USA 1999 · 193 min. · FSK: ab 12 Regie: Paul Thomas Anderson Drehbuch: Paul Thomas Anderson Kamera: Robert Elswit Darsteller: Jason Robards, Julianne Moore, Tom Cruise, Philip Seymour Hoffman, Philip Baker Hall u.a. |
Ein Mord durch drei Landstreicher, die »Green«, »Barry« und »Hill« heißen. Ein Taucher, der in voller Montur auf einem Baumwipfel stirbt. Ein versuchter Selbstmord, der durch einen zufälligen Schuß zur Tötung wird – mit lauter absurd-bizarren Toden eröffnet Paul Thomas Anderson seinen Film Magnolia: ein sekundenschnelles wildes Stakkato aus Bildern und Zufällen, in dem nur die Stimme der Erzählers noch Orientierung bietet. Doch beweisen soll diese Ouvertüre gar nichts außer vielleicht, dass dies alles nicht nur Zufall sein kann, und – dass dieser Regisseur noch einiges mit den Zuschauern anstellen wird. Denn das ist wirklich nicht mehr, als ein Anfang.
Aber immerhin: Diese drei – offenbar 'wahren' – Geschichten setzen gleich zu Beginn unverkennbare Signale: Denn Magnolia ist, bei allem Ernst, von dem noch zu reden sein wird, viel ironischer, als viele Kritiker es wahrhaben möchten. Doch Herr Kniebe. »Form a tragedy« – diesen Rat, den wir von einer der Filmfiguren hören, hat zwar auch der Regisseur beherzigt. Aber eben nicht nur. Und auch die Ironie kann aus der Tiefe kommen.
Nach diesem Auftakt geht es ganz anders weiter: Kaum äußere Gewalt. Vielmehr begegnen einem entlang des titelgebenden Magnolia-Boulevards im San Fernando-Valley von L.A. neun Menschen aus der amerikanischen Gegenwart. Ein Tag und eine Nacht aus ihrem Leben bilden den Inhalt dieses episodenhaft erzählten Films, dessen einzelne Teile doch immer verwoben sind zu einem Ganzen.
Nahe liegt hier – formal noch mehr als inhaltlich – natürlich der Gedanke an Robert Altmans Short Cuts. Doch wenn auch beide einen ähnlichen Sarkasmus besitzen, scheint doch Altman im Vergleich ungleich abgebrühter, distanzierter und – im Guten wie Schlechten – zynischer, sodaß die Unterschiede schwerer wiegen.
Am Anfang steht die Einsamkeit: »One is the loniest« hört man Aimee Mann singen, »One is the loniest number« heißt der Text eigentlich. »Such Dir ein Girlfried. Der ganze Unsinn stimmt nämlich« bekommen wir zu hören, und ähnliches. Verzweiflung, Suche nach Nähe und Unfähigkeit zu ihr herrschen vor. Andererseits wollen manche dieser Menschen nichts von einander wissen, haben vor nichts mehr Angst, als vor Verletzung.
Wirklich vereint sind sie nur vor dem Fernseher. Als die Quiz-Show »What do Kids Know?« beginnt, sehen sie alle. Ja: Was wissen Kinder? Und was können sie vergessen, was tragen sie hingegen ihr ganzes Leben mit sich herum – das sind hier in der Tat zentrale Fragen. Denn einige dieser Menschen sind miteinander verwandt, wie Jimmy (Philip Baker Hall), der berühmte Quizmaster und seine Tochter Claudia (Melora Walters), die aber von ihrem Vater auch dann nichts mehr wissen will, als er ihr seine unheilbare Krankheit eröffnet. Öffnen kann sich die depressive junge Frau, die viel kokst und mit vielen Männern schläft, ohne dadurch glücklicher zu werden, erst ausgerechnet Jim (John C. Reilly), dem eher langweiligen und verklemmten, bibelfesten und gutherzigen Polizisten, der in seinem Job »Gutes tun« will, und doch nur mit der Schlechtigkeit der Welt konfrontiert wird.
Oder Jimmys Produzentenboss Earl (Jason Robards) dessen Sohn Frank (Tom Cruise), eine Art Macho-Guru ist, und eine Selbsthilfegruppe für frauengeschädigte Männer leitet – innerlich höchst einsam und unglücklich. Beide haben schon lange keinen Kontakt mehr.
Väter und Kinder haben hier schwierige Beziehungen. Die Kinder müssen ausbaden, was ihnen geschehen ist, aber die Sünden der Väter sind es, die das Verhältnis zerstört haben. Wie in American Beauty sind sie es, die am Ende dran glauben müssen. Auch Stanley und Donnie, zwei Wunderkinder, sind auf ihre Art Opfer der Väter. Stanley (Jeremy Blackman) erlebt heute das, was Donnie (William H.Macy) vor 30 Jahren geschah: Er steht als »Quiz Kid« in Jimmys TV-Show kurz vor dem Rekordgewinn. Kinder treten hier gegen Erwachsene an. Doch was ihn eigentlich antreibt, ist sein Vater. Ähnlich erging es
einst Quiz-Kid Donnie, dessen letzte richtige Antwort ausgerechnet »Prometheus« hieß, der von seinen Eltern um sein Geld betrogen wurde, später vom – göttlicher Eingriff? – Blitz getroffen wurde und heute ein kleiner unfähiger Angestellter ist.
