USA 2012 · 138 min. · FSK: ab 12 Regie: Paul Thomas Anderson Drehbuch: Paul Thomas Anderson Kamera: Mihai Malaimare jr. Darsteller: Joaquin Phoenix, Philip Seymour Hoffman, Amy Adams, Laura Dern, Barlow Jacobs u.a. |
An einem weißen Sandstrand lungern halbnackte, sonnenverbrannte Marinesoldaten um Freddie Quell, der eine obszöne Show mit einer aus Sand gebauten Frau zum besten gibt. Die Soldaten klatschen, pfeifen und johlen. Kurz darauf steht Quell mit heruntergelassener Hose vorm Meer und holt sich einen runter. Das Schiff mit den Soldaten pflügt durch leuchtend blaues Wasser. Quell liegt oben in der Takelage. Aus dem Lautsprecher ertönt die Durchsage, dass der Krieg gewonnen ist, die Soldaten jubeln. Quell zeigt keine Emotion.
Traumatisiert, vernarbt, saufend und humpelnd kehrt er nach Massachusetts zurück, wo er in einem Kaufhaus als Fotograf Arbeit findet. Im Alkoholrausch prügelt er sich mit einem Kunden und verliert den Job, auch beim nächsten Job als Erntehelfer wird er davongejagt. Im Hafen beobachtet er eine ausgelassene Party auf einer Jacht und gesellt sich ungebeten zu den Feiernden. Der Gastgeber ist Lancaster Dodd, Gründer der Glaubensgemeinschaft »The Cause«, der sich von seinen Anhängern »Master« nennen lässt. Trotz der Zweifel einiger Mitglieder beschließt Dodd, Freddie in seine Obhut zu nehmen um zu beweisen, dass »The Cause« selbst bei aussichtslosen Fällen funktioniert.
Freddie Quell ist jemand, den man nicht gerne anschaut. Freddie Quell nervt. Von der schiefen Körperhaltung, dem linkischen Gang bis hin zum verbissenen Gesichtsausdruck hat Joaquin Phoenix mit Inbrunst ein menschliches Wrack erschaffen. Ein Mundwinkel ist unnatürlich verzogen, ein Auge stets zusammengekniffen, so als würde er direkt in die Sonne schauen. Beim Reden presst er die Worte mit sichtlicher Anstrengung hervor, und spuckt sie seinem Gegenüber regelrecht vor die Füße. Er kann Menschen nur mit größter Anstrengung in die Augen sehen. Jede Bewegung, jede Geste ist irgendwie destruktiv, unabhängig davon, ob er nun sich selber oder anderen damit schadet. Seine prägnante Hasenscharte, die in anderen Rollen durchaus zu seiner Attraktivität beitragen kann, setzt Phoenix hier mimisch ganz bewusst ein, um sein Gesicht zerstört aussehen zu lassen. Im Kontext der Figur hält man sie sogar für eine Kriegsverletzung. Er beherrscht die hohe Kunst, das »Material« seines Körpers zugunsten seiner Darstellung kompromisslos einzusetzen. Dabei strahlt er eine manische Intensität aus, die manchmal schwer zu ertragen ist.
Sein Gegenüber ist Philip Seymour Hoffman als Lancaster Dodd. Er stellt einen charismatischen Lebemann dar, der um seine Person einen Kult etabliert und begeisterte Anhänger um sich scharrt. Sein Spiel wirkt neben der Inbrunst von Phoenix erfrischend unprätentiös und plausibel. Die Selbstverständlichkeit seiner Darstellung ist zwar auch Teil der Rolle, es ist aber vor allem Hoffman, der niemals aufgesetzt wirkt. Diese Nonchalance kommt Lancaster Dodd zugute. Hoffman zeigt Dodd so unverschämt sympathisch, so überzeugend lebenslustig, selbstverliebt und mitreißend, dass es völlig klar erscheint, warum sich so viele Menschen ihm und seinem seltsamen Kult anschließen. Dodds Schwäche ist die Genusssucht. So bittet er Quell immer wieder, ihm Alkohol zu panschen. Jeden Schluck des verbotenen Gebräus zelebriert er mit solcher Wonne, dass es eine Freude ist, ihm dabei zuzuschauen. Er strahlt mit jeder Faser seines Körpers einen entspannten Optimismus aus, eine ansteckende, unverkrampfte Lebenslust. Wenn man diese Darstellung mit der des unglücklichen, verschwitzten und verklemmten Schwulen in Boogie Nights vergleicht, den er ebenso selbstverständlich darbot, bekommt man zumindest eine leise Idee davon, zu welcher Bandbreite Hoffman fähig ist.
