Großbritannien 2021 · 130 min. · FSK: ab 12 Regie: Christian Schwochow Drehbuch: Ben Power Kamera: Frank Lamm Darsteller: Jeremy Irons, George MacKay, Jannis Niewöhner, Robert Bathurst, Jessica Brown Findlay u.a. |
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Das Publikum als Augenzeuge eines weltgeschichtlichen Augenblicks | ||
(Foto: Netflix) |
»Es war absurd. In den nächsten Sekunden würde er verhaftet werden – trotzdem war er nicht fähig zu handeln. Und wenn schon eher nicht handeln konnte, wer dann? In der Sekunde, einem Augenblick der Klarheit, er kann der ja, dass niemand, nicht er, nicht das her, nicht ein einzelner Attentäter, dass kein Deutscher ihr gemeinsames Schicksal aufhalten konnte, bevor es sich erfüllt hatte.«
- Robert Harris in »Munich« über Paul von Hartmann»Man kann sich heute den Geisteszustand nicht einmal vorstellen, der solches Handeln bewirken konnte.«
- Winston Churchill rückblickend über Chamberlains Politik im Jahr 1938
»München 1938« – wofür steht das? Für naive oder gefährliche Beschwichtigungspolitik, »Appeasement«. Also für genau das, was gerade die neuerwachten, frische Morgenluft witternden Atlantiker der Bundesregierung, insbesondere den Sozialdemokraten vorwerfen.
Nun dieser Film über eben »München 1938«. Eine Ehrenrettung für den Oberappeaser, den britischen Premier Neville Chamberlain.
Wie man es auch wendet: München – Im Angesicht des
Krieges ist zwar ein konventioneller Historienschinken, aber der Tag und die Stunde machen es zu zeitgenössischem Stoff.
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Ein Deutscher benimmt sich daneben. »I want to feel something real!!!« schreit er in die Nacht hinaus. Betrunken sind die anderen auch, aber sie wissen sich zu benehmen. Der Deutsche dagegen macht aus seinen fehlenden Manieren und seinem Suff die Tugend der Ehrlichkeit: Nur frei heraus, wie’s der Deutschen Art ist. Ich bin sicher, Adam von Trott zu Solz, der das Vorbild für diese Figur ist, Diplomat wurde und später zum Widerstandskämpfer gegen die Nazis, und noch später, am 20. August 1944 von ihnen hingerichtet, dieser anglophile Aristokrat war nicht so.
Die Filmfigur, die Paul von Hartmann heißt, markiert von Anfang an den harten Mann, sabbelt etwas über seine Verzweiflung über diese Generation, und urteilt über seine Gastgeber: Was er in Oxford gelernt habe sei das Hauptmerkmal der Engländer: Ihre Distanz zu Gefühlen. Die Deutschen dagegen: »We are nothing but feelings!«
Es ist das klassische, sattsam bekannte Klischee der Deutschen von den Briten. Und ein charakteristischer Unterschied zum Roman, der dem Film zugrunde liegt. Dort fällt die Bemerkung auch, aber mit anderer Stoßrichtung: Im Buch bemerkt von Hartmann, ihm fehle »das eine großartige Charaktermerkmal der Engländer, nämlich die Distanz nicht nur untereinander, sondern auch gegenüber aller Erfahrung – ich glaube, das ist das Geheimnis der englischen Lebensart.«
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All das wäre gar nicht nötig gewesen. Denn es hat mit all dem, was folgt, nichts zu tun. Diese Rückblende in die frühen 1930er Jahre ist nur das, was man in manchen Kreisen für »einen guten Einstieg« hält, und hat für den Film die Funktion, die Freundschaft zwischen den zwei Hauptfiguren, den ehemaligen Studienfreunden Hugh Legat (George MacKay) und Paul von Hartmann (Jannis Niewöhner), einem britischen und einem deutschen Diplomaten, zu etablieren.
