Großbritannien 2014 · 150 min. · FSK: ab 6 Regie: Mike Leigh Drehbuch: Mike Leigh Kamera: Dick Pope Darsteller: Timothy Spall, Paul Jesson, Marion Bailey, Dorothy Atkinson, Ruth Sheen u.a. |
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Wohlfühlkino für die Gebildeten |
Dottergelbes Licht, Nebel über grauem Themsewasser, brauner Himmel – William Turner war fraglos einer der ungewöhnlichsten, meisterlichsten Maler des 19. Jahrhunderts.
Die Rede vom Genie ist ein bisschen aus der Mode gekommen, vielleicht ist der Begriff aber für manche Phänomene durchaus angemessen, allemal wenn man Mike Leigh glaubt. Der britische Regisseur, vor allem bekannt durch quälend naturalistische, gern moralisierende politisch-überkorrekte
Sozialdramen und miserabilistische Traktate, die den Zuschauern die Hässlichkeit der Welt unter die gerümpfte Nase reiben, hat hier mit immerhin auch schon 71 Jahren, nun einen Gegenentwurf zu seinem Werk des letzten Vierteljahrhunderts vorgelegt: Eine Feier der Schönheit und des außergewöhnlichen Einzelnen, eines Visionärs, der weiter blickt, als seine Zeitgenossen. Und ein Historiendrama aus der Hochzeit der liberal-bürgerlichen Klassengesellschaft des 19.
Jahrhunderts: Die Kostüme wallen, die Kutschen holpern übers verschlammte Pflaster, die Bediensteten haben noch Manieren, und Sinn und Sinnlichkeit sind kein Gegensatz – so wie man es aus derlei Filmen eben kennt, und seinem nostalgischen Gemüt mitunter gern gönnt, erst recht, wenn es so gut gemacht ist, wie hier.
Mr. Turner ist ein klassisches »Bio-Pic«, das die letzten 25 Lebensjahre des Künstlers umfasst, aber kein Film über Malkunst in erster Linie, kein Lehrstück über Ästhetik und Innovation, sondern Anschmiege-Kino, das den Künstler »als Mensch« ins Zentrum stellt, also genau das, was eigentlich für die historische Bedeutung Turners so wichtig ist, wie die Tatsache, dass das Menschen-Monster Adolf Hitler gern Maccaroni aß und nett zu seiner Sekretärin war. Was Mike Leigh an Turner interessiert, ist denn auch vorhersehbare Mike-Leigh-Konventionalität: Der Dreck, die Hässlichkeit, der Unterschicht-Dialekt. Der recht grobe Sex mit dem Hausmädchen, die primitiven Avancen an die Gentry-Damen. Die Ausbeutung der Mitmenschen. Das Polternde, Grobe, Bohemienhafte. Der Affekt gegen Bürgertum und Oberschicht, gegen Gesellschaft, ist eine Leitlinie in allen Mike-Leigh-Filmen, und er versucht viel, um seinem Arthouse-Publikum, das Turner gern zu seinem »Lieblingsmaler« erklärt, die Lust an Turner auszutreiben – um doch genau dessen Werte und Kunstklischees – Genie, Exzentrizität – zu bestätigen.
Bitte nicht missverstehen: Der Film ist hervorragend, gerade weil Leigh in die selbstgegrabene Grube plumpst. Leigh mag Turner (dazu unten mehr), will aber nicht dessen bürgerliche Idolisierung bedienen. Um den Künstlermythos kommt er aber nicht herum. Und gerade Zuschauer, die Mike Leighs Filme eher nicht mögen (so wie ich), werden sich hier überraschenderweise vergnügen. Denn auch wenn sich Leigh für Turners Werk relativ wenig interessiert, – generell interessiert sich Leigh kaum für die Werke anderer Genies – kommt das von Leigh Verdrängte diesmal zurück.
Mr. Turner ist aber noch mehr als hervorragend unterhaltendes, süffiges Kostümkino. Es ist auch ein Künstlerdrama, das die spannende, noch nie für die Leinwand erzählte Geschichte des Malerei-Revolutionärs Turner präsentiert.