Amy Adams spielt Dodds Ehefrau, die mit sanfter Strenge ihren Mann konsequent im Griff hat. Auch wenn es auf den ersten Blick anders scheint, ist sie diejenige, die die Entscheidungen trifft, sie ist die kontrollierende Kraft im Hintergrund. Ihr charismatischer Mann führt aus, was sie bestimmt hat. Besonders deutlich zeigt das die Szene, in der Dodd bei einer Party ein wenig über die Stränge geschlagen hat und anschließend die hochschwangere Amy Adams ihm völlig leidenschaftslos, aber hellwach am Waschbecken einen runterholt. Dabei gibt sie ihrem Mann Anweisungen und stellt eindringlich klar, wie er sich zu benehmen hat. Mit beängstigender Abgeklärtheit wäscht sie anschließend ihre Hände ab und macht alles sauber.
Am Set wurde den Schauspielern größtmögliche Bewegungsfreiheit eingeräumt, viele Szenen entstanden in Improvisation. Darauf musste sich auch der Kameramann, Mihai Malaimare Jr., einlassen. Oft genug riskiert er unperfekte Bilder, weil er eine extreme Nahaufnahme mit geringstem Schärfenspielraum aufnimmt. Er »atmet« mit den Schauspielern, lässt sich auf sie ein, gewährt dem Zuschauer eine beinahe intime Nähe zu ihnen. Dass die Schauspieler keine Markierungen gesetzt bekamen, sieht man in diesen Nahaufnahmen an den mäandernden Schärfenbereichen. Sie wurden zugunsten der Freiheit der Schauspieler in Kauf genommen. In Zeiten von technisch perfekten, optisch beinahe klinisch-reinen Filmen ist das ein auffälliges Statement. Weniger schön sind die Bilder deswegen nicht, sie sind lebendig, sie haben Charakter. Malaimare beherrscht auch das, was man in dieser Größenordnung nur mit einer 70mm-Kamera machen kann: Er fängt Landschaften großformatig ein, in ihrer ganzen Pracht. Dabei gelingen ihm Bilder von monumentaler Epik: Ein gigantisches Feld voller violett-grüner Kohlköpfe in der Dämmerung, eine staubige Wüstenlandschaft in den Canyons im gleißenden, unerbittlichen Sonnenlicht, ein Sandstrand, der vor einem pastellblauen Morgenhimmel glitzert, immer wieder das Meer in seiner wilden Schönheit. Beeindruckend ist auch die Plansequenz, in der eine Jacht im nächtlichen Hafen im Hintergrund zu sehen ist, der sich die Kamera gemeinsam mit Freddie Quell im Schritttempo nähert. Die bunten Glühlampen an der Reling verschwimmen dabei durch geschickt choreografierte Schärfenverlagerung zu wabernden Lichtpunkten, verschmelzen in der Unschärfe zu pulsierenden, leuchtenden Schemen. Malaimare versteht sich auf beides: Die impulsive Nähe zu den Schauspielern, und die Magie von großen, weiten Bildern, die ausschließlich fürs Kino gemacht sind.
Paul Thomas Anderson zeigt ein enormes Vertrauen in seine Schauspieler, die im Film den Rhythmus vorgeben. In manchen Augenblicken liegt die Vermutung nahe, dass Anderson von seinen Schauspielern überrascht oder sogar überrannt wurde. Zum Beispiel in der Szene, in der Freddie Quell nach Jahren unerwartet wieder bei Dodd vor der Tür steht. Nicht mal er selber weiß, was genau er dort will. Zunächst stehen sich die beiden etwas unschlüssig gegenüber, keiner weiß so recht, was er sagen soll. Dann bricht es aus ihnen heraus, sie umarmen sich stürmisch und kugeln sich wie Schuljungen übermütig balgend und lachend über den Rasen. Die anderen Schauspieler stehen etwas ratlos auf der Veranda im Hintergrund und wissen nicht, was sie damit anfangen sollen, wie sie auf diesen albernen Ausbruch reagieren sollen. Dieser Moment hat eine Unmittelbarkeit, wie sie oft nur in der Improvisation entstehen kann.
