Deutschland 2021 · 100 min. · FSK: ab 6 Regie: André Hörmann, Katrin Milhahn Drehbuch: Katrin Milhahn, André Hörmann Kamera: Michael Hammon Darsteller: Levi Eisenblätter, Jonas Oeßel, Marc Limpach, Meike Droste, Steffen Schroeder u.a. |
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Rufe am Orgelfelsen | ||
(Foto: farbfilm) |
Wie viele Coming-of-Age-Filme hat auch der erste abendfüllende Spielfilm von André Hörmann, der 1975 in Bremen geboren wurde, autobiographische Wurzeln. In seinem Fall flossen in das Originaldrehbuch, das er mit der erfahrenen KO-Autorin Katrin Milhan (Liliane Susewind) geschrieben hat, eigene Erfahrungen aus Kindertagen ein. Im Presseheft des Films schreibt er: »Mein Vater kommt aus Albstadt-Ebingen, einer Kleinstadt auf der Schwäbischen Alb. Ich habe Tage und Wochen damit verbracht, in den Bergen zu klettern und Höhlen zu erforschen. Dabei habe ich mir immer vorgestellt, in einer Märchenwelt zu sein, in der magische Wesen leben – eine meiner schönsten Kindheitserinnerungen.«
In einer Ortschaft auf der Schwäbischen Alb hat der zwölfjährige Paul noch immer nicht verkraftet, dass sein Vater Dr. Thomas Haller vor einem Jahr spurlos verschwunden ist. Der fantasievolle Historiker hatte sich intensiv mit der mittelalterlichen Sage um den Ursulenberg befasst und bei eigenen Forschungen Hinweise gefunden, dass es die in der Sage beschriebene Höhle mit Überresten eines frühchristlichen Klosters tatsächlich gibt. Doch der Bürgermeister und die anderen Einwohner hielten das für eine verrückte Idee.
Nachdem Paul am letzten Schultag einmal mehr wegen seines Vaters gehänselt worden ist, beschließt er, am ersten Tag der Sommerferien zum Ursulenberg aufzubrechen und selbst nach der Höhle zu suchen, um seinen Vater zu rehabilitieren.
Als Wegweiser dienen die Aufzeichnungen im väterlichen Notizbuch, das er in einer verschlossenen Schreibtischschublade gefunden hat. Paul bittet seinen Freund Max, ihn zu decken, weil er befürchtet, dass seine Mutter Sabine ihm die Abenteuertour verbieten wird. Mit ihr versteht er sich ohnehin gerade nicht so gut, weil sie will, dass ihr neuer Lebensgefährte Johannes zu ihnen zieht.
Große Überraschung: Der Fleischersohn Max schließt sich der Expedition in die Berge an, denn er will wegen seiner schlechten Zeugnisnoten dem impulsiven Vater aus dem Weg gehen. Zunächst genießen die Jungs die Freiheit, fühlen sich so unbeschwert in der Wildnis, dass beide das Resümee ziehen: »Der beste Sommer meines Lebens«. Doch unterwegs müssen sie einige Hindernisse überwinden und Abenteuer bestehen, etwa als sie im bedrohlich dunklen Bergwald einem Wolf begegnen. Außerdem rücken Polizisten an, um sie zu suchen.
Der erste lange Spielfilm des Regisseurs André Hörmann, der an der Filmuniversität Potsdam ein Regiestudium und an der University of California in Los Angeles das Professionals Program im Drehbuchschreiben absolviert hat, entstand als zehnter Film der Initiative »Der besondere Kinderfilm«. Dieser Zusammenschluss von 27 Sendern, Fördereinrichtungen und Filmverbänden hat sich zum Ziel gesetzt, Kinderfilmstoffe zu fördern, die ohne Buchklassiker, Bestsellerromane oder populäre Marken auskommen.
Ausgangspunkt der gemeinsamen Heldenreise von Paul und Max ist eine wichtige Gemeinsamkeit: Beide sind Außenseiter in der kleinen Gemeinde. Paul wegen seines exzentrischen Vaters und der übergewichtige Max, weil er von seinen ruppigen Mitschülern drangsaliert wird. Doch so verschieden die Jungs auch sind, mit jeder bestandenen Prüfung wächst ihre kameradschaftliche Verbundenheit. Sie lernen sich zu akzeptieren, wie sie sind, und entdecken zugleich neue Fähigkeiten an sich.
Unterwegs lernen der unkomplizierte Max, der sich mit einer Prise Ironie »Fatboy« nennt, und der introvertierte Paul, den Max als »Crazykid« bezeichnet, nicht nur viel über sich selbst, sondern auch über den anderen hinzu. Etwa wenn Max am Lagerfeuer offenbart, dass sein Vater ihn verprügelt hat. Im Gegenzug erzählt Paul von seiner Furcht, er könne die bipolare Persönlichkeitsstörung seines Vaters geerbt haben.
Hörmann, der bereits etliche dokumentarische Arbeiten vorgelegt hat, inszeniert den Abenteuertrip als Kombination aus Spannungsmomenten und humoristischen Einschüben. Vor allem der unkomplizierte Max lockert die Stimmung gerne mit witzigen Sprüchen auf, wobei er sich als Kenner populärer Fantasyfilmepen wie Star Wars oder Der Herr der Ringe erweist.
Blauäugig und allzu lebensfern wirkt allerdings die Maxime, die Thomas seinem Sohn hinterlassen hat: »Man muss im Leben so viel träumen, wie man nur kann. Denn was man träumen kann, kann man auch erreichen.« Hat der Vater mit diesem Motto schon keine Anerkennung gefunden und ist bei einer Forschungspräsentation im Bademantel vor einer Kommission der Gemeinde kläglich gescheitert, so bringt sich der Sohn bei seinem naiven Abenteuertrip, auf dem kurze Erinnerungssequenzen an glückliche gemeinsame Tage mehrfach die enge Bindung zwischen Vater und Sohn beglaubigen, sogar in Lebensgefahr.
Auf der Wanderung durch die Bergwälder und bei der Erkundung der Höhle fallen einige Längen auf, hier macht sich die Vorhersehbarkeit mancher Stationen bemerkbar. Und in der Inszenierung schleichen sich unnötige Fehler ein, etwa wenn Max sich bei der Flucht aus einem Kiosk am Fuß verletzt, in der nächsten Szene aber kräftig in die Pedale tritt. Oder wenn ein Polizist an einem verschütteten Höhleneingang diagnostiziert, dass eine Bergung unmöglich ist, die anwesenden Bergretter als Experten aber kein Wort sagen dürfen. Solche dramaturgischen Schwächen können die soliden Leistungen der jungen Hauptdarsteller Levi Eisenblätter (Deutschstunde) und Jonas Oeßel (Mission Ulja Funk) nur teilweise wettmachen.
Der Film, der wegen der Corona-Pandemie mit einiger Verspätung in die deutschen Kinos kommt, wurde auf dem Giffoni Film Festival in Italien 2021 als bester Film in der Altersgruppe ab zehn Jahren und beim Cinekid Film Festival in Amsterdam als bester Jugendfilm ausgezeichnet. Beim Kinderfilmfestival »Schlingel« 2021 in Chemnitz gewann »Nachtwald« den Preis der ECFA-Fachjury und beim belgischen Jugendfilmfestival JEF 2022 sicherte er sich den Publikumspreis.