Anfangs war er ein Fremdkörper im viktorianischen London, allein schon mit seiner Malweise, seiner Neigung auf die frische Leinwand zu spucken oder Farbe aufs Bild zu pusten: Seine Kollegen verlachten ihn. Und die Banausen der Gesellschaft glaubten gar, Turners verschwommene, prä-impressionistische Malweise sei nur ein Indiz, dass der Mann bald sein Augenlicht verliere: Allein die Kritiker hielten zu ihm und erkannten hinter dem scheinbar unverständlichen, nichts mehr abbildenden Geschmiere einen neuen Realismus:
In solchen Szenen, in dem Porträt eines Künstlers, der sich gegen alle Widerstände behauptet und seine Visionen schließlich durchsetzt, entpuppt sich, warum ausgerechnet Mike Leigh diesen Film gedreht hat, der scheinbar so gar nicht zu ihm passt: Denn nicht allein hat Mr. Turner mit anderen Mike Leigh-Werken den Humanismus gemeinsam, seinen Glauben an Fortschritt und Vernunft und das Interesse für gesellschaftliche Außenseiter. Sondern in diesem Porträt eines Künstlers als eigensinniger Rebell, als nörgeliger Schweiger, als arroganter Spötter und Misanthrop steckt auch sehr viel von Mike Leigh selbst und seiner Sicht auf die Welt. Der Künstler als Kauz, aber eben auch als Genie – das ist ein verkapptes Selbstporträt. Leighs Hauptdarstellers Timothy Spall spielt die Rolle seines Lebens. Er ist durchaus unsympathisch, unangenehm, abstoßend. Er grunzt, ist hässlich – ob das eine große schauspielerische Leistung ist? Sie passt jedenfalls. Fast alle Figuren sind überzeichnet. Mit Hilfe seines Hauptdarstellers feiert Mike Leigh den Eigensinn aller Künstler, feiert auch den Durchbruch zu Anerkennung und Erfolg, – und er feiert das Malen mit Licht, eine neue Kunst, abgeschaut von den Effekten der zu Turners Zeiten frisch erfundenen Photographie, und eine Vorwegnahme der Lichtmalerei des Kinos.
So ist das Ergebnis ein kleiner Bilderrausch, im besten Sinne Wohlfühlkino für die Gebildeten unter seinen Verächtern.
»The Universe is chaotic, and you make us see it. You are clearly a man of great vision, Mr.Turner«
Der Filmemacher Mike Leigh zählt zu den wichtigsten Vertretern des New British Cinema und ist für sozialrealistische Werke wie Vera Drake (2004) bekannt. Jedoch hatte Leigh bereits 1999 mit dem zweifach oscarprämierten Topsy-Turvey, einem Film über das Komponistenduo Gilbert und Sullivan, bewiesen, dass er sich auch hervorragend auf Porträts historischer Persönlichkeiten versteht. Nach dem Ende des 19. Jahrhunderts spielenden Topsy-Turvey folgt mit Mr. Turner – Meister des Lichts jetzt eine Schilderung der letzten 25 Jahre im Leben des genialen britischen Malers, der 1851 gestorben ist. In diesem Film verbindet Leigh auf eindrucksvolle Weise sein Feingefühl für die Schilderung verschiedener sozialer Milieus mit der Darstellung eines Genies, dessen Persönlichkeit ebenso voller Licht und Schatten, wie dessen eindrucksvolle Gemälde war.
Die Bilder des späten Turner sind berühmt für ihre starke Annäherung an eine gegenstandslose Kunst und für ihre völlige Konzentration auf das Erfassen atmosphärischer Phänomene. Turner dramatische Darstellung von extremen Lichtkontrasten, Nebel und tosenden Naturgewalten macht den Briten zu einem frühen Wegbereiter des erst Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich entstehenden Impressionismus. Turner war ein ungewöhnlich radikaler Künstler, der seiner Zeit zuletzt hoffnungslos voraus war. Nur weil er bereits früh ein Mitglied der Royal Academy Of Arts wurde, war es Turner möglich, trotz des zunehmenden Unverständnisses des Publikums für seine Werke nicht zu verarmen. Diese Radikalität und Kompromisslosigkeit zeigt sich auch in seiner Person. Der aus einfachen Verhältnissen stammende Turner lebte bis zu dessen Tod mit seinem Barbiervater unter einem Dach und dachte überhaupt nicht daran sich an die gesellschaftlichen Umgangsformen der feinen Gesellschaft anzupassen.