Zugleich darf sie das Publikum
ein bisserl irreführen: Denn die Kostüme könnten auch aus den 20er Jahren stammen, die Leute sind nicht nur fröhlich, sondern ausgelassen, trinken Champagner und rauchen. Das soll »Jugend« symbolisieren, Aufbruch und Zukunft; weckt aber auch den Eindruck: Da hat irgendwer ein bisschen zu viel Babylon Berlin geguckt, und The Great Gatsby obendrauf...
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Der Netflix-Film München – Im Angesicht des Krieges ist ein historischer Politthriller, ein Film über Krisendiplomatie, der, in einer vergangenen Epoche angesiedelt, dieser durchaus gegenwärtige Seiten abgewinnt und zugleich einige nicht ganz neue, aber nach wie vor fesselnde revisionistische Thesen entwickelt. Letzteres gilt allerdings noch mehr für die zugrundeliegende Buchvorlage, den gleichnamigen Roman des Briten Robert Harris. Schon kurz nach dessen Erscheinen 2017 war von deutschen Produktionsfirmen die Rede, die sich die Verfilmungsrechte gesichert hatten. Lange Zeit war offenbar eine Mini-Serie geplant – was man sich angesichts des Stoffs auch viel besser vorstellen kann. Dem hätten mehr Ruhe, kleine Abschweifungen und Zeitkolorit gutgetan, zugleich hätte dann die Vorlage an einigen Stellen ausgeschmückt und erweitert werden müssen – am Ende entschied man sich für einen einzigen Spielfilm, eine deutsch-britische Co-Produktion, bei der Harris als Produzent mit an Bord ist und die sich weitgehend – wenn auch mit einigen markanten Änderungen – an der Vorlage orientiert.
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Nach der Eröffnungsszene springt der Film in den September 1938: Mitten in London werden Splittergräben ausgehoben, Denkmäler und wertvolle Gebäude mit Sandsäcken geschützt – ein Stück Realgeschichte, das in Deutschland, wo sich auch die Geschichtsschreibung meist auf die innenpolitischen Entwicklungen der NS-Diktatur konzentriert, und vielleicht noch auf die Vorbereitung des Weltkriegs, oft vergessen wird: Die zweite Hälfte der Dreißiger Jahre waren für ganz Europa eine Zeit ununterbrochenen Schreckens und Kriegsangst, geprägt von fortwährenden Regelverletzungen der deutschen Außenpolitik. Dazu kamen die deutsche Aufrüstung und die neokolonialen Abenteuer des faschistischen Italien, sowie, vor allem anderen, das unermessliche Grauen des Spanischen Bürgerkriegs.
Kriegsdrohung war am politischen Horizont ständig präsent, dem Ziel der Friedenserhaltung galten die diplomatischen Bemühungen der Demokratien Frankreich und Großbritannien. Aber der moralische wie politische Preis wurde immer höher. Bis heute streiten die Historiker über die Bewertung vor allem der damaligen britischen Politik, und über die genauen Absichten des britischen Premierministers Neville Chamberlain, der hier von Jeremy Irons glänzend verkörpert wird. Vielen gilt Chamberlain bis heute als der Inbegriff eines feigen Beschwichtigers, als Narr, bestenfalls großer Naiver im Umgang mit den Diktatoren. Das entspricht der Bewertung auch der Zeitgenossen seit Kriegsausbruch 1939. Zuvor aber wurde seine Außenpolitik selbst von der Labour-Opposition unterstützt.
Trotzdem ist das Bild Neville Chamberlains im Rückblick milder und vor allem differenzierter. Zum einen arbeiten manche Historiker heraus, dass der Premierminister sich über die Person Hitlers und das Wesen des NS-Regimes keinerlei Illusionen machte und keineswegs eine naive Sicht auf die außenpolitische Lage hatte. Seine Appeasement-Politik wird stärker unter dem Gesichtspunkt des Aufschubs beurteilt. Das Jahr nach München vor dem 1. September 1939 war gekaufte Zeit, die in Großbritannien vor allem zur Vorbereitung auf den kommenden Krieg genutzt wurde, zugleich verbunden mit der Hoffnung auf eine stetige Verschlechterung der deutschen Wirtschaftslage. Die Briten wussten, dass die deutsche Aufrüstung vor allem auf Pump finanziert war.
