Österreich 2016 · 109 min. · FSK: ab 12 Regie: Mirjam Unger Drehbuchvorlage: Christine Nöstlinger Drehbuch: Mirjam Unger, Sandra Bohle Kamera: Eva Testor Darsteller: Zita Gaier, Ursula Strauss, Gerald Votava, Paula Brunner, Heinz Marecek u.a. |
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Weniger ein Kinderfilm, als endlich einmal ein Film für die ganze Familie |
»Schau Dir alles nochmal ganz genau an.« Das sind die ersten Worte von Maikäfer, flieg!. Das Wissen um die Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit alles Gegenwärtigen ist diesem Film von Anfang an schon eingeschrieben. Die Heldin, ein junges Mädchen namens Christl, das für ihre neun Jahre schon erstaunlich desillusioniert auf die Welt der Erwachsenen blickt, denkt viel nach und betrachtet alle Gegenwart als zukünftige Vergangenheit.
Das ist auch kein Wunder, denn diese Gegenwart ist mächtig in Bewegung – von einer Sekunde auf die andere kann alles ganz anders werden.
Es ist Mai; Mai 1945. »Es ist Krieg, es ist schon lange Krieg,« erzählt Christl aus dem Off, »ich kann mich überhaupt nicht mehr daran erinnern, was einmal kein Krieg war.«
Die Familie lebt in Wien, das »tausendjährige Reich« geht gerade in viel Schutt und Asche unter, und die Mutter ist mit ihren zwei Kindern ausgebombt, ohne Geld und ausreichend Essen, nur mit ein paar Habseligkeiten ins Umland der Großstadt geflohen. Dort gehen sie in eine leerstehende noble Villa, wo es sogar
etwas zu Essen gibt, und sie bald gemeinsam mit anderen Flüchtlingen eine prekäre, keineswegs konflikt- und problemfreie Notgemeinschaft bilden.
Dann kommen die Russen.
Die Frauen haben Angst, unbegründet, wie sich herausstellt, das kleine Mädchen nicht. So hellwach ihr Blick, so unvoreingenommen ist ihre Haltung, so eigensinnig ihr Charakter: »Lange hab ich auf die Russen gehofft. Weil sich endlich was ändern soll.« Und es ändert sich etwas... Die Wochen in diesem fremden großen Haus gemeinsam mit den Russen werden für die Kinder zu einem wunderbaren Ausnahmezustand. Nie wieder Ordnung!
Maikäfer, flieg!, Mirjam Ungers überaus liebevolle Adaption des gleichnamigen Kinderbuchklassikers von Christine Nöstlinger, blickt mit Kinderaugen auf das Kriegsende und die unmittelbare Nachkriegszeit. Dieser Ansatz des Romans wird durch die Bilder der Kamerafrau Eva Testor eher noch verstärkt.
Es geht in dem Film primär um die alltäglichen Sensationen, die sinnlichen Gewissheiten der Kindheit, es geht um die großen einmaligen Freiheiten dieses langen Frühlings der Anarchie, in dem die Erwachsenen ziemlich oft einfach weg waren, und wenn sie dann waren, dann hatten sie wenig zu sagen, es geht um das schnelle frühe Erwachsenwerden eines jungen Menschen, um die Entdeckung der Widerborstigkeit und der Neugier und um die Wonnen der Rebellion.
Es geht schließlich um
Freundschaft: Die zu den anderen Kindern, die der Zufall in Christls Nähe verschlagen hart, und die Freundschaft zu den Russen, den bösen Russen, bei denen Freundschaft etwas taktisches, unberechenbares und gefährliches ist, mit denen man aber Geschäfte mache kann und mit denen man befreundet ist, weil alles dann leichter geht, und weniger gefährlich ist. Und um die Freundschaft mit den guten Russen, denen, die einen vor den bösen beschützen, die einem Kochen beibringen, Wodka
trinken und Essen besorgen.
Schließlich ist dies auch eine Hommage an Christls Mutter: Ursula Strauss, eine der besten Darstellerinnen Österreichs, hat in dieser Rolle als von den Verhältnissen latent überforderte, manchmal ungerechte, aber immer liebevolle Frau eine wunderbaren Auftritt. Christl selbst wird vom österreichischen Kinderstar Zita Gaier gespielt.
Unger zeigt mit Nöstlinger: Kinder dürfen stark sein, frei sein, sie sind nicht zu brechen. Nöstlingers Roman ist sehr autobiografisch gehalten, und gibt nicht nur Einblick in eine Kindheit am Kriegsende und die Mentalität der Überlebenden, sondern auch in das Werden einer Schriftstellerin, die bis heute mit 80 Jahren für Verständigung und Menschlichkeit wirbt, und gegen den Rechtsruck und die Demagogen des »gesunden Volksempfindens« ankämpft.
Auch wenn ein Kind im
Zentrum steht, ist dies weniger ein Kinderfilm, als ein Film, der mal wirklich etwas für die ganze Familie ist: Eingängig und nicht-unsentimental, aber ernsthaft erzählt Maikäfer, flieg! von der Entdeckung der Freiheit und davon dass es Normalität eigentlich nicht gibt.
Das Fazit der jungen Heldin: »Ich werd' alles tun, damit die Zeiten nie mehr normal werden.«