01.07.2021

Kurz & bündig

Mayday
Im Ausnahmezustand: Karen Cinorres Mayday
(Foto: FILMFEST MÜNCHEN / Ivan Sardi)

Ausgewählte Filme des 38. Filmfest München in der arteshorts-Kurzkritik

Von artechock-Redaktion

Samstag, 10.07.2021

Heikos Welt (D, 2021) (R: Dominik Galizia) (Neues Deutsches Kino)
Was für eine atem­be­rau­bende Milieu-Studie über den bei seiner Mutter wohnenden schon längst erwach­senen Heiko! Berliner Futschi-Kneipen wie »Beim Dicken«, Bier nicht nur als Besäuf­nis­faktor, sondern auch als Stimulanz, Bar-Darts-Turniere, Roberto Blanco und Giovanni Müller und Hartz 4. Neben­dar­steller die sich selbst spielen (Roberto Blanco), das übrige Cast vom Feinsten und über allem wie die Galli­ons­figur eines Berliner Spree­damp­fers auf Kolli­si­ons­kurs Martin Rohde als Heiko. Kein Film, sondern ein Erlebnis! (Axel Timo Purr)

Freitag, 09.07.2021

Le Sorelle Macaluso (ITA, 2020) (R: Emma Dante) (Wett­be­werb CineVi­sion)
Schuld und Sühne in Palermo, wo fünf allein­le­bende Schwes­tern einen letzten unbe­schwerten Sommer ihrer Kindheit und Jugend verleben, bis eine von ihnen stirbt. Regis­seurin Emma Dante zeigt in der Verfil­mung ihres eigenen Thea­ter­stücks, wie nah Glück und Trauer im Leben liegen und wie sehr die Schatten der Vergan­gen­heit ein ganzes Leben prägen. Wie bei Kenneth Lonergans Manchester by the Sea bleiben die Toten am Leben, ringen die Lebenden bis zum Ende damit, was vom Leben noch übrig ist. (Axel Timo Purr)

Mittwoch, 07.07.2021

Schat­ten­stunde (D, 2020) (R: Benjamin Martins) (Neues Deutsches Kino)
Benjamin Martins biogra­fi­sche Skizze über den christ­li­chen Schrift­steller, Jour­na­listen und dichter Jochen Klepper, der wegen seiner Ehe mit seiner jüdischen Frau seine Privi­le­gien verliert und 1942 von Adolf Eichmann aufge­for­dert wird, sich zwischen Beruf und Ehe zu entscheiden, ist ein beklem­mendes Kammer­spiel und ein wichtiges Dokument gegen das Vergessen. Martin verknüpft die relativ unbe­kannte histo­ri­sche Tatsache zahl­rei­cher jüdischer Selbst­morde (um der Depor­ta­tion zu entgehen) über­zeu­gend mit Kleppers Aufzeich­nungen. Doch die durch Kleppers christ­li­chen Glauben evozierten wahn­ar­tigen Selbst­vor­wurfs­kas­kaden und Martins Hang, mit einer Mischung aus magischem Realismus und Zombie-Attri­buten Kleppers Innen­welten darzu­stellen, wirken immer wieder aufge­setzt und über­stra­pa­ziert. (Axel Timo Purr)