Zum Zweiten sei die öffentliche Meinung und die britische Öffentlichkeit im September 1938 nicht bereit für einen Weltkrieg gewesen. Es wäre schwer gewesen, so wird argumentiert, in der britischen Öffentlichkeit eine Unterstützung dagegen zu finden, dass das Deutsche Reich Gebiete annektierte, in denen mehrheitlich deutschstämmige Menschen lebten. Dazu sollte man wissen, dass die britische Regierung seinerzeit sogar mit dem Gedanken spielte, den Deutschen einen Teil der nach dem Ersten Weltkrieg und dem Versailler Vertrag verlorenen ehemaligen Kolonien wiederzugeben, gewissermaßen als Ersatz für unangemessene Gebietsansprüche in Europa.
Schließlich stellt sich die Frage nach den realpolitischen Alternativen: Es gab kaum welche. Sterben fürs Sudentenland? Also wirklich nicht!
München war, so wird argumentiert, daher keine moralische Niederlage der Westmächte, sondern eine politische Niederlage Hitlers. Er wurde mit kühl geplanten diplomatischen Tricks dazu gezwungen, den schon fest einkalkulierten Angriffskrieg auf die Tschechoslowakei zu unterlassen.
Bei alldem dürfen wir auch an aktuelle Krisen denken.
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Derlei historisches Hintergrundwissen ist für diesen Film von großem Nutzen, der manches voraussetzt, auf vieles anspielt, aber nur weniges wirklich erklärt. Stattdessen wird das historische Material holzschnittartig zugespitzt, notgedrungen wahrscheinlich, aber doch ein bisschen unterkomplex angesichts der Tatsache, dass viele Personen und Fakten historisch sind, und auch fiktive Charaktere nach historischen Vorbildern gezeichnet.
Natürlich ist dies kein
Dokumentarfilm, noch nicht einmal ein Dokudrama. Aber jeder Film, der vor einen realen Hintergrund und in historische Kulissen gesetzt ist, noch dazu, wenn es um derart bedeutende und im kollektiven Gedächtnis zumindest rudimentär präsente Ereignisse geht wie das »Münchner Abkommen«, wird sich dem Abgleich mit der Realgeschichte stellen müssen.
Es ist die seltene Begabung von Robert Harris, Geschichtsschreibung mit Unterhaltungsliteratur zu verbinden – Harris' in schneller Folge erscheinende Romane (18 Bücher seit 1992) sind exzellent recherchiert, zu den Fakten treten rein fiktive Charaktere als Hauptfiguren. Dass historische Charaktere im Zentrum stehen, ist dagegen eher die Ausnahme. Seit jeher sind Harris' Romane sehr filmaffin: Schon sein Erstling Fatherland wurde verfilmt, Enigma zum ersten Welterfolg, es folgten Archangel, Der Ghostwriter und Intrige, dazu kommen weitere (noch) nicht realisierte Projekte, wie Roman Polanskis Wunsch, »Pompeji« zu verfilmen. Harris' Helden sind klassische Figuren: Meist Individualisten, die ihrem Gewissen folgen. Das gilt auch für Hugh Legat und Paul von Hartmann in dieser Geschichte. Von Hartmann sympathisiert mit dem konservativen Widerstand gegen den NS-Staat. Die eigentliche Hauptfigur ist der Brite Legat, aus dessen Perspektive fast alles erzählt ist. Seit kurzem arbeitet er im Büro des Premierministers als einer von dessen Sekretären.
