Frankreich 2017 · 102 min. · FSK: ab 0 Regie: Rachid Hami Drehbuch: Guy Laurent, Valérie Zenatti, Rachid Hami Kamera: Jérôme Alméras Darsteller: Kad Merad, Samir Guesmi, Alfred Renély, Zakaria-Tayeb Lazab, Tatiana Rojo u.a. |
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Wie wichtig ist Gleichheit? |
Eine Schule und ein neuer Lehrer. Sein erster Schultag ist ein Desaster. Für uns im Publikum ist es aber ein Vergnügen, diesem Desaster zuzusehen, denn von Anfang an wissen wir: Es wird anders werden, es wird über Klippen und Umwege, über Rückschläge und Krisen eine Annäherung zwischen diesem Lehrer und seinen Schülern geben. La Mélodie – Der Klang von Paris ist so ein Film, dem man vertrauen kann, in dessen Hände man sich fallen lassen
kann.
Simon Daoud ist ein sensibler Musiker, der als Opfer der Wirtschaftskrise arbeitslos geworden ist, und wider Willen als Musiklehrer in einer Schule für sozialschwache Kindern anheuern muss. Diesen Kiddies aller Hautfarben und Herkünfte ist er anfangs kaum gewachsen, sie sind härter als er: Sie fluchen, pöbeln und schimpfen, sind in jeder Hinsicht nervtötend – zugleich aber bezaubernd: Alle hübsch, alle hellwach, allen steht ins Gesicht geschrieben, dass sie im Grunde
»gute Kinder« sind, ein bisschen zu gut. Trotzdem gibt ihnen die Gesellschaft zunächst keine Chance.
Auch Simon ist zunächst frustriert: Die Kinder können sich nicht konzentrieren, können auch nicht gehorchen. »Was soll das? Wozu? Damit sie dann Rimsky-Korsakoff im Knast spielen?« sagt er einem Freund in einem schwachen Moment.
Es ist eine besondere Schule. Denn die Kinder trainieren für ein Orchester und eine große Aufführung am Ende des Schuljahrs. Darin folgt dieser Film einem realen Vorbild in Frankreich: »Démos«, ein zugleich musikalisches wie soziales Schulprogramm in den Pariser Banlieues.
Der französische Regisseur Rachid Hami bereitet das Projekt fiktional auf. Hami ist selbst in den Banlieus aufgewachsen. Als Schauspieler hat er vor 15 Jahren mit einem Film begonnen, L’esquive von Abdellatif Kechiche, der unter arabisch-stämmigen Jugendlichen spielt, und im Prinzip eine recht ähnliche Geschichte erzählt: Dort ist ein Theaterstück, »Das Spiel von Liebe und Zufall« von Marivaux, die Kunst, die sozial Benachteiligte, gesellschaftlich chancenlose Kinder zu besseren Menschen macht.
Hier spielt man »Sheherazade« von Nikolai Rimski-Korsakov. Das Musikstück ist selbst eine musikalische Vermischung von Orient und Okzident, eine exotische Phantasie aus dem 19. Jahrhundert, in der Angst und Faszination zusammenfallen.
Anfangs sind die Proben ein ziemliches Musik-Desaster. Und auch Lehrer Simon bekommt ernsthafte Zweifel. Natürlich kommt es anders: Ausgerechnet der sensible Simon vermag es nach anfänglichen Schwierigkeiten, die Kinder
unvoreingenommen anzusehen und ihr verschüttetes Potential freizulegen. Denn die Musik weckt ungeahnte Kräfte.
So entpuppt sich La Mélodie – Der Klang von Paris unter der Hand als ein sehr gescheites Nachdenken über Erziehung, ihre Ziele und Methodik: Geht es um den Einzelnen oder um die Integration der Klassengemeinschaft? Soll man sich im Unterricht immer nach dem besten Schüler richten, oder soll man auch noch den schlechtesten mitziehen?
Wie wichtig ist Gleichheit? Ist die Kunst wichtiger, oder die Kinder?
Das sind Fragen, die uns alle täglich
angehen, und die weit mehr berühren, als nur den Musikunterricht.
Damit stellt sich der Film in eine lange Tradition: Die Klasse von Laurent Cantet, L’esquive von Abdellatif Kechiche und In ihrem Haus von Francois Ozon, aber auch L’avenir, in dem Isabelle Huppert als Philosophie-Lehrerin zu sehen ist – immer wieder werden die Bildungsanstalten im französischen Kino zum dramatischen Raum und zur Schmiede der Gesellschaft: Hier begegnen sich die verschiedensten Klassen und Milieus, hier werden Gegensätze stellvertretend ausgetragen. Dies geschieht auch in Rachid Hamis Langfilmdebüt La Mélodie – Der Klang von Paris. Der erzählt in Spielfilmform von dem realen Schulkonzertprojekt »Démos« bei dem Musik zum Mittel sozialer Integration wird. Die Hauptrolle des Lehrers Simon spielt Kad Merad, der als nordfranzösischer »Stii« in der Erfolgskomödie und als Dünkirchen-Machiavelli in »Baron Noir« bekannt gewordene französische Darsteller.
Der Begabteste der Kinder ist ein kleiner dicker, in sich gekehrter farbiger Junge. Arnold, dem man es am wenigsten zutraut. Im Gegensatz zu anderen muss man erst lernen, ihn zu mögen – dass es gelingt, ist das kleine Wunder dieses Films. Und dass Simon Arnold sofort »sieht«, dass er keine Vorurteile zeigt, ist seine große Stärke.
La Mélodie – Der Klang von Paris ist ein Feelgood-Film, aber einer, der nicht moralisiert, sondern zeigt. Er hebt sich überaus wohltuend ab von seichten Durchschnittsprodukten wie »Die Kinder des Monsieur Mathieu«, in dem es zudem nie um die Kinder, sondern ausschließlich um Monsieur Mathieu ging. Hami versucht in seinem Langfilmdebüt eher dezent zu erzählen, er deutet vieles nur an und vermeidet die Fallen der Sentimentalität.
Und doch ist
ihm ein Film gelungen, der berührt, und mit seiner humanistischen Botschaft sehr gut nicht nur in die Weihnachtszeit passt. Eine Symphonie der Vielfalt und Toleranz.