Mike Leighs Stammdarsteller Timothy Spall spielt diesen Turner als einen groben, grunzenden und hustenden Kerl, der seine Bilder mit Spucke verfeinert und der seine Haushälterin bei Bedarf im Stehen von hinten nimmt. Turner erscheint als ein Mann, der sich ohne Rücksicht auf Verluste nimmt, was er will und dem jede Art von gesellschaftlichen Konventionen vollkommen egal sind. Mike Leigh liegt es denkbar fern Turner als eine quasimythische Kunst-Ikone zu idealisieren. Stattdessen holt er den Maler so weit auf die Erde zurück, dass Turner der Gosse ebenso nahezustehen scheint, wie der Welt der hohen adeligen Herren, auf deren Landsitzen er gerne seine Wochenenden verbringt. Überhaupt glänzt MR. TURNER durch Glanzlosigkeit und zeigt einen Mut zu Schmutz und Hässlichkeit, der in einem historischen Film ebenso ungewöhnlich ist, wie die Person Tuner es zu ihrer Zeit war. Statt eines Bilderbuchenglands erblicken wir oft schlicht abstoßend aussehende Menschen mit schwarzen Zähnen und extremen Hautausschlag.
Etwas Ähnliches hatte man zuletzt in Detlev Bucks Verfilmung von Die Vermessung der Welt (2012) gesehen. Allerdings hatte der norddeutsche Spaßvogel Buck die bereits sehr karikierte Darstellung in Daniel Kehlmanns Roman noch einmal so weit gesteigert, dass am Ende alles zu dumpfen Klamauk verflachte. Mike Leigh macht sich jedoch keineswegs über seine Charaktere lustig, sondern zeigt schlicht schonungslos, dass vieles nicht so schön war, wie man gerne denkt. Turner wird auch nicht nur als ein Ekel gezeigt, sondern als eine Persönlichkeit, die ebenso außergewöhnlich und vielschichtig, wie seine einzigartige Kunst war. So konnte der Grobian auch sehr herzlich und sehr feinfühlig sein. Obwohl er die Menschen in seiner Umgebung bevorzugt völlig für seine Zwecke einspannte, sorgte er sich liebevoll um seinen Vater (Paul Jesson) und bat diesen sich seiner Gesundheit zuliebe besser zu schonen, als sich kaputt zu arbeiten. Dass seine in ihn verliebte Haushälterin Hannah (Dorothy Atkinson), die nach dem Tod des Vaters zusätzlich dessen vormalige Aufgaben übernahm, durch das Mischen giftiger Farben einen fürchterlichen Hautausschlag bekam, war Turner hingegen nicht einmal einen Kommentar wert.
Neben dieser sehr nuancierten Charakterzeichnung besticht Mike Leighs Mr. Turner dadurch, dass der Film den Geist Tuners selbst atmet. Der Film ist in einen leichten Sepiaton getaucht, der mit Turners Gemälden korrespondiert. Auch werden einzelne Gemälde im Film nachgestellt, jedoch nie so aufdringlich, dass ein Bild einfach eins zu eins in das neue Medium überführt wird. Aber noch wichtiger als diese formalen Bezüge ist, dass der Film sich auch strukturell an Turner Gemälden orientiert, dessen impressionistische Sicht- und Darstellungsweise übernimmt. Anstatt wie in vielen anderen Biopics einfach die markantesten Stationen im Leben des Protagonisten abzuhaken, setzt Leighs Erzählung scheinbar fast willkürlich ein und interessiert sich weit mehr für das Erfassen verschiedener Stimmungen, als für das Konstruieren einer scheinbar schlüssigen Narration. So werden viele wichtige Zeitgenossen und Weggefährten Turners gar nicht gesondert eingeführt, sondern erscheinen und verschwinden einfach auf der Bildfläche.
Ein entsprechendes Vorwissen wird einfach vorausgesetzt bzw. ist Leigh ein solches relativ egal. Dadurch, dass der Filmemacher vollkommen darauf verzichtet das Geschehen zeitlich oder kontextuell einzuordnen, ist man als Zuschauer umso mehr bei den Figuren selbst. Was dabei hervortritt, ist das pralle Leben in all seinen unterschiedlichen Facetten. Und mittendrin erscheint Turner als ein knorriges Original, ein Ekel, ein sensibler Feingeist und ein spitzbübischer Lebemann. Mr. Turner ist große Filmkunst.