Dienstag, 06.07.2021

Ghosts (TUR, QAT 2020) (R: Azra Deniz Okyay) (Wett­be­werb CineVi­sion)
Azra Deniz Okyay hat für ihren in der Türkei unge­för­deten ersten Langfilm bereits zahl­reiche Preise erhalten. Mit immer wieder expe­ri­men­tellen, semi-doku­men­ta­ri­schen Patchwork-Techniken bildet sie ein Anti-Erdoğan-Istanbul ab, in dem Drogen genommen werden, Sex vor der Ehe prak­ti­ziert wird, Menschen unschuldig im Gefängnis landen, Frau­en­rechts­gruppen um ihr Überleben kämpfen und das alte Istanbul von zynischen Baulöwen und ihren Helfers­hel­fern gnadenlos abge­rissen wird oder zwischen­zeit­lich an syrische Flücht­linge wucher­ver­mietet wird. Okyays Zeit­s­prünge, erra­ti­sche Perspek­tiv­wechsel und Fokus­sie­rungen und eine immer wieder aggres­sive Hand­ka­mera verhin­dern aller­dings eine Iden­ti­fi­ka­tion mit ihren Prot­ago­nisten, deren Wege sich so lose wie zufällig kreuzen. Dafür nutzt Okay den Raum für eindeu­tige und hoch­po­li­ti­sche State­ments – subtile Zwischen­töne, komplexe Charak­tere und ein Blick auf die Krise des Islam in der Türkei, wie sie etwa in Berkun Oyas Miniserie Bir Başkadır – acht Menschen in Istanbul domi­nieren, findet man in Ghosts nicht. (Axel Timo Purr)

Ivie wie Ivie (D, 2021) (R: Sarah Blaß­kie­witz) (Neues Deutsches Kino)
Sarah Blaß­kie­witz‘ Ivie wie Ivie ist ein Glücks­fall. Denn die seit einigen Jahren so langsam in Schwung kommende Iden­ti­täts-Debatte bzgl. Menschen mit migran­ti­schem Hinter­grund hat hier endlich auch einen Film, der all das verhan­delt, was Mithu Sanyal in ihrem im Februar erschie­nenen Roman „Identitti“ erheblich theo­re­ti­scher dargelegt hat. Gleich­zeitig wirft Blaß­kie­witz auch einen so hilflos wie nüch­ternen Blick auf polygame Verhält­nisse und ihre Folgen und öffnet damit einen zweiten, hoch­in­ter­es­santen Iden­ti­täts­dis­kurs über multi­kul­tu­relle Vermächt­nisse, den Jide Tom Akinel­minu in seinem Doku­men­tar­film WHEN A FARM GOES AFLAME auf dem letzten Dok.Fest sehr ähnlich posi­tio­nierte. Glück­li­cher­weise sieht man dem Film seine Frage­stel­lungen nur ansatz­weise an, sind die Dialoge nicht nur wegen der unge­wöhn­li­chen säch­si­schen Dialekt-Einlagen erfri­schend, über­ra­schend und spannend. (Axel Timo Purr)

Montag, 05.07.2021

La Inno­cència (ES, 2019) (R: Lucía Alemany) (CineVi­sion)
Ende der Fiesta. In der Sommer­zeit lässt es die fünf­zehn­jäh­rige Lis ordent­lich krachen. Das hat Folgen, die nicht mit dem katho­lisch-tradi­tio­nellen Eltern­haus vereinbar sind. Sie lehnt sich gegen den Fami­li­en­pa­tri­ar­chen (in einer Para­de­rolle: Sergi Lopez) auf und bringt die vom Ruf der Familie besessene Mutter (»was denken jetzt bloß die Nachbarn«) auf ihre Seite. Ein sehr tradi­tio­nelles, etwas klischiertes Valencia wird hier gezeichnet, deren großes Herzstück der Costum­brismo mit Stier­kampf und Co. ist. Ein beacht­li­ches Filmdebüt der Regis­seurin, die ganz nebenbei mit ihrer Heimat abrechnet. (Dunja Bialas)

