizabeth und Gracie gemeinsam schminken – bis beide fast identisch aussehen.

+ + +

Kollegen haben das Verhältnis zwischen Elizabeth und Gracie treffend als ein vampi­ri­sches beschrieben: Tatsäch­lich absor­biert die Schau­spie­lerin nach und nach die Persön­lich­keit der Frau, die sie darstellen soll.

Doch Todd Haynes' Werk ist raffi­nierter und geht schon deswegen weit darüber hinaus, weil Haynes' eigene Methode ebenfalls einem künst­le­ri­schen Vampi­rismus nahe kommt: Wie schon Far from Heaven die Sirk-Melos verkos­tete und neuin­ter­pre­tierte. Haynes tut das wohl­ver­standen ohne Arroganz und Herab­las­sung, vielmehr voller Liebe zum Trash und zum Billigen, eher um einen geliebten (Kino-)Körper zu sezieren.
Sein neuer Film ist enorm stark und facet­ten­reich und weitaus stili­sierter und feiner, als es auf den ersten Blick wirken mag. May December hat viele kleine kostbare Momente.

Dies ist ein erhabenes Meis­ter­werk der Spannung und des Unbe­ha­gens. Es faszi­niert vor allem dadurch, dass es mehrere sich über­schnei­dende Lesarten zulässt: Der Film kann erstens als Anpran­ge­rung der passiv-aggres­siven Bürger­lich­keit der Wohl­stands­länder, zweitens als Satire auf zeit­genös­si­sche Patch-Work-Familien verstanden werden; drittens als Analyse des Einflusses der Massen­me­dien auf die Konstruk­tion und Repro­duk­tion sozialer Vorur­teile, die der Film offen mit unserer Gegen­warts­ge­sell­schaft kurz­schließt, die von morbiden Ereig­nissen und Lesarten von Ereig­nissen faszi­niert ist; viertens als Kritik unserer Verach­tung für alles Unkon­ven­tio­nelle; fünftens als Porträt des künst­le­ri­schen Schaffens und seiner Kolla­te­ral­schäden; sechstens als tragi­ko­mi­sche Studie über Heuchelei, Maso­chismus, Naivität, Narzissmus und Feti­schismus.

Der musi­ka­li­sche Score basiert übrigens auf Michel Legrands Musik für Loseys The Go-Between – ein letztes ironi­sches Augen­zwin­kern eines Regis­seurs, dem Ästhetik und Stil­be­wusst­sein wichtiger sind als Moral.

Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Who are we to judge?