Doch gerade die, die wie etwa Frank versuchen, alles Frühere abzulegen, und dies auch anderen predigen, müssen lernen: »Wir haben mit der Vergangenheit abgeschlossen, aber die Vergangenheit nicht mit uns.«
Es um Ganze in
Andersons Film, um Schuld und Sühne, die Hoffnung auf Versöhnung, ihr Scheitern, um Liebe und deren Grenzen. Über allem, was dieser Film-Autor in drei überbordend reichhaltigen Stunden erzählt – kurzweilig und eben oft ironisch – liegt ein tiefer, sehr grundsätzlicher Ernst, der sich mehr als im Stil des Films im Inhalt zeigt.
Hinter dem scheinbar zufällig ausgewählten Personal verbergen sich Archetypen der US-Gesellschaft: Showmaster, Cop, Laienprediger, Wunderkind, Junkie – das sind Metaphern für universale Mächte und Verhaltensweisen. Ohne seine Charaktere zu denunzieren, richtet Anderson doch einen dunkeln Blick auf Amerika, auch wenn er uns am Schluß ein Stück Hoffnung zurückgibt. Aber davor, so moralisch, so streng puritanisch ist er, muss man durchs Dunkel gehen.
Das Leben ist die
Vorhölle. Und der entgeht man nur durch Bekennermut. Im Zentrum von Magnolia steht besonders das Wechselspiel zwischen öffentlicher Pose und privatem Geheimnis. Fast alle seiner Figuren müssen aus der Rolle fallen und vor Publikum entblößen, erst diesse Katharsis ermöglicht ihnen, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Und um Wahrheit, Rettung, um das Heraustreten aus Verblendungszusammenhängen geht es dem Regisseur. Am Ende verkündet Anderson, was man erst in
letzter Zeit wieder im US-Kino hört: »Du musst Dein Leben ändern!«
Diese moralische, schließlich mit biblischer Urgewalt (vgl. Exodus 8:2) erzählte Geschichte ist angreifbar. Es kann einem manchmal schon etwas zuviel werden an – typisch amerikanischer? – triefender Emotion, an Versöhnungswille. Und ganz wird man auch hier den Verdacht nicht los, dass solche Versöhnung letztlich immer eine falsche ist. Und warum muss man eigentlich alles aussprechen? Auf dem Grund all dessen gibt es tatsächlich keine Ironie mehr. Und das macht diese
Geschichte unreifer, als sie sein müßte. So sehr man den Film mag, so sehr bleibt doch am Ende auch das unbestimmte Gefühl es fehle etwas, das vielleicht auch nur bedeutet, dass hier von etwas Falschem zuviel ist.
Andererseits hat Andersons Mut zum romantischen Pathos und zum Melodram, der nicht nur sympathisch ist, sondern dem Film auch eine zusätzliche Dimension, Tiefe vielleicht, öffnet.
Was Magnolia aber vor allem und jenseits all dessen zu einem Ereignis macht, ist nicht die Story, sondern sein Stil, die suggestiven Bilder in denen dieses Panoptikum aus Isolation und Leiden zusammengeführt wird: eine saugende, geschmeidig fließende, fast immer bewegte Kamera, eine kaum je stockende Orgie aus Bewegungen und der Überlagerung von Bildern und Tönen. Perfekt gelingt das fast eine Stunde lang in der Mitte des Films: ein einziger weicher Teppich, der den Zuschauer führt, wohin Anderson will, ohne ihn je einzulullen. Ein endloses Band, gestaltete Zeit, gedehnte Augenblicke, in diesem Sinn absolutes Kino, und wenn man als Filmzuschauer so etwas wie einen ästhetischen Orgasmus kriegen kann, dann hier, in einigen Momenten von Magnolia – viel perfekter geht’s nicht. So fließen all die Figuren und ihre Geschichten ineinander und werden zu einer Einheit, eine komplizierte Menge an Geschehnissen, kleinen Ereignissen, scharfen Beobachtungen wird in einem Guß zusammen geführt – mit einer Souveränität, die man selten sieht, und die zu Recht bei den Berliner Filmfestspielen mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde.
So bricht Anderson glücklicherweise im Ästhetischen mit seiner eigenen These, die Show müsse zuende gehen. Magnolia ist mutig, zwingend, anrührend und als Film wunderschön – ein Meilenstein.
PS: Auf der Berlinale gab uns P.T.Anderson ein Interview zum Film.