USA 2019 · 145 min. · FSK: ab 12 Regie: Edward Norton Drehbuch: Edward Norton Kamera: Dick Pope Darsteller: Edward Norton, Gugu Mbatha-Raw, Alec Baldwin, Bobby Cannavale, Willem Dafoe u.a. |
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Wie aus der Zeit gefallen (Bild: Warner Bros. Ent.) |
Unter den zahlreichen Misserfolgen, die das Studio Warner Bros. in diesem Herbst verzeichnen musste, überrascht das Scheitern von Motherless Brooklyn nicht wirklich. Edward Nortons Noir-Hommage wirkt wie aus der Zeit gefallen. Rund zwei Jahrzehnte arbeitete der zuletzt nur noch selten auf der Leinwand zu sehende Schauspieler an dem ambitionierten Werk, das keine Rücksicht auf Blockbuster-Sehgewohnheiten nimmt. Als Co-Produzent, Autor und Hauptdarsteller hielt er in seiner zweiten Regiearbeit nach Glauben ist alles! (2000) die Zügel in der Hand.
In Jonathan Lethems Romanvorlage, zugleich ein Porträt des urbanen Schauplatzes, stellt die Noir-Thematik nur einen von mehreren Aspekten dar. Norton verlegte den Stoff von der Gegenwart des Erscheinungsjahrs 1999 in die Fünfziger, die Blütezeit des düsteren Detektiv- und Gangsterkrimis. Als Ermittler mit starkem Handicap erweist sich der ehemalige Waisenjunge Lionel Essrog als idealer Protagonist. Ohnehin stehen unangenehme Fragen stellende Schnüffler, die an einem Geflecht aus Korruption und Klüngel rütteln, am Rande der Gesellschaft. Lionels Tourette-Syndrom, dessen Bezeichnung zu keinem Zeitpunkt fällt, lässt ihn in mehrfacher Hinsicht angreifbar erscheinen. Den schicken Hut seines Chefs Frank Minna (Bruce Willis) muss er sich als Objekt der Würde erst verdienen.
Doch zunächst trifft es Frank, der sich in unübersichtliche Gefilde begibt. Norton lässt Vorgeschichte und Beziehungen nur in kurzen Dialogen und Rückblenden einfließen. Für Lionels Verstörung steht ein so zurückhaltender wie allmählich verstörender Jazz-Score. Wie für ihn und seinen Kumpan Gilbert (Ethan Suplee) stürzen zunächst die Eindrücke auf den Zuschauer ein, der sich im Brooklyn des Jahres 1958 allmählich zurecht finden muss.
Wenn Mentor Frank Minna von zwielichtigen Gestalten in die Mangel und bei einem Fluchtversuch erschossen wird, verschwimmen die Bilder mitunter. Gemeinsam mit dem als „Freakshow“ verspotteten Einzelgänger muss man versuchen, die Bruchstücke als Puzzle zusammenzufügen und die zahlreichen Figuren in Beziehung zueinanderzusetzen.
Seine Kollegen von der Detektivagentur verhalten sich teilweise loyal, teilweise schlagen sie den gleichen Weg wie ihr Auftraggeber ein. Dass Lionel mit präzisem Gedächtnis, aber unkontrollierbarem Sprachvermögen ausgestattet ist, lässt ihn oft in Sackgassen rennen. Größen wie Wynton Marsalis unterstützen David Pembertons eruptive Arrangements und verstärken akustisch das Chaos im Kopf.
Über weite Strecken findet Kameramann Dick Pope realistische Bilder für Lionels Spießrutenlauf, der ihn mehrfach ramponiert in der Gosse landen lässt. Pope arbeitet den Kontrast zwischen den schäbigen, gewalttätigen Vierteln mit Misstrauen gegen alle Fremden und den Marmorpalästen der Upper Class heraus. Wenn der kleine Beschatter allerdings Drogen nimmt, um die Stimmen in seinem Kopf im Zaum zu halten, überlappen sich die Impressionen zu surrealen Gebilden. Dann scheint er im Meer seines Bewusstseinsstroms zu versinken.
Bei Motherless Brooklyn darf man keinen Whodunit erwarten. Norton enthüllt schon nach kurzen Zeit die Identität der Handlanger, die sich des Erpressers entledigten. Die Nachforschungen des Spürhunds kontrastiert er mit dem Machtgebaren des Bauspekulanten Moses Randolph (Alex Baldwin). Vielmehr drehen sich alle Fragen um das Warum und Wofür.
Norton packt vieles in die knapp 2 1/2-stündige Laufzeit, wobei er nach rasantem, mysteriösem Beginn ein eher gemächliches Tempo anschlägt: Korruption, Rassismus, politische Schachzüge, die Evolution des Bebop zum Free Jazz in Harlem, eine ungewöhnliche Liebesgeschichte und als vertrautes Noir-Sujet die Verfehlungen der Vergangenheit verschränken sich nicht immer vollends. Manche Figuren wie Franks untreue Gattin Julia (Leslie Mann), der im Roman eine größere Rolle zukommt, verschwinden bald aus der Handlung.
Je länger der verschlungene Plot voranschreitet, umso stärker treten Parallelen zu Roman Polanskis Chinatown hervor. Wo es dort um Wasser als lebenswichtiges Spekulationsobjekt geht, konzentriert sich Motherless Brooklyn auf Landgewinn als Geschäftsmittel der Zukunft. Die Geschlossenheit von Polanskis Klassiker erreicht Norton bei aller Perfektion und Verweisen auf Segregation oder Klassenkampf allerdings nicht. Doch wie Lionel Essrog sich trotz aller Widerstände im urbanen Dschungel seinen Weg bahnt, damit beweist Edward Norton, dass der Film Noir als ureigenes US-Genre nicht totzukriegen ist.