Der Vorteil von Werkschauen und Retrospektiven liegt darin, dass man in der gebündelten Abfolge aller bzw. vieler Filme eines Regisseurs durchgehende Motive und Arbeitsweisen erkennen kann. Im Kinoalltag ist dies ungleich schwieriger, da zwischen den einzelnen Filmen mehrere Jahre und viele andere cineastische Eindrücke liegen.
Beim Regisseur Paul Thomas Anderson habe ich mir bisher schwer getan, in den vier Filmen seit 1997 Gemeinsamkeiten zu erkennen. Anderson schien
einer der Regisseure zu sein, die (wie z. B. Steven Soderbergh) ständig ihre Themen und Erzählweisen ändern. Erst eine funky Reminiszenz an die Pornoindustrie zur Discozeit, dann ein verschachtelt versponnenes Filmpuzzle, dann eine absurd surreale Liebesgeschichte, dann eine existenziell epische Allegorie. Erst mit seinem aktuellen Film The Master zeichnen sich plötzlich durchgehende Muster ab und alle Filme ergeben nun zusammen ein in sich schlüssiges
künstlerisches Universum.
Zu Tage treten jetzt durchgehende gestalterische Methoden, etwa die ausgesprochen ästhetische, pittoreske, stellenweise fast manierierte Bildsprache oder der sehr durchdachte Einsatz von (Film-)Musik, die immer wieder auch Teil der Handlung ist, etwa in Magnolia, wenn verschiedene Akteure anfangen Aimee Manns »Wise Up« zu singen oder aktuell in The Master, der einige unerwartete Gesangseinlagen von Philip Seymour Hoffman bereithält.
Bemerkenswert bei P.T. Anderson ist auch der Einsatz und der Umgang mit den Schauspielern. Oft wundert man sich, wen Anderson da für eine Rolle ausgewählt hat, letztlich erweist sich die Wahl aber immer als richtig, wenn nicht sogar als genial (siehe etwa Burt Reynolds und Mark Wahlberg in Boogie Nights, Tom Cruise in Magnolia oder Adam Sandler in Punch-Drunk Love). Mit großer Sicherheit fügt Anderson alle Darsteller zu einem homogenen Ensemble zusammen und erreicht, dass selbst neben den titanischen Leistungen der
Hauptdarsteller die Nebenrollen mit ähnlicher Kraft leuchten. Dabei agieren die Schauspieler oft mit einer solchen Intensität, dass man sich besorgt und erstaunt fragt, wie sie nach einer solchen darstellerischen Tour de Force wieder »normal« werden sollen.
Auch stimmungsmäßig und inhaltlich wiederholen sich Motive, so setzt Anderson in die »echte« Familie kein großes Vertrauen, zeigt sie überwiegend als Ort der gegenseitigen Verletzung. Ersatzfamilien wirken im ersten
Moment oft als bessere Alternative, doch ungetrübtes Glück ist auch dort nicht garantiert. Das verwundert nicht, schließlich ist das Menschen- und Weltbild in Andersons Filmen weitgehend düster, skeptisch und illusionslos, wobei er erstaunlicherweise nie eine verbittert deprimierende Haltung wie Michael Haneke oder die Brüder Dardenne einnimmt und auch nie in den Verdacht der Leidens- und Elendspornographie gerät.
Fasziniert ist Anderson offensichtlich von »Predigern«
jeder Art, also Menschen, die Kraft ihrer Worte und ihrer Ausstrahlung andere Menschen begeistern, verführen und manipulieren. Eng damit verbunden ist das immer wiederkehrende Motiv der spannungsgeladenen und wechselhaften Beziehung zwischen zwei Menschen, die darum ringen, wer wen dominiert und wer von wem abhängig ist.
Die für mich wichtigste und faszinierendste Eigenschaft aller Anderson-Filme ist aber ihre Unklarheit bzw. Unschärfe bzw. Unbestimmtheit.