Ivie wie Ivie (D, 2021) (R: Sarah Blaß­kie­witz) (Neues deutsches Kino)
Laut Goethe bildet Leipzig als Klein-Paris seine Leute. Sarah Blaß­kie­witz‘ Film über ein Freun­de­strio, das lose in einem Leipziger Sonnen­studio zusam­men­kommt, über­treibt es aller­dings mit dem Bildungs- oder auch Erzie­hungs­auf­trag – man merkt die Absicht und ist verstimmt. Die 30-jährige Ivie (Haley Louise Jones) ist die Tochter einer Deutschen (Anneke Kim Sarnau) und eines Sene­ga­lesen, den sie nie kennen­ge­lernt hat. Bei ihren Bewer­bungs­ge­sprächen als Lehrerin erfährt sie ständig mehr oder weniger bewussten Alltags­ras­sismus, etwa wenn ihr »gutes Deutsch« gelobt wird. Eines Tages steht ihre unbe­kannte Halb­schwester Naomi (Lorna Ishema) aus Berlin vor der Tür. »Aber du bist viel dunkler, wenn man das sagen darf«, meint Ivies Mitbe­woh­nerin, die beim Zoll passen­der­weise mit Abschie­bungen betraut ist. So wird fleißig Klischee nach Klischee abge­ar­beitet, zum Glück aufge­lo­ckert durch den säch­si­schen Witz des Sola­ri­um­be­trei­bers Ingo (Maxi­mi­lian Brauer). (Katrin Hill­gruber)

Da kommt noch was (Monday um zehn) (D/CH 2021) (R: Mareille Klein) (Neues deutsches Kino)
Frei nach Brecht unter­nimmt dieser ebenso ruhige wie eindrucks­volle Film eine Unter­su­chung, ob der Mensch dem Menschen hilft. Subtil verhan­delt Mareille Klein unaus­ge­spro­chene Diskri­mi­nie­rung soge­nannter Gast­ar­beiter und verwei­gerte Mitmensch­lich­keit im Villen­viertel. Die aufkei­mende Liebe zwischen der nach einem häus­li­chen Unfall auf Hilfe ange­wie­senen Best-Agerin Helga (Ulrike Willen­ba­cher) und ihrem Aushilfs-Putzmann, verschmitzt darge­stellt von dem polni­schen Schau­spiel­star Zbigniew Zama­chowski, stößt in einem auf Conten­ance bedachten gutbür­ger­li­chen Umfeld auf schier unüber­wind­liche Wider­stände. Neben Helgas gleich­gül­tigen Fami­li­en­mit­glie­dern läuft vor allem Imogen Kogge als feindlich-falsche Freundin zu einer sehens­werten schau­spie­le­ri­schen Höchst­leis­tung auf. (Katrin Hill­gruber)

Da kommt noch was (Monday um Zehn) (D/CH 2021) (R: Mareille Klein) (Neues Deutsches Kino)
Dinky Sinky-Regis­seurin Mareille Klein wirft auch in ihrem neuen Film einen so ironi­schen wie ernüch­ternden Blick auf deutsche Befind­lich­keiten. Ging es in ihrem Debüt noch um die Genera­tion derer, die Kinder gebären wollen, sehen wir hier denen zu, die aus Alters­gründen nicht mehr gebären können, die gesät­tigte deutsche Bildungs­bür­ger­schicht, die aus Renten- und Pensi­ons­zah­lungen und ihren Erspar­nissen sehr gut leben kann, aber vom Glück weit entfernt ist. Mit manchmal etwas hölzernem, etwas zu aufge­setztem, aber dennoch feinem schwarzen Humor und großar­tigen Haupt­dar­stel­lerInnen, allen voran Ulrike Willen­ba­cher, Zbigniew Zama­chowski und Imogen Kogge, bohrt sich Klein in so erschüt­ternde wie banale Spießig­keiten, ohne ihre Haupt­dar­steller in ihren komplexen Hemmungen und fragilen Träumen zu verraten. Am erschüt­terndsten ist dabei wohl, dass seit Fass­bin­ders Angst essen Seele auf so wenig passiert ist, am schönsten das gemein­same Lachen am Ende und natürlich Suzi Quatros If You Can’t Give Me Love im Abspann. (Axel Timo Purr)

