USA 2011 · 149 min. · FSK: ab 12 Regie: Kenneth Lonergan Drehbuch: Kenneth Lonergan Kamera: Ryszard Lenczewski Darsteller: Anna Paquin, J. Smith-Cameron, Mark Ruffalo, Jeannie Berlin, Jean Reno u.a. |
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Ein fast vereiteltes Meisterwerk |
Ein Monument von einem Film. Ein dichtes, atmosphärisches Meisterwerk. Dahinter eine Verzweiflung und ein doppelter Prozess: Sechs volle Jahre dauerte es, bis Kenneth Lonergan, der jetzt mit seinem neuen Film Manchester by the Sea Furore macht, sein Werk Margaret ins Kino bringen konnte. Sechs Jahre Postproduktion, die von einem erbitterten Streit vor Gericht begeleitet wurden, der auf eigenartige Weise die Filmhandlung wiederspiegelt: eine Prozessanstrengung, bei der einem Unfallopfer posthum zu seinem Recht verholfen werden soll.
Bereits 2005 war Margaret fertig abgedreht, der Kinostart war für 2007 angekündigt, aber erst 2011 kam der Film in der von 20th Century Fox gewünschten Länge von 150 Minuten in die Kinos. Martin Scorsese und seine Cutterin Thelma Schoonmaker setzten sich für Lonergan ein, der beim Drehbuch von Gangs of New York mitgeschrieben hatte, und schnitten eine 165-Minuten-Version, die von Lonergan abgesegnet wurde – die Studios beharrten jedoch auf der verleihfreundlicheren zweieinhalb-Stunden-Version. Als dann der Film in die Kinos kam, blieb er nahezu unsichtbar. In ganz Nord-Amerika wurde er auf nur vierzehn Leinwände gebracht, für Europa stand es noch schlechter: Ein einziges Kino in London und eines in Paris zeigten den Film – eine klare Abstrafung Lonergans durch Fox, das den Film aufgegeben hatte. »Le Monde« schrieb anlässlich des Starts im Pariser Kino Publicis Champs-Elysées: »Ein großer Film, den man sich nicht ansehen sollte! Margaret wird in nur einem einzigen Saal herausgebracht, in der französischen Synchronisation, eine Absurdität angesichts der Qualität der Schauspieler und der Dialoge!« (Den Erfolg von Manchester by the Sea feiert »Le Figaro« dementsprechend als »Lonergans Rache«.) Heute ist diese Art von »Kinostart« als technischer Release bekannt, oder: direkt auf DVD oder zu Netflix. Den wenigen, die Margaret jedoch gesehen hatten, galt der Film als absoluter Geheimtipp, der Krimi, der den Film begleitete, wurde bald mit der Entstehungsgeschichte von Michael Ciminos Heaven’s Gate verglichen.
2014 gelang es Lonergan dann endlich, seinen Director’s Cut herzustellen: Er ist 186 Minuten lang, mit einem anderen Schluss und Score als von den Studios gewünscht (am heutigen Donnerstag, 26.1., um 19 Uhr als Deutschlandpremiere im Filmmuseum München zu sehen).
In der satten Farbigkeit und Tiefenschärfe des vitalen Zelluloids spielt Margaret in einem New York, das noch ganz unter dem Schrecken von 9/11 steht. Anna Paquin spielt die 17-jährige Lisa, die das letzte Jahr ihrer Schulzeit in einer erbitterten Diskussion mit ihren Klassenkameraden austrägt. In den offenen Schulstunden wird gestritten: über den Terrorismus, die aufkeimende Pauschalverurteilung von Muslimen, die Kritik an der Siedlungspolitik Israels, den neuen Anti-Semitismus, über Palästina. Dabei kommt es zu einer aus heutiger Sicht sehr freizügigen Praxis von Demokratie und Diskurs: Das Attentat auf das World-Trade-Center wird mit der israelischen Bombardierung des Gazastreifens in die Waagschale geworfen, und es wird gefragt, weshalb die Bombardierung von Frauen und Kinder schlimmer sei als die von Männern, ob dieser Sichtweise nicht ein fragwürdiger Sexismus zugrunde liege. Lisa, und das ist eine der vielen Erstaunlichkeiten des Films, der sich nie ganz auf die Seite seiner Protagonistin schlägt, bildet das Lager der Hardliner; der Streit mit der muslimischen Mitschülerin entgleist.
Dicht verwoben wird dieser politische Hintergrund mit der vordergründigen Handlung, die sich mitten auf den Straßen von New York zuträgt. Ein Busunfall, den Lisa mitverursacht, führt zum Tod einer Passantin. Ein Ereignis, das das Leben auf den Kopf stellt und genau jene unvorhergesehene Kontingenz mit sich führt, die Lisa kurz zuvor noch für sich ausgeschlossen hatte. Der Unfall auf der Straße, das Hereinbrechen der Katastrophe in das eigene Leben, der Versuch, danach eine absurde Gerechtigkeit herzustellen, die die eigene Verantwortlichkeit ausblendet, macht aus dem Film ein dichtes, meisterliches Gewebe. Politik und Alltag, Sexualität und Einsamkeit, Starrköpfigkeit und Mitgefühl durchdringen einander und legen ein Brennglas auf das Leben, das so widersprüchlich ist.
Immer wieder spiegeln sich die regennassen Straßen von New York im Scheinwerferlicht der Autos, eine Tatort-Poetik und zugleich Hymne an das Leben in der Straße. Dann der Verlust der Unschuld von Lisa, die zu einer Radikalität, auch einer körperlichen, führt, und eine große Initiationsgeschichte erzählt, an deren Ende sie nicht Satisfaktion, aber wieder Ruhe gefunden haben wird. Dabei hält sich der Film ganz und gar im Unbestimmten, Nichtdiskursiven auf, erzählt indirekt. Sein narratives Epizentrum ist so auch nicht der Unfall als handlungsgenerierendes Ereignis, sondern, viel subkutaner, die Lektüre im Englischunterricht. Gemeinsam lesen die Schüler »Spring and Fall: to a young child«, ein Gedicht des Viktorianers Gerard Manley Hopkins, das zum titelgebenden Namen führt: »Margaret, are you grieving / Over Goldengrove unleaving? Leaves, like the things of man, you / With your fresh thoughts care for, can you? (…)/ Nor mouth had, no nor mind, expressed / What heart heard of, ghost guessed: / It is the blight man was born for, / It is Margaret you mourn for.«
Die Zeit des Erwachenwerdens und das Begraben der eigenen Kinderseele, Lisas Konfrontation mit dem Tod des Unfallopfers, das Hineingleiten und die Identifikation mit der (bereits verstorbenen) Tochter jener Sterbenden, dadurch das Hinauswachsen über sich selbst, dies alles vor dem Hintergrund von Big Apple, 9/11, »war on terror« und der Sehnsucht nach Liebe: Das Leben ist zu komplex, als dass man daraus nicht ein Meisterwerk weben sollte.