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Auf das vor allem unterhaltsame Ausmalen des Historischen setzt auch Regisseur Christian Schwochow in seiner Verfilmung von Robert Harris' Roman »München« über das Münchner Abkommen von 1938. Bereits Harris verstand es, die überaus komplexen und kleinteiligen Ereignisse rund um das Münchner Abkommen ebenso wie die diplomatischen Überlegungen und Alternativen zu einem dichten Ganzen zu bündeln. Schwochow und sein Drehbuchautor David Power, der bisher mit der Serie »The Hollow
Crown« bekannt wurde, einer Umsetzung von Shakespeares Königsdramen ins Serienformat, und der hier erstmals ein Spielfilmdrehbuch schrieb, verknappen Harris' Vorlage noch weiter zu einer Erzählung aus einem Guss, die zunehmende Dramatik und Spannung entfaltet. Was durchaus erstaunlich ist – denn genaugenommen passiert gar nicht so viel, außer dass fortwährend Männer mit Aktenmappen oder im Jackett versteckten Geheimdokumenten von einem Zimmer ins nächste eilen. Und der
Ausgang des Münchner Abkommens ist allgemein bekannt. Ebenso die Tatsache, dass 1938 auf Hitler kein erfolgreiches Attentat verübt wurde.
Die Spannung liegt damit paradoxerweise in dem, was nicht geschieht; darin, dass man zum einen verstehen möchte, warum bestimmte, in der Handlung angelegte Dinge nicht passieren, und wie dafür das passiert ist, was in den Geschichtsbüchern steht. Im Roman nehmen innere Monologe der beiden Hauptfiguren breiten Raum ein und erklären auch vieles.
Hier ist dies zum Teil in Dialoge verwandelt, oft aber auch weggelassen, was dem Film manchen Reiz nimmt.
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Zudem leidet schon der Roman darunter, dass die Optionen und Ziele der beiden Hauptfiguren nie klar auf dem Tisch liegen: Worum geht es ihnen wirklich? Um ein Attentat auf Hitler? Darum, den unmittelbar drohenden Krieg zu verhindern? Oder eher darum, den Briten ein geheimes Schriftstück aus Hitlers Planungsstab – es handelt sich um das Hoßbach-Protokoll – zu übermitteln, um dadurch den britischen und französischen Politikern die wahre Natur Hitlers vor Augen zu
führen? Alle drei Möglichkeiten schließen die jeweils beiden anderen aus.
Die Zuschauer sind dafür mittendrin in der Münchner Konferenz. Und doch zugleich wie meist auch die Protagonisten nur Beobachter der »großen Geschichte«, denn viele bekannte historische Figuren, etwa Mussolini und Daladier, der Reichsaußenminister von Ribbentrop ebenso wie Göring und Himmler, treten kurz auf, bleiben aber schemenhaft. Die Ausnahmen sind Chamberlain und Hitler. Letzterer sollte
zunächst von Martin Wuttke gespielt werden, der den deutschen Diktator bereits in Quentin Tarantinos Inglourious Basterds verkörperte. Als Wuttke wieder absprang, übernahm Ulrich Matthes kurzfristig die Rolle. Das Ergebnis ist ein seltsamer, beinahe bizarrer Auftritt: Weil körperliche Ähnlichkeit kaum vorhanden ist, dominiert die ohnehin schon schreckliche – womöglich auch als
distanzierende Unterstützung dienende – Maske in diesem Fall stärker denn je und spitzt die Künstlichkeit und das Groteske, das schon dem historischen Hitler aus heutiger Sicht eigen war, aber auch bereits von manchen Zeitgenossen so wahrgenommen wurde, ins Lächerliche einer Schießbudenfigur zu. Wo man nicht ohnehin dem Schauspieler bei der konzentrierten Arbeit zusieht, fällt es einem schwer, diesen entnervenden »Hitler« ernstzunehmen. Überzeugend ist das
nicht.