Das betrifft
etwa die Moral, die sich hier nie konkret festmachen lässt. Während sich die Mehrzahl der anderen Filme (oft krampfhaft) bemüht, klare moralische Positionen einzunehmen, also verdeutlicht, wer gut und wer böse ist, welches Handeln in Ordnung und welches falsch ist (dieser Hang zur Eindeutigkeit ist nicht nur im Kommerzfilm, sondern gleichermaßen auch im sog. Arthouse vorhanden), verweigert Anderson so klare Aussagen, wobei dieses »Verweigern« kein aktives Streben ist. Anderson
ist kein sachlicher Dokumentarist, der absichtlich eine moralische Wertung aus Gründen der Objektivität strikt ablehnt. Er ist auch kein ausdrücklicher Gutmensch oder Relativist, der stets bemüht ist, im Schlechten immer noch etwas Gutes und in allem Guten auch etwas Schlechtes zu finden.
Bei Anderson hat man vielmehr den Eindruck, dass für ihn moralische Kategorien wie gut oder falsch nicht relevant sind. Bei ihm sind die Dinge wie sie sind, was seinen Filmen eine
verstörend archaische Qualität verleiht. Der Pornoproduzenten, der Macho-Sex-Guru, der besessene Ölsucher, der obskuren Sektengründer sind einfach (so wie sie sind). Danach zu fragen, ob sie gut oder böse sind, wirkt in Andersons Filmen so unangebracht wie die Frage, ob ein Wolf, der ein junges Reh tötet, gut oder böse, grausam oder brutal ist.
Diese Uneindeutigkeit der übergeordneten Moral steht in engem Verhältnis zum Verhalten der einzelnen Personen, deren Motivation
undurchschaubar ist, ohne dabei aber unentschlossen oder widersprüchlich zu wirken.
Aus purer Gewohnheit klammert man sich auch bei The Master an die typischen Rollenbilder und ihren damit verbundenen Motivationen. Freddie (Joaquin Phoenix) ist ein ver- und gestörter Verlierer, darum ordnet er sich bereitwillig einem charismatischen Meister unter. Dodd (P.S. Hoffman) ist ein verschlagener Krimineller, darum spielt er mit den Menschen, um sie
auszunehmen. Dodds Frau (Amy Adams) ist die eiskalte, machtbesessene Intrigantin im Hintergrund, darum macht sie jeden nieder, der ihren Plänen gefährlich werden könnte. An Muster wie diese ist man gewohnt und erwartet auch hier, dass sie Gültigkeit haben. Aber wie bei allen Filmen Andersons kippen diese Bilder, handeln die Figuren nicht konsequent so, wie man es erwartet. Also versucht man sich mit einem anderen Bild der Figur zu arrangieren, nur um zu merken, dass das auch nicht
wirklich passt.
Damit erweist sich Anderson als überaus realistischer Filmemacher, der eine Malaise unseres Alltags präzise widerspiegelt. Nur zu gerne hätten wir, dass die Menschen in unserem Umfeld eindeutig, berechenbar, durchschaubar und konsequent in ihrem Handeln sind. Tatsächlich sind sie es aber oft nicht und sie tun etwas, das wir nicht erwarten und / oder nicht verstehen.
Ob man einen Film wie The Master gut findet, hängt in hohem Maße davon ab,
ob man ins Kino geht, um vor der Uneindeutigkeit der realen Welt zu fliehen (um sich moralisch eindeutige Szenarien mit klar motivierten Personen anzusehen) oder ob man Filme als Chance begreift, sich mit der Unschärfe von Moral und menschlichem Handel in ihren sonderbarsten Facetten zu beschäftigen, ohne die Konsequenzen im eigenen Alltag tragen zu müssen. Die zweite Option ist sicher die weniger angenehme, einfache, vergnügliche, dafür ist sie in der Regel die nachhaltigere und
substanziellere. Ein Film wie The Master belegt dies eindrucksvoll.
