Frankreich 2021 · 99 min. · FSK: ab 16 Regie: Vincent Maël Cardona Drehbuch: Vincent Maël Cardona, Chloe Larouchi u.a. Kamera: Brice Pancot Darsteller: Thimotée Robert, Marie Colomb, Joseph Olivennes, Meinhard Neumann, Fabrice Adde u.a. |
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Eine universelle Geschichte vom Erwachsenwerden... | ||
(Foto: Port au Prince) |
»Darum können junge Menschen, die Anfänger in allem sind, die Liebe noch nicht: sie müssen sie lernen.«
(Rainer Maria Rilke: Briefe an einen jungen Dichter)
Im Friseursalon. Philippe lässt sich von der Freundin seines älteren Bruders die Haare schneiden, um ihr nahe sein zu können. Sie direkt anzusprechen, traut er sich noch nicht. Aber er hat Glück: Im Radio läuft gerade passend ein Chanson (»Le Premier Pas« von Claude-Michel Schönberg), der seinen verliebten Gefühlen romantische Worte und Melodie verleiht und den beiden einen ersten unschuldigen intimen Moment beschert.
Das Langfilmdebüt des Schauspielers Vincent Maël Cardona erzählt viele solcher besonderer Momente, die noch lange nachschwingen und den fantastischen Film so zu einem bleibenden Erlebnis machen. Zusammen mit einigen anderen hat Cardona auch das Drehbuch geschrieben.
Mit ausgebleichten Schwarz-Weiß-Bildern beginnt die Geschichte am Tag des Wahlsieges des Linken François Mitterrand über den Bürgerlichen Valéry Giscard d’Estaing am 10. Mai 1981, was in der Kneipe einer französischen Kleinstadt euphorisch gefeiert wird. Eine Richtungswahl in Frankreich. Während Jerôme (Joseph Olivennes), Moderator des links-anarchischen Piratensenders »Radio Warschau«, glücklich ist und eine neue Zeit heranziehen sieht, ist sein jüngerer Bruder Philippe (Thimotée Robart) eher deprimiert. Er war für Giscard d’Estaing.
Es ist die Geschichte dieser zwei Brüder, der eine am Mikrofon, der andere am Mischpult, die aus der Perspektive des jüngeren Philippe erzählt wird. Philippe ist zufrieden mit seiner »unsichtbaren« Techniker-Rolle beim als Hobby betriebenen Piratensender, im großen, lauten Schatten seines wilden Bruders. Beide verdienen ihr Geld in der Autowerkstatt ihres Vaters, wo sie auch wohnen, was Jerôme wütend und seinem Vater gegenüber immer wieder aggressiv macht, weil es seinem Wunsch nach einem rebellischen Leben als linker Freigeist, Draufgänger, Frauenheld und Feierbiest so gar nicht entspricht. Philippe dagegen hat damit kein Problem, er ist schweigsam, introvertiert, verlässlich, ausgeglichen, er bringt seinen sturzbetrunkenen großen Bruder regelmäßig zu Bett und wird von ihm dafür »Soldat« genannt. In manchen Passagen erinnert Die Magnetischen an einen anderen großartigen Film über zwei ungleiche Brüder: Aus der Mitte entspringt ein Fluß, mit Brad Pitt, bloß in umgekehrter Konstellation, der Ältere ist dort der Vernünftige. Während die beiden Brüder im ländlichen Montana das beschauliche Fliegenfischen verbindet, ist es im französischen Werk die laute, unbändige Musik. Ja, die Musik spielt hier neben dem Radio und seinen damaligen technischen Möglichkeiten (Kassette, Tonband, Schallplatte) eine weitere große Hauptrolle und liefert den wilden Punk-Soundtrack der Achtziger: Joy Division, Iggy Pop, The Undertones, Gang of Four und The Slits bzw. in den Berlin-Szenen der Metal-Sound und Wave dieser Zeit von Die Krupps oder Malaria!.
Zum Coming-of-Age-Film wird die Geschichte Philippes durch zwei Einschnitte: Er verliebt sich in die Freundin seines Bruders Marianne (Marie Colomb), die mit ihrer Tochter aus Paris kommt und im Friseurladen der Kleinstadt arbeitet und er wird zum Wehrdienst eingezogen und nach West-Berlin geschickt. Durch beide Ereignisse ist Philippe plötzlich gezwungen, aus dem Schatten seines Bruders zu treten, seine eigene Stimme zu finden, seinen eigenen Weg zu gehen.
Vincent Maël Cardona gelingt es mit durch die Bank sehr überzeugenden Schauspielern, allen voran mit Thimotée Robart und Joseph Olivennes als ungleichen Brüdern, die Atmosphäre der 1980er Jahre im Look (Kamera: Brice Pancot), im Sound und in den Details perfekt widerzuspiegeln. Darüber hinaus erzählt er eine universelle Geschichte vom Erwachsenwerden, ausgelöst durch den unwiderstehlichen Sog der Liebe. In einer grandiosen Szene wirbelt Philippe in einem Berliner Radiostudio wie ein Derwisch durch die Räume, als er in einer Live-Performance eine aberwitzige Klangcollage aus schwingenden Mikrofonen, gescratchten Schallplatten und virtuos eingefügten Kassettentape-Ausschnitten zusammenzaubert – eine einzigartige Liebeserklärung an Marianne und gleichzeitig ein wilder Rausch der Selbstoffenbarung.
Aber auch andere universelle Fragen wie die nach einem Leben zwischen Anpassung und Rebellion, zwischen beschaulichem, langweiligem Landleben und pulsierender Großstadt werden anschaulich, in großartigen Dialogen, anhand der Figuren des hart arbeitenden Vaters und seinem mit diesem Lebenskonzept unzufriedenen älteren Sohn packend in Szene gesetzt. Was man in einem guten Film alles unterbringen kann! Auch das Thema der ambivalenten Bruderliebe und Bruderrivalität oder die Frage danach, was man bereit ist für seine eigene (berufliche) Leidenschaft zu opfern, werden eindringlich und mit großer Intensität miterzählt. Nicht zu vergessen die Darstellung der französischen Linken in ihrem Versuch des Wiederauflebenlassens der 68-er-Power mit ihrem vor allem durch die energetische Musik angetriebenen wilden Lebensgefühl – im Vergleich allerdings weniger politisch theoretisch als eher hedonistisch, individualistisch. Interessant dabei auch die damalige Rolle Berlins aus französischer Perspektive. Durch ihre Musik-Avantgarde und die Underground-Locations wirkt hier alles ungemein cool auf den jungen Soldaten Philippe.
Und das alles in einem Debütfilm! Kein Wunder, dass Die Magnetischen 2021 in Cannes in der Sektion Quinzaine des Réalisateurs ausgezeichnet wurde und später einen César als Bester Debütfilm erhielt.
Vieles gäbe es noch zu erzählen von diesem wunderbaren Film, aber letztlich sollte man sich die Zeit nehmen und selbst eintauchen in das Leben von Philippe, Jerôme und Marianne.