Mulholland Drive

USA/F 2001 · 146 min. · FSK: ab 16
Regie: David Lynch
Drehbuch:
Kamera: Peter Deming
Darsteller: Naomi Watts, Laura Elena Harring, Justin Theroux, Robert Forster, Dan Hedaya u.a.
Rita findet ihren Namen

»Just like in the movies«

Lynchs Mulhol­land Drive feiert das Kino

Zwei Frauen, blond die eine, und dunkel­haarig die andere, beide so schön und so undurch­schaubar wie die Nacht von Los Angeles. Wir sehen sie gleich am Anfang, die Blonde nur kurz im Trüben, im Schein­wer­fer­licht, während eine Jitterbug-Melodie zu hören ist, man tanzende Paare vor zwei­di­men­sio­nalem Violett-Hinter­grund zuschauen kann. Viel­leicht nur der Vorspann, aber bei David Lynch ist nichts völlig bezie­hungslos gegenüber dem Rest, im Gegenteil, und auch diesmal gibt der Regisseur uns später eine zweite Möglich­keit, um alles zu verstehen.

Der zweite Anfang des Films ist von einem anderen Ton geprägt: Eine Autofahrt in die Nacht, hinab auf dem verschlun­genen kurven­rei­chen Mulhol­land Drive oberhalb von L.A.. Eine Dunkel­haa­rige sitzt im Fond der Limousine, von fern erinnert sie an Ava Gardner, Gene Tierney oder andere femmes fatales aus den 40ern. Auch die Bilder beschwören die Atmo­s­phäre des Film Noir, und im Hinter­grund klingt die geheim­nis­volle Musik von Angelo Bada­l­a­menti, dessen »Twin Peaks«-Sound­track ähnelnd.

Plötzlich stoppt der Wagen. »Was tun sie?« braucht die Frau gar nicht mehr zu fragen, denn man spürt schon die Bedrohung, ahnt, dass es sie hier sterben soll. Doch gleich noch eine Wendung: Ein zufäl­liger Unfall rettet ihr das Leben, ohne Gedächtnis stolpert sie orien­tie­rungslos durch die Straßen – wieder eine jener typischen versehrten Lynch-Frauen – und findet schließ­lich Zuflucht in einer leer­ste­henden Wohnung...

Mit hohem Tempo geht es weiter: in einem Stakkato von zunächst zusam­men­hang­losen Szenen reiht Lynch ein Tableau verschie­denster Figuren auf: Ein Poli­zei­de­tektiv, der an der Unfall­szene des Anfangs ermittelt, ein Killer, dem sein Handwerk auf groteske Weise außer Kontrolle gerät, als er in der Absicht einen Mord zu vertu­schen, noch zwei weitere Personen tötet, einen jungen Mann, der mit seinem Thera­peuten in einem Coffee-Shop sitzt, und von einem schreck­li­chen Alptraum erzählt. Man sieht auch einen bis zur Arroganz selbst­be­wußten, erfolg­rei­chen Jung­re­gis­seur, dem sein neuer Film von myste­riösen Geld­ge­bern zunächst aus der Hand genommen wird, als er sich weigert, die Haupt­rolle nach deren Maßgabe zu besetzen. Dann entdeckt er seine Frau mit einem anderen im Bett, die Kredit­karten sind gesperrt, sein ganzes Leben scheint aus den Fugen. Und schließ­lich lässt er sich zwingen, und gibt der Forderung seiner Geldgeber nach. Wenn er gehorche, werde alles wieder normal sein, hat man ihm gesagt. Alle diese zeitweise bis zu sechs verschie­denen Erzähl­stränge, die sich allmäh­lich zu einer Haupt­ge­schichte zusam­men­fügen, die dann aber zusehends wieder verwirrt wird, sind überdies mit bekannten und neuen Versatz­stü­cken aus dem Lynch-Kosmos bevölkert: bedroh­liche Mafiosi, geheim­nis­volle alte Männer mit kräch­zenden Stimmen in Zwer­gen­ge­stalt, Monster, Sänge­rinnen, rote Vorhänge und einem myste­riösen kleinen »Cowboy« mit masken­haftem, alter­losem, Babyface, eine Gestalt-gewordene mit »Howdy!« grüßende Drohung.

Der wich­tigste Erzähl­strang handelt von einer jungen blonden Frau. Voller Opti­mismus und ein bisschen naiv kommt diese Betty in Los Angeles an, träumt vom Hollywood-Ruhm und entdeckt wie Alice im Wunder­land staunend diese neue Welt. Sie wohnt bei ihrer Tante, in jenem Haus, in das die Dunkle vom Anfang sich geflüchtet hat. Die beiden Frauen freunden sich an, verlieben sich inein­ander, während die Blonde, voller Taten­drang und mit der keck-subver­siven Neugier einer Hitchcock-Heldin, der Anderen hilft, ihre verlo­ren­ge­gan­gene Identität wieder­zu­finden. Einst­weilen nennt die Dunkle sich Rita, weil sie im Flur ein Plakat gesehen hat, das Rita Hayworth zeigt, als Gilda.