Weltkriegsveteran Freddie Quell findet Ende der 40er Jahre nicht richtig ins Zivilleben zurück: Ob durch Kriegstraumata oder tiefere Persönlichkeitsstörungen bleibt offen, doch in der ersten halben Stunde seines Films konzentriert sich Paul Thomas Anderson (Boogie Nights, Magnolia) ganz auf diese eine seiner beiden Hauptfiguren, und zeigt uns einen unsympathischen Menschen. Dessen Alkoholismus und offenkundige Kontaktprobleme führen nicht etwa zu Anteilnahme, eher teilt man Andersons Haltung einer kalten Diagnose, für die der Regisseur mehrere Indizien und Erklärungsansätze anbietet: Wir erleben Freddie als missgelaunten Einzelgänger, der starke nervöse Störungen hat, sexuell frustriert und hysterisch ist, stiehlt, betrügt, seine Mitmenschen und Vorgesetzten scheinbar grundlos beleidigt, nahezu jede Chance, die andere ihm bieten, wie selbstzerstörerisch ausschlägt und gelegentlich einfach »ausrastet«. Eine Rolle wie gemacht für Joaquin Phoenix, der hier nun augenrollend und mit zuckenden Lippen, unterstützt von künstlichem Gebiss und anderer Maskenkunst sein Gesicht in immer neue Grimassen legt und auf den Spuren selbsterklärter »Großschauspieler« des Method Acting wie Marlon Brando und Daniel Day-Lewis wandelt – was man dann wahlweise als geniale Schauspielkunst preisen oder als chargierendes Overacting verdammen kann.
The Master ist damit genau das, was sich Schauspieler wünschen, jedenfalls amerikanische, weil sie sich mit solchen Rollen wichtig machen und für den Oscar nominiert werden können. Amy Adams und Philip Seymour Hoffman nutzen ihre Möglichkeiten glänzend, während Joaquim Phoenix overacted: Es gibt diese bestimmte Art amerikanischer Schauspieler zu spielen. Sie hat nichts mehr mit dem Leben zu tun, nichts mit Naturalismus, aber wir halten sie fast dafür, weil
wir das so oft (zu oft) gesehen haben. Und übrigens sieht Phoenix hier so hässlich aus wie noch nie. Er spielt eine ähnliche Figur wie Tom Cruise in Magnolia, wie Daniel Day Lewis in There Will Be Blood: Ein ausgezehrter, asketischer, aggressiver Unsympath, der zwar »böse« »ist«, auch im Film,
aber doch erkennbar die Identifikationsfigur, das Alter ego für Anderson.
So oder so erscheint Phoenix ganz das Zentrum dieses Films.
Bis zu dem Augenblick, als er nach einer halben Stunden seinen Meister findet: Philip Seymour Hoffman spielt jenen Lancaster Dodd, ein offenkundig reicher und hochbegabter Mann »in den besten Jahren«, dessen Leben, das er im Kreis von Frau, Kindern und zwei Dutzend Freunden verbringt, offenbar eine einzige hedonistisch-experimentelle Party ist. Doch da ist noch mehr:
Freddie Quell: »Was machen sie?«
Lancaster Dodd: »Ich mache viele, viele Dinge. Ich bin Schriftsteller und Arzt und Atomphysiker und theoretischer Philosoph, aber vor allem bin ich ein Mann. Ein hoffnungslos wissbegieriger Mann. So wie sie.«
(Dialogpassage aus dem Film)
Lancaster bezeichnet sich als »Philosoph«, er schreibt Bücher über die Menschheitsgeschichte und Zeitreisen, in denen er die Welt erklärt, zugleich sich im Besitz von geheimnisvollem Wissen behauptet, mit dem er »vorerst« hinterm Berg hält. Im persönlichen Kontakt entfaltet er große Wirkung, ein charismatischer egomanischer Menschenfänger und de facto ein zukünftiger Sektenführer. Gutgläubigen Reichen zieht er das Geld aus der Tasche, Freddie »behandelt« er, stärkt sein Selbstbewusstsein, macht ihn aber auch erkennbar von sich abhängig. Aus dem Totalversager wird Lancasters unterwürfiger Diener, kritikloser Gefolgsmann, Spielzeug und Schoßhündchen...
Hoffman spielt all dies mit sichtbarem Vergnügen, aber dezent, zurückgenommen, voll subtiler Ironie auch der Figur selbst gegenüber – man kann nur vermuten, das dieser radikale Gegenentwurf zu Phoenix' Auftritt bereits in der Besetzung angelegt war.
