USA 2011 · 105 min. · FSK: ab 0 Regie: Jim Kohlberg Drehbuch: Gwyn Lurie, Gary Marks Kamera: Stephen Kazmierski Darsteller: J.K. Simmons, Lou Taylor Pucci, Cara Seymour, Julia Ormond, Mia Maestro u.a. |
||
Behutsam und zärtlich fixiert |
The Music Never Stopped basiert auf einer Fallstudie des britischen Neurologen und Schriftstellers Dr. Oliver Sacks, dessen Arbeiten erstmals 1990 durch Penny Marshalls Zeit des Erwachens filmisch transformiert wurden. Auch in Jim Kohlbergs Adaption eines Sacks-Falles wird eine neurologische Ausnahmesituation durch massive emotionale Verdichtung transparent gemacht. Aber anders als in Marshalls Film ist es nicht eine Krankheit, sondern die Nebenwirkungen einer Operation, die als Auslöser einer vielschichtigen, therapeutischen Familienzusammenführung dient.
Henry (erschütternd spießig und gleichzeitig berührend emotional dargestellt von J.K. Simmons) und sein kleiner Sohn teilen sich Ende der 1950er eine große Leidenschaft für Musik. Was der Vater liebt, weiß auch sein Sohn zu schätzen. Doch Gabriel (Lou Tayler Pucci in einer bestechenden Gratwanderung) wird nicht nur älter, er tritt Ende der 1960er Jahre auch der Anti-Vietnam-Bewegung bei und wechselt konsequenterweise seinen Musikgeschmack. Statt Bing Crosby hört er nun die Beatles, Bob Dylan und die Grateful Dead. Henry versteht seinen Sohn nicht mehr. Nach einem heftigen Streit verlässt Gabriel das Haus und bricht mit seinen Eltern. Erst zwanzig Jahre später hören Henry und seine Frau Helen (latent vibrierend: Cara Seymour) wieder von Gabriel: unter einem Gehirntumor leidend ist er nicht mehr ansprechbar und muss operiert werden. Der gutmütige Tumor wird zwar entfernt, aber mit ihm verschwindet auch ein großer Teil von Gabriels Erinnerungsvermögens – auch sein Kurzzeitgedächtnis; Gabriel ist völlig hilflos. Nur wenn er Musik hört, werden die beschädigten Areale seines Gehirn temporär aktiviert. Um mit seinem Sohn Kontakt aufzunehmen versucht es Henry mit der Musik, die er liebt und die er zusammen mit seinem kleinen Jungen gehört hat, aber ohne Erfolg. Zufällig hört er von einer neuen Therapiemöglichkeit und engagiert die Musiktherapeutin Dr. Dianne Daly (Zart und hart und fast zu schön: Julia Ormond), die zufällig mit Hilfe des Beatles Songs „All you need is love“ wirklichen Zugang zu Gabriel findet – und einem einsamen Zeitreisenden begegnet, dem letzten Hippie (Sacks Fallstudie aus dem Sammelband „An Anthropologist on Mars“ heißt dementsprechend „The last Hippie“). Gabriel erinnert sich während der musikalischen Sessions zwar detailliert an seine Kindheit und Jugend – und ist fähig darüber mit seinen Gesprächspartnern zu reden und zu reflektieren – doch die Zeit nach 1969 bleibt ausgelöscht. Um ihm zumindest auf diesem Zeitabschnitt begegnen zu können, versucht Henry etwas nahezu Unmögliches – die Musik seines Sohnes zu verstehen und zu lieben.
Kohlberg, der bislang als Produzent tätig war (Two Family House, Runaway, Trumbo), vermag in seinem Regiedebüt gerade diese Unmöglichkeit des familiären Systemwechsels behutsam und zärtlich zu fixieren, ohne dabei den therapeutischen und wissenschaftlichen Blick von Sacks ganz opfern zu müssen. Dass er dabei nicht den Blick für die Nebenschauplätze (eine behutsam anskizzierte, aber immer wieder „in Vergessenheit geratene“ Liebesgeschichte, die Entfremdung zwischen Gabriels Eltern) verliert, ist die eine Großtat. Dass er ein völlig neues Gefühl für „Soundtrack“ erzeugt, die andere. Musik ist in The Music Never Stopped nie nur Untertitelung von Bild und Gefühl, brachiales Klimaxwerkzeug, sondern etwas so dramatisch eigenständiges, wie Robert Bresson es in Das Geld mit genau dem Gegenteil erreicht hat, als er ohne Musik über Ton reden ließ. In The Music Never Stopped wird mit Musik über das Schweigen zwischen den Generationen, der Stille im eigenen Hirn verhandelt, was gerade durch den dezidiert gesetzten Kontrapunkt ein charismatisches Erlebnis ist. Dies führt etwa in einer zentralen Szene zu einem völlig verblüffenden Moment: die Tränen der Erkenntnis von Henry über die heilsame Wirkung von Musik übertragen sich völlig zeitgleich auf den Betrachter: ein familiäres Weinen mit einem der Hauptprotagonisten?! – schon allein das ist es wert, Kohlbergs Film zu sehen.
Kohlberg ist allerdings nicht nur... Nein. Genug. Denn vielleicht das schönste Lob, das man einem Film abschließend machen kann, ist es, an ein Gedicht erinnert worden zu sein:
...may trug heim einen runden stein
so klein wie die welt und so groß wie allein.
Denn was je wir verliern(sei‘s ein dich oder mich)
wir finden im meer das eigene ich!
(In: e.e. cummings, so klein wie die welt und so groß wie allein, gedichte. Berlin, 1986)