Nahschuss (Deutsch­land, 2021), (R: Franziska Stünkel), (Neues Deutsches Kino)
Ein Akade­miker wird zum Stasi-Spitzel: Was anfangs mit einer herr­li­chen Wohnung und einer verspro­chenen Profes­soren-Stelle noch verlo­ckend klingt, wird für Franz Walter (Lars Eidinger) schnell zur mora­li­schen und psychi­schen Zerreiß­probe. Als er aus dem Über­wa­chungs­netz der DDR aussteigen will, wendet sich das System der DDR mit aller Härte gegen ihn. Beein­flusst von der wahren Gesichte des Dr. Werner Teske zeigt Franziska Stünkel ein bedrü­ckendes Zeiten­ge­mälde, das eher auf bitteren Realismus, denn auf melo­dra­ma­ti­sche Vergan­gen­heits­be­wäl­ti­gung setzt. Das Center­piece des Films ist ganz klar Lars Eidinger, der mit seiner Darstel­lung eines zerrüt­teten und gequälten Indi­vi­duums eine Glanz­leis­tung auf die Leinwand bringt. Auch wenn der Hand­lungs­ver­lauf mitunter in vorher­seh­baren Bahnen verläuft, man zweifelt, leidet und schwitzt zusammen mit der Haupt­figur in jeder Minute. Wer also inten­sives Schau­spieler-Kino erleben will, sollte sich Nahschuss zu Gemüte führen. (Matthias Pfeiffer)

Lieber Thomas (D, 2021) (R: Andreas Kleinert) (Neues deutsches Kino)
Als der Ost-Berliner Schrift­steller und Filme­ma­cher Thomas Brasch 1982 von Franz-Josef Strauß den Baye­ri­schen Filmpreis für Engel aus Eisen erhielt, bedankte er sich unter Buhrufen des Münchner Publikums für seine Ausbil­dung an der »Film­hoch­schule der DDR«. An der HFF Babels­berg studierte auch Andreas Kleinert, Jahrgang 1962. Gut zehn Jahre erar­bei­tete er sich mit dem Dreh­buch­autor Thomas Wendrich den Brasch-Stoff samt der filmi­schen Illus­tra­tion von Träumen und Hallu­zi­na­tionen – das Ergebnis ist ästhe­tisch heraus­ra­gend, nicht zuletzt dank Albrecht Schuch, diesem Meister der Intuition, in der Titel­rolle. Nach Kruso, Thomas Stubners Verfil­mung von Lutz Seilers Hiddensee-Roman, konfron­tiert Schuch als Antiheld erneut die DDR in Wort und wilder Tat mit dem »wahr­haf­tigen« Sozia­lismus. Lieber Thomas beweist, dass der unter­ge­gan­gene östliche Teilstaat nach wie vor die span­nendsten Stoffe beschert. Das Schwarz­weiß des Films (Kamera: Johann Feindt) eröffnet einen Geschichts­raum voller Mate­ria­lität und Sinn­lich­keit. (Katrin Hill­gruber)

(D, 2021) (R: Dietrich Brüg­ge­mann) (Neues deutsches Kino)
Nach Heil nun : Wieder gelingt Dietrich Brüg­ge­mann ein elek­tri­sie­rend aktuelles Deutsch­land­pan­orama. Auf unnach­ahm­lich uner­schro­ckene Weise nimmt der gebürtige Münchner und Mit-Initiator von #alles­dicht­ma­chen stets die ganze Gesell­schaft samt ihrer Talkshow-, Geschlechts­de­fi­ni­tions- und sonstigen Neurosen in den Fokus. »Nö«, antwortet die Schau­spie­lerin Dina – gespielt von Anna Brüg­ge­mann, die mit ihrem Bruder auch das Drehbuch schrieb – ihrem Freund, dem Chirurgen Michael (Alexander Khuon), auf die Frage, ob sie sich nicht doch lieber trennen wollten. Er habe nämlich das Gefühl, sagt er im Halb­dunkel des Bettes, »wir ziehen hier ein Programm durch, was eine schwei­gende imaginäre Gruppe von uns erwartet«. In 15 Tableaus, die mit über­bor­dender Spiel­freude ins Surreale abheben, entwirft Brüg­ge­mann den Lebens­lauf einer Liebe. Diese bewährt sich durch vielerlei Krisen hindurch, ausgelöst vom gefühl­s­kalten Schwie­ger­vater (Hanns Zischler gibt einen gran­diosen Patri­ar­chen) und seiner gefühls­du­se­ligen Frau (Isolde Barth), einem erwa­chenden und prompt mora­li­sie­renden Patienten auf dem OP-Tisch oder einem Kinder­ge­burtstag im Klet­ter­pa­ra­dies, bei dem der kleine Ottokar keine Getrei­de­pro­dukte verträgt. Es ist genau dieser freche Freigeist, der dem aktuellen deutschen Kino so not- wie wohltut. (Katrin Hill­gruber)