Angreifbar ist darüber hinaus zumindest ein Aspekt dieser Hitler-Darstellung, den Regisseur und Drehbuchautor zu verantworten haben: Einige der wenigen Änderungen des Films gegenüber Harris' Romanvorlage betreffen nämlich zwei Vier-Augen-Treffen von Hartmanns mit Hitler. »Ich kann Menschen lesen« erklärt der Diktator von Hartmann mehrfach und scheint tatsächlich zu spüren, dass er mit seinem potentiellen Mörder im Raum ist: »Ihre Augen sagen Ja. Aber ihr Inneres sagt Nein.« Und
weiter: »Es gibt hier nur Sie und mich. Was denken Sie?« Diese kurzen Dialoge mit Hitler hat der Film hinzuerfunden. Man möchte schon wissen, warum ausgerechnet diese Änderung den Machern so sehr am Herzen lag. Hier wird Hitler einmal mehr eine dämonische Größe zugesprochen, eine Fähigkeit, durch die Charaktermaske hindurch ins Innerste des Menschen zu blicken. Einmal mehr strickt damit ein deutscher Regisseur die Hitler-Mythologie weiter, nach der der NS-Führer eine Art »sechsten
Sinn« und eine »magische«, die Umgebung lähmende Kraft gehabt habe.
Das deutsche Schicksal muss sich erst erfüllen, wie Harris' Held glaubt (s.o.), und Hitler ist dessen Instrument.
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Jeremy Irons gibt seinem Chamberlain viel Würde und Verstand, vom naiven Appeaser bleibt hier nichts übrig. Eher entsteht hier ein neues Bild, das wie im Roman, aber visuell noch viel stärker, auf eine Ehrenrettung für den Premier hinausläuft: Nach diesem war Chamberlain ein kluger, bescheidener, sich der Natur seines kriegslüsternen Gegenübers Hitler sehr bewusster Politiker, der seinem Land ein ganzes Jahr Schonfrist heraushandelte – Zeit um die Verteidigung der Freiheit vorzubereiten. München war ein letzter Versuch gewesen, den Frieden zu erhalten, und es hatte gezeigt, dass man Hitler nicht trauen konnte.
Die Schlüsselszene dazu ist auch hier das Auftauchen von Hartmanns: »Adolf Hitler is a monster. A madman«, herrscht er den Premier an.
Der reagiert mit einer Lektion in Realpolitik:
»I admire your courage, young man, but I have to give you a lesson in political reality: The people of Great Britain will never take out arms over a local border dispute.
For what Hitler may do or will do in the future, we shall have to wait and see. My sole objective here is to advert war in the immediate term, so I can begin to build a lasting peace.«
Es ist verführerisch, Chamberlain einmal mit ganz anderen Augen zu betrachten. Und doch ist dies schon fast zu viel der Ehre für einen Mann, der ohne Frage eine differenzierte Darstellung verdient hat, und über den Robert Harris, auf den man auch bei der Betrachtung dieses Films immer wieder zurückkommt, bereits 1988 eine BBC-Dokumentation drehte (God bless you Mr.
Chamberlain).
Womöglich sind bei München – Im Angesicht des Krieges aber die Grenzen solch fikiver, historischer Spekulation erreicht.
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Vor dem Hintergrund aktueller Krisen und der geopolitischen Konstellation unserer Zeit sind die politischen Pointen von München aber so faszinierend wie herausfordernd: Denn auch heute wird das Suchen nach Kompromissen, das geringste Entgegenkommen gegenüber nicht-demokratischen Herrschern und schon die reine Verhandlungsbereitschaft von den Schreibtischgenerälen der Kommentarspalten gern als »Appeasement« abgetan, als verachtenswerte Dekadenz »schwächlicher«
Demokraten – der Hinweis auf die 30er Jahre und vermeintliche »Lehren« der Geschichte fehlt hier selten.
München – Im Angesicht des Krieges zeigt schlüssig, dass die Dinge komplizierter liegen. Der Film dreht das Argument des »Realismus« um. Dieser liege gerade im Herausschlagen von Zeit und der Arbeit am diplomatischen Kompromiss. Einen Weltkrieg sei ein »lokaler Grenzkonflikt« nicht wert.