So verfolgt man eine freudianische Vater-Sohn-Parabel über einen unreinen Tor auf der Suche, und einen Retter, der den verlorenen Sohn aufnimmt, und mit ihm ein männerbündisches neues Reich formt, in dem Frauen entweder
reines Beiwerk sind, oder heimliches Zentrum. So sticht Amy Adams als Dodds Gattin hervor. Hinter der Maske freundlicher Güte verbergen sich Machtwille und Geschäftssinn. Und mit welcher Überzeugung die Frau solche Sätze sagt, wie: »You can do, what ever you want. This is not you. Your spirit is not free. It is controlled by an invader force. We are in the middle of a battle, which is 3 trillion years old.« Weiterer schöner Satz: »We are not a part of the animal kingdom.«
The Master bleibt klar ein Film von dieser Welt – Anderson erzählt von den faszinierenden Verbindungen aus Kriegstrauma, Drogenexperiment und Bewusstseinserweiterung, Manipulation, Hypnose und Gehirnwäsche im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg – dem Kybernetik-Komplex, der Vorstellung, dass Menschen zu Automaten werden könnten, die in die Kalte-Kriegs-Paranoia der 50er Jahre überging, und die John Frankenheimer unnachahmlich in The Manchurian Candidate auf die Leinwand brachte. Aber ein Dokumentarfilm eignete sich für all dies besser.
Es geht um Manipulationstechniken, wie man sie von Sekten und Scharlatanen kennt:
»Sind die Reisen in die Vergangenheit in meinem Buch für sie beängstigend?«
»Beängstigend? Nein.«
»Was ängstigt sie bei dem Gedanken einer Reise in die Vergangenheit?«
»Ich hab keine Angst.«
»Haben sie vielleicht Angst, wir könnten entdecken, dass unsere Vergangenheit umgeformt wurde? Pervertiert. Und dass das, was wir über diese Welt zu wissen denken ausgemachter Humbug ist.«
(Dialogpassage aus dem Film)
Dieses fesselnde Ideennetz ist noch interessanter, als die historische Frage: Wieviel hat die Geschichte dieses egomanischen Menschenfängers und seiner Gruppe, denn nun wirklich mit der geheimnisvollen Scientology-Sekte und dem Leben ihres nicht weniger mysteriösen Gründers L. Ron Hubbard zu tun? Anderson nennt sie nie beim Namen. Aber die Ähnlichkeiten zu Scientology sind auch ohne konkrete Namensnennung frappierend in dieser Erzählung der Anfänge einer sektenartigen Religionsgemeinschaft im Amerika Anfang der 50er Jahre. Trotzdem ist dies überhaupt nicht das beworbene Enthüllungsstück über Scientology und L.Ron Hubbard. Auf ganz andere Art Ulrich Seidls Paradies: Glaube erzählt Anderson vielmehr von der Geburt religiösen Fanatismus aus dem Geist des Wahnsinns. Anderson ist kritischer, wertender, sein Film atmet Zorn und Pessimismus, der mitunter in Zynismus mündet. Ohne Frage: Unter den vielen Filmen der Gegenwart, die sich mit Facetten des Religiösen beschäftigen, und die sich zum Teil in ganz erstaunlicher Weise auf religiöse, auch auf streng orthodoxe Lebenswelten einlassen, ist The Master ein Außenseiter in der Eindeutigkeit seiner Religionskritik.
Politisch, sozialanalytisch oder gar sozialkritisch ist The Master aber keineswegs. Handwerklich in vielem hervorragend, ist The Master unterhaltsam, aber auch überlang, und mitunter langweilig. Zudem vollkommen geschlossen: Ein Film, der schon alles weiß, nichts mehr wissen will, und vor allem nicht überrascht werden möchte.
Andersons Film nimmt sich selbst viel zu ernst und zeigt sich hier als Idealtyp des selbstbesoffenen Regisseur-Alphatiers. Es ist schon klar, dass Anderson nicht viele Fehler macht. Aber dass gerade ist sein Problem. Dieser Film und sein Regisseur sind so obsessiv damit beschäftigt, alles richtig zu machen, dass sie stinklangweilig sind.
Erkennbar hat Anderson seinen Stil verändert: Schon There Will Be Blood fehlte Humor und Lässigkeit, wirkte wie das Werk eines Kontrollfreaks, ein ferner Monolith, der vom eigenen Perfektionsdrang bis zum Rande der Wichtigtuerei derart erfüllt ist, dass er mit seiner Umwelt kaum kommuniziert. Was Anderson von Bluffs und einigen Taschenspielertricks aber nicht abhält. So wird The Master auch darin seinem Sujet gerecht, dass dies ein Film bleibt, der den Zuschauer auf Distanz hält, der Respekt evoziert, aber keine Liebe oder Begeisterung.