A Pure Place (D, 2021) (R: Nikias Chryssos) (Neues deutsches Kino)
Die Handlung überzeugt nicht unbedingt, aber um so mehr die medi­terran-attischen Szenen­bilder und phan­ta­sie­sprühenden Kostüme mit umgehängten Seifen­stü­cken. In dieser durch­ge­drehten Sekten-Farce geht es um den Seifen­her­steller Fust, darge­stellt vom sonor klin­genden belgi­schen Bösewicht Sam Louwyck, der mit dunkler Sonnen­brille und doppel­rei­higen Sakkos an Ion Tiriac erinnert. Fust propa­giert einen Rein­heits­kult um die Göttin Hygeia und lässt Waisen­kinder im Keller für sich schuften, die sein Bade­wasser trinken müssen. Wird den Geschwis­tern Irina und Paul (phan­tas­tisch: Greta Bohacek und Claude Heinrich) der Aufstieg aus Dunkel­heit und Schmutz ins Licht gelingen? Als hätten sich Charles Dickens‘ entrech­tete Prole­ta­rier­kinder und der erlauchte George-Kreis auf einer grie­chi­schen Insel getroffen. (Katrin Hill­gruber)

Main­stream (USA 2019) (R: Gia Coppola) (Spotlight)
Ein extremer Fall von Früh­ver­grei­sung: Bizarr genug, dass Gia Coppola, Jahrgang 1987, vor Internet und Influ­encer Culture warnt wie eine alte Studi­en­rätin, die zuletzt ca. 2004 selbst online war. Unfassbar aber, wie sehr der Film (der’s ohne die Adress­bücher von Coppolas Familie wohl nie auf die Leinwand geschafft hätte) wirkt, als hätte sie einfach im Drehbuch einer schon damals altba­ckenen, witzlosen 1950er Satire aufs Fernsehen »TV« gegen »YouTube« ausge­tauscht. (Thomas Willmann)

Sonntag, 04.07.2021

Sun Children (IRN, 2020) (R: Majid Majidi) (Wett­be­werb CineMas­ters)
Irani­sches Kino at its best, formal wie erzäh­le­risch beein­dru­ckend und mitreißend. Dabei wagt sich Majid Majidi, einer der erfolg­reichsten Regis­seure des Landes, mit seiner Geschichte über Straßen­kinder in Teheran an ein eher sprödes, schwer »verkäuf­li­ches« Thema. Doch Majidi erzählt gleich­zeitig auch über die iranische Isolation, die Wirt­schafts­krise und die poli­ti­sche Krise im Land, erzählt, wie Erwach­sene Kinder instru­men­ta­li­sieren und wie Erwach­sene selbst instru­men­ta­li­siert werden, und hat den Mut zu Leer­stellen. Der Film weckt Asso­zia­tionen an Louis Sachars Löcher und Andrzej Jaki­mow­skis Kleine Tricks und findet über die großar­tige Kame­ra­ar­beit Houman Behmaneshs zu einer beein­dru­ckenden Bild­sprache (z.B. die flie­genden Schul­ta­schen). Und dann ist da noch Majidis junger Haup­dar­steller Rouhollah Zamani, der für seine tolle Perfor­mance 2020 in Venedig mit dem Marcello-Mastroi­anni-Preis ausge­zeichnet wurde. (Axel Timo Purr)