Aktuelle Schlüsse lassen sich hier nicht vermeiden, auch wenn der Roman vor fünf Jahren geschrieben und der Film vor zwei Jahren konzipiert wurde:
Bis heute werden »München« und »Appeasement« immer wieder als Schimpfwort benutzt, wenn Kritiker meinen, dass Politiker zu gutgläubig oder zu nachgiebig sind. Und in deutschen Zeitungen findet man gerade derzeit wieder hysterische und gelegentlich hetzerische Kommentare, in denen das »Appeasement«-Wort nie fehlen darf. Deutschland
sei »das trojanische Pferd Putins«, heißt es. Und Schlimmeres. Oder man vergleicht die jetzigen amerikanisch-russischen Gespräche mit der Münchner Konferenz. Es ist psychologisch durchschaubar, dass hier deutsche Kommentatoren über 80 Jahre nach »München« immer noch nachholenden Widerstand gegen Hitler leisten. Aber es entschuldigt nicht die Dummheit der entsprechenden Vergleiche.
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Alles Übrige ist ein konventioneller Historienfilm, schlicht gestrickte Kolportage und ein paar Schmonzetten am Rand: Zwei, drei Gastronomiebesuche in Berlin und München sind recht mondän geraten – irgendwie war’s wohl doch auch schön im Dritten Reich. Und die Widerständler tragen alle runde Brillen und gucken hinter ihnen derart konspirativ in die Gegend, dass sie noch der dümmste GESTAPO-Lehrling zum Verhör einbestellt hätte.
Insgesamt verschenkt dieser Film mehr, als er erreicht: In Harris' Roman finden sich großartige, gut recherchierte Details: Er beschreibt die ungewöhnliche Hitze dieser Spät-Septembertage. Das »Kolossale« des Münchner Königsplatzes, den die Nazis in »Königlicher Platz« umgetauft hatten, und der statt von Rasen von zehntausenden Granitplatten bedeckt wurde (die man erst Ende der 1980er Jahre wieder entfernte), dass es dort statt Bäumen eiserne Fahnenmasten mit Hakenkreuzflaggen
gab und von SS-Männern bewachte Ehrentempel mit ewigen Flammen.
Er erzählt, dass es in der »Hauptstadt der Bewegung« wegen des Oktoberfestes kaum genügend Zimmer für die ausländischen Delegationen gab. Dafür gab es viele Blaskapelle. Eine von ihnen spielte zur Begrüßung der britischen Delegation den damals europaweit populären Schlager »The Lambeth Walk›. Er erzählt
vom starken Körpergeruch Hitlers und den mit kleinen Hakenkreuzen versehenen Wasserhähnen im Führerzug.‹«
Nichts von solch sprechenden Details in Schwochows Film. Ebensowenig von anderen Aspekten der Story: Die gemeinsame Freundin Leny, in deren Rolle Liv Lisa Fries gnadenlos unterbesetzt ist, ist bei Schwochow nur Erinnerung und dann apathisches Opfer. Im Buch ist sie Kommunistin und Widerstandskämpferin. Ihr Jüdischsein ist nebensächlich.
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Ein richtig guter Film ist München – Im Angesicht des Krieges daher nicht, konnte er vielleicht auch nicht werden. Eher handelt es sich um guten Durchschnitt, der auf dem kleineren Heim-Bildschirm besser aufgehoben ist als im Kino. Ein interessanter Film ist er aber sehr wohl: In seiner Form, das Publikum zum Augenzeugen eines weltgeschichtlichen Augenblicks zu machen, in dem verschiedene historische Entwicklungen und bis heute bekannte Figuren in Raum und Zeit verdichtet und durch eine dramatische »Countdown«-Situation zusammengeknüpft werden, erinnert er am ehesten an Roger Donaldsons Thirteen Days über die Kuba-Krise 1962 oder auch an Valkyrie von Bryan Singer über den 20. Juli 1944. Der Ausgang ist jeweils bekannt, der Spannungsfunke des Moments springt aber auf die Leinwand oder den Bildschirm über.
Buchvorlage:
Robert Harris: München. Roman. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Heyne, München 2017, 22 Euro
Auf Netflix und in ausgewählten Kinos.