Kanada 2014 · 138 min. · FSK: ab 12 Regie: Xavier Dolan Drehbuch: Xavier Dolan Kamera: André Turpin Darsteller: Anne Dorval, Antoine-Olivier Pilon, Suzanne Clément, Alexandre Goyette, Patrick Huard u.a. |
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Nervenanspannende Mutter-Sohn-Beziehung |
Der Frankokanadier Xavier Dolan ist ein Phänomen. Die Tatsache, dass Dolan mit erst 25 Jahren bereits fünf Spielfilme gedreht hat imponiert. Aber noch weit mehr verblüffen die Originalität und die Kraft dieser Filmkunstwerke. Zuletzt entfesselte Dolan in Sag nicht, wer du bist! mitten auf dem Québecer Land eine emotionale Tour de Force von faszinierend-beklemmender Intenstät. Distanz und Nähe, Unterdrückung und Selbstermächtigung, gesellschaftliche Enge und individuelle Freiheit sind Themen, die diesem ungewöhnlichen Filmemacher ein persönliches Anliegen sind. Hierbei gilt Dolans besondere Sympathie gesellschaftlichen Außenseitern, die sich nicht in das enge Korsett gesellschaftlicher Regeln und Normen fügen mögen. Als einem bekennenden Homosexuellen ist dem Filmemacher die Ablehnung gesellschaftlicher Abweichler seit frühester Jugend vertraut. Die Ausgegrenzten sind oft seine Helden – und das konsequenter Weise ohne ein gängiges Bild von Heldenhaftigkeit verkörpern zu müssen.
Der fünfzehnjährige Steve (eindrucksvoll: Antoine Olivier Pilon) ist solch ein heimlicher Held. Seit dem Tod seines Vaters ist der äußerst vitale Junge ein Fall für die Pflegeanstalt. Hyperaktiv und aufmerksamkeitsschwach, hochemotional und manisch-depressiv, sehr impulsiv und zu eruptiven Gewaltausbrüchen neigend, wurde er soeben aus einem Heim für Schwererziehbare ausgewiesen. Seine Mutter Diane (Anne Dorval) nimmt ihren Sohn wieder bei sich auf. Es ist ihr letzter Versuch. Im Falle eines Scheiterns bliebe nur die Einweisung in eine geschlossene psychiatrische Anstalt. Doch trotz der ständigen täglichen Herausforderungen lässt sich das erneute Zusammenleben recht gut an. Dies liegt auch daran, dass sich mit der Nachbarin Kyla (Suzanne Clément) bald eine dritte Person diesem Mini-Bündnis gegen den Rest der Welt anschließt. Die einstige Lehrerin ist selbst traumatisiert, stottert stark und ist auf unbestimmte Zeit vom Unterricht beurlaubt. Kyla vernachlässigt Mann und Tochter, um sich ganz Diane und Steve zu widmen. Tatsächlich scheint Steve ernsthafte Fortschritte zu machen...
Sobald das erste Bild von Mommy auf der Leinwand erscheint, ist deutlich, dass sich auch dieser Film von Xavier Dolan durch eine starke Eingenwilligkeit auszeichnet, die manche Kinobesucher als maniriert empfinden werden. Das Bildformat ist nicht das zur Zeit fast zum neuen Standard gewordene Widescreen, sondern ein fast quadratisch wirkendes leichtes Hochformat. Dieser kleine Kunstgriff ist derart ungewohnt, dass er zuerst fast unangenehm gewollt wirkt. Dieser erste Eindruck macht jedoch bald einem Staunen über die große Kunstfertigkeit des Kameramanns André Turpin (Sag nicht, wer du bist!) Platz. Dieser versteht es in jeder Einstellung die Bildkomposition optimal auf das ungewohnte Format einzustellen und zugleich das Maximale aus dem doch sehr begrenzten Blickfeld herauszuholen. Aber auch diese Bewunderung weicht irgendwann einem Gefühl von entspannter Selbstverständlichkeit. Nun offenbart sich, dass dieses Format tatsächlich überraschend gut für die Schilderung der ebenso intimen, wie intensiven Dreiecksbeziehung geeignet ist. Auch verstärkt der enge Bildausschnitt das herrschende Gefühl innerer und gesellschaftlicher Eingeschränktheit.
Richtig bewusst wird einem diese starke unterschwellige Wirkung jedoch erst in den zwei kurzen Momenten im Film, in denen sich der Bildkader zum gewohnten Breitbildformat weitet. Diese Augenblicke markieren Szenen großer innerer Freiheit und Unbekümmertheit. Es ist wahrscheinlich für Xavier Dolan kennzeichnend, dass in Mommy der Ausnahmezustand der Normalzustand ist und umgekehrt: In dem als recht eng gezeigtem québecer Umfeld, gilt nicht nur Steve als ein Misfit. Auch seine hart am Rande zum White Trash stehende,aber stark um Integration in die gesellschaftliche Mittelschicht bemühte Mutter und die sprachgestörte Kyla stehen – gerade nach gängigen amerikanischen Werten – auf der Loser-Seite des Lebens. Dies wird in einer äußerst beklemmenden Sequenz überdeutlich, in der ein so skrupelloser, wie schmieriger Anwalt seinen Vorteil aus Dianes und Steves prekärer Lage zu ziehen vesucht.
Aber trotz der übergreifenden beklemmenden Stimmung ist Mommy zugleich ein Werk, das ein Gefühl ungebremmster Lebensfreude so direkt auf die Leinwand zaubert, wie lange schon kein Film mehr. Dass Diane Steve trotz seines extrem anstrengenden Wesens abgöttisch liebt und sogar bewundert, lässt sich nicht einfach auf eine völlig blinde Mutterliebe reduzieren. Steve strotzt nur so vor Energie und vor Charima. Ist er gut drauf, ist er so charmant und so unwiderstehlich, dass der Füfzehnjhrige sogar mit Kyla ernsthaft zu flirten vermag. In solch einer Stimmung schwingt Steve zu Cécile Dijon schwungvoll und völlig ungehemmt das Tanzbein oder schleudert schreiend auf einem Parkplatz einen Einkaufswagen im Kreis herum. – Kommt Steve jedoch einmal jemand krumm – und es ist fast unvermeidlich, dass man dies zumindest in seinen Augen tut – entwindert sich seinen Lippen ein nicht abreißen wollendes Stakkato an sich immer weiter steigernden Kraftausdrücken, das in seiner Art auch schon eindrucksvoll ist. Aber spätestens wenn Steve körperlich gewalttätig zu werden droht, verkriecht sich selbst seine »Mommy« möglichst schnell in die hinterste Kellerecke. Dann wird Steve für seine Mitmenschen tatsächlich zu genau der Gefahr, auf welche die Gesellschaft ihn allgemein reduziert.
Mommy zeichnet eine einmalige emotionale Wucht und eine vielleicht sogar noch stärkere Liebe zu seinen – nach klassischen Begriffen reichlich verkorksten – Protagonisten aus. Was das fünfundzwanzigjährige Regie-Genie Xavier Dolan hier auf die Leinwand bringt, ist nicht weniger, als der beste Film des Jahres 2014.