Nachtwald (DEU, 2021) (R: André Hörmann & Katrin Milhahn) (Kinder­film­fest)
In der bislang fast ausnahmslos lobens­werten Förde­rungs­reihe »Der besondere Kinder­film« ist dieser besondere Film entstanden, der sich mit Zitaten aus Indiana Jones (etwa das Tagebuch des Vaters) und Star Wars in die Wilhelm Hauffsche Düster­keit des Schwarz­walds bewegt und dort nicht nur darüber erzählt, wie nah Abschied, Trauer und Freude liegen können, sondern auch über Jungen­freund­schaft, Schatz- und Vater­suche, aber auch nicht vor so »schwie­rigen« Themen wie Depres­sionen zurück­schreckt. Im Kern fast eine Neuauf­lage des Jugend­film­klas­si­kers Nordsee ist Mordsee von Hark Bohm, doch mit seinen beiden hervor­ra­gend gespielten Helden dann auch ein ganz und gar gegen­wär­tiger Film. (Axel Timo Purr)

Viva Forever (DEU, 2021) (R: Sinje Köhler) (Neues Deutsches Kino)
Sinje Köhler gelingt mit ihrem Debütfilm über fünf Freun­dinnen am Gardasee eine so melan­cho­li­sche wie zärtliche Bestands­auf­nahme der Genera­tion heutiger Endzwan­ziger, die plötzlich spürt, dass das Leben so schwer wird wie ihre Vergan­gen­heit. Der Film arbeitet mit erzäh­le­ri­schen Brüchen und einer verzwei­felten, tage­buch­ar­tigen Offenheit, die der Präsenz der Erzählung zugute kommt. Vor allem Köhlers kluge Hand­lungs­ele­mente zu den demo­gra­fi­schen Hinter­gründen ihrer Prot­ago­nisten zeigen, dass die wirt­schaft­liche Sepa­rie­rung, die Anke Stelling in ihrem Roman Schäfchen im Trocknen für die Mitt­vier­ziger-Genera­tion in Berlin ernüch­ternd fest­ge­stellt hat, mögli­cher­weise schon viel früher und nicht nur in Berlin relevant ist. (Axel Timo Purr)

Samstag, 03.07.2021

Helden der Wahr­schein­lich­keit (DNK, 2020) (R: Anders Thomas Jensen) (Wett­be­werb CineMas­ters)
Die dänische Variante des unge­wöhn­li­chen, ameri­ka­ni­schen Vigilante-Thrillers, wie er gerade mit Nobody in den Kinos ange­laufen ist. Dänisch heißt hier aber nicht nur einem markanten Vollbart-Mads Mikkelsen in der Haupt­rolle dabei zuzusehen, wie er das Gesetz in die Hand nimmt und Rache übt, sondern es bedeutet auch sich auf groteske Selbst­the­ra­pien und über­ra­schende Wahr­schein­lich­keits­theo­rien einzu­lassen. Schwarzer Humor vom Feinsten und Dialoge, die Spaß und Sinn machen: »I sometimes think people with problems band together. Just like fat people, so they look less fat when they’re all together.« (Axel Timo Purr)

Freitag, 02.07.2021

Shiva Baby (USA, 2020) (R: Emma Seligman) (Spotlight)
Feste als kathar­ti­sche Methode mit wuchtigen »Wahr­heits­mo­no­logen« haben im Film eine lange und reiche Tradition (siehe Bergmans Fanny und Alexander oder Vinter­bergs Das Fest), aber Emma Seligmans Coming of Age einer jungen, bise­xu­ellen Frau auf einem »Leichen­schmaus« erinnert auch an Woody Allens zahl­reiche Feier- und Fest-Momente im jüdischen Umfeld New Yorks. Und doch hat Seligman mit ihren hecken­schüt­zen­ar­tigen Kreuz­verhör- und Drei­ecks­dia­logen, mit denen (Liebes-) Bezie­hungen demas­kiert und eine dann und wann auch nervige Iden­ti­täts­suche postu­liert wird, eine ganz eigene, völlig über­zeu­gende Film­sprache gefunden. (-> Lang­kritik) (Axel Timo Purr)