David Lynch hat das Wort vom Kino als Traum­fa­brik schon immer ganz ernst genommen, so ernst, dass sich alle seine Filme als reine Träume lesen lassen, in ihrem Pathos und ihrem Kitsch, ihrem Schrecken und ihrer auf merk­wür­dige Weise realen Verun­si­che­rung unserer alltäg­li­chen Annahme einer »Realität«. Man kann gar nicht irren mit diesem Urteil, denn es ist zugleich auch immer eine Ausrede, wenn man sich bei Lynchs Filmen auf die Logik des Traums und des Surrealen beruft, ein Einge­ständnis der Unmög­lich­keit, ihre Bilder zu einer ganz klar auflös­baren, im streng ratio­nalen Sinne linearen Handlung zusam­men­zu­denken, sie zu erklären.
Auch wer in Mulhol­land Drive nach einer schlüssig »vernünf­tigen« Inter­pre­ta­tion sucht, wird ihn sich am besten als einen Traum erklären können, in diesem Fall als die Rache­phan­tasie einer provin­zi­ellen und erfolg­losen, überdies lesbi­schen Schau­spie­lerin. Denn der Film, der in der ersten Drei­vier­tel­stunde vor allem struk­tu­riert ist durch Luft­bilder von L.A., durch Straßen­schilder und das immer­wie­der­keh­rende, wie ein Fanal einge­setzte meterhohe »Hollywood«-Schild, handelt von nichts deut­li­cher als von der Neuen Mytho­logie, die im letzten Jahr­hun­dert von der Film­in­dus­trie Holly­woods ausge­sponnen wurde – »Just like in the movies«, sagt Betty. Folgt man der knappen Synopsis, die Lynch selbst im Pres­se­heft präsen­tiert – »Part one: She found herself inside the perfect mystery. Part two: A sad illusion. Part three: Love« –, zeigt er dies dabei in drei Teile unter­teilt, die dem Gesetz der Desil­lu­sio­nie­rung folgen, das auch das des Erwachens ist. Am Ende, könnte man sagen, haben sich Zuschauer und Haupt­figur durch­ge­ar­beitet durch die Schichten ihrer Tagträume hin zur häss­li­chen Realität, in der freilich Lug und Trug nur die Gestalt gewech­selt haben. Dabei ist Mulhol­land Drive gewiß kein Plädoyer für die Liebe zu irgend­einer Wahrheit, für die Aufgabe von Träumen. Geschlos­sen­heit ist nicht Lynchs Ziel. Vielmehr wird ausdif­fe­ren­ziert, immer weiter unter­schieden, bis es sich auf einmal um mindes­tens vier Frauen handelt, und die Iden­ti­täten wechseln so schnell wie die Realitäts­ebenen, bis nichts mehr übrig­bleibt, und auf merk­wür­dige Weise doch alles stimmt.

Läßt man sich einmal auf die Vermutung ein, dass dies in erster Linie ein Film über den Raum Hollywood ist, freilich ein Horror-Thriller, über seine Illu­sionen und seine anhal­tende Faszi­na­tion, seinen Glamour und seine Arche­typen – die Blonde, die Dunkle, die Reine, die Femme Fatale, den Regisseur, den Cowboy, den Detektiv, den Analy­tiker, Western, Film Noir und das Melodram – dann kann man Mulhol­land Drive auch verstehen als eine gothic novel über das 20.Jahr­hun­dert Amerikas, in dem Mythen und Ängste sich über­kreuzen. Lynch versagt dieser Kultur ihre Traum­deu­tung. Anstelle schlüs­siger Erklä­rungen, die ähnlich ins Leere führen, wie die Schlüssel zu dem blauen Würfel, der hier einmal aufge­schlossen wird, ist sein Horror­trip essay­is­tisch: Refle­xionen ohne Ender­gebnis, die Entfal­tung dessen, was in bestimmten Situa­tionen und Personal wohnt, dabei voller Verweise auf Pop- und Film­kultur der letzten 60 Jahre. Damit ist dies natürlich selbst eine Reise ins Unter­be­wußt­sein, auf der jeder vor allem das findet, was er schon mitge­bracht hat, in der Anfang und Ende, wie im Möbi­us­band des Lost Highway, zusam­men­fallen.

Nicht übersehen sollte man bei aller Gedan­ken­ar­beit, zu der er zwingt, dass es sich um einen höchst vergnüg­li­chen, hand­werk­lich perfekten, großar­tigen Film handelt – mit diesem radikalen hypto­ti­schen Traum­spiel gelingt dem Regisseur vieler Hinsicht sein bester Film überhaupt. Man kann nicht aufhören, ihn anzusehen. Nicht alles ist neu, aber so gut war es bei diesem Regisseur noch nie. Mulhol­land Drive spielt mit Kame­ra­ein­stel­lungen, Schau­spie­ler­insze­nie­rungen, Genre­ver­weisen und Musik verschie­dener Epochen; der Film strotzt vor Einfällen und wunder­baren kleinen Szenen, die für sich selbst stehen. Eine Feier des Kinos.
Auch dies hat, wie alles seine zwei Seiten. Die Frage ist aber nicht, welche real ist, sondern wie beide zusam­men­gehören.