A Nuvem Rosa (Brasilien, 2021) (R: Iuli Gerbase) (CineVi­sion)
Keiner darf raus! Lebens­ge­fahr! Nur in der Wohnung ist man sicher! Es kommt einem bekannt vor, was Iuli Gerbase in A Nuvem Rosa zeigt. Doch handelt es sich in ihrem Science Fiction-Kammer­spiel nicht um einen Virus, sondern um eine rätsel­hafte rosarote Wolke, die den sofor­tigen Tod bringt. So findet sich Giovanna auf einmal gefangen in der Wohnung ihres One-Night-Stands, mit dem sie wohl oder übel eine längere Part­ner­schaft eingehen muss. Natürlich kann man diesen Film nicht mehr von der Corona-Pandemie trennen (von der das Filmteam bei der Post­pro­duk­tion über­rascht wurde). Dennoch funk­tio­niert ihr Werk auch als intel­li­gente Reflexion darüber, wie schnell sich der Mensch mit der Extrem­si­tua­tion abfinden und sie sogar lieben lernen kann. (Matthias Pfeiffer)

Genera­tion Bezie­hungs­un­fähig (Deutsch­land 2021, R: Helena Hufnagel) (Neues Deutsches Kino)
Der Verfil­mung des gleich­na­migen Sachbuchs von Michael Nast sieht man das Sachbuch in jeder Einstel­lung an, gerade weil der Film versucht, nicht Sachbuch, sondern roman­ti­sche Komödie zu sein, aber trotzdem Nasts Bestands­auf­nahme auf Biegen und Brechen trans­por­tieren will. Das wirkt so platt und aufge­setzt und vorher­sehbar wie der Titel, ausge­nommen ein paar über­ra­schend atmo­s­phä­ri­sche Bilder aus Köln. Hinzu kommt das schmerz­hafte Over­ac­ting der Schau­spieler, eine grausame Mischung aus Klamauk und Stereo­ty­pen­du­delei, nach der man besser beraten ist, sich auf dem nächsten Hoff­loh­markt eine DVD von Doris Dörries Männer zu kaufen, um mehr Spaß und Gefühl bei ähnlicher Thematik zu haben. (Axel Timo Purr)

Das Mädchen mit den goldenen Händen (Deutsch­land 2021, R: Katharina Marie Schubert) (Neues Deutsches Kino)
Als Corinna Harfouch 2019 auf dem Münchner Filmfest in Jan-Ole Gersters Lara zu sehen war, schien es keine Stei­ge­rung eines Porträts eines verbit­terten und verstockten Menschen mit all seinen verlo­renen Träumen zu geben. In Katharina Marie Schuberts Debütfilm, in dem die Heldin ebenfalls 60 Jahre alt wird, beweist sie, dass es durchaus noch eine Stei­ge­rung gibt. Doch Schubert zeichnet nicht nur eine eindring­liche Skizze einer Frau ohne Liebe und Heimat, sondern über ein kleines ostdeut­sches Provinz­städt­chen im Jahr 1999 auch das diffe­ren­zierte Portrait einer zunehmend heimat- und orien­tie­rungs­losen Gesell­schaft, die sich selbst ausver­kauft. Mit einem Ensemble, das bis in die Neben­rollen über­ra­gend besetzt ist. (Axel Timo Purr)

Donnerstag, 01.07.2021

El perro que no calla (Argen­ti­nien 2021, R: Ana Katz) (CineMas­ters)
Wenn man einen Hund in die Wüste schickt, kommt selten gutes bei rum. Anders ist es in dieser in stil­vollem Schwarz­weiß insze­nierten Film­pa­rabel aus Argen­ti­nien. Eine seltsame Krankheit zieht auf, alle müssen ganz geduckt gehen, um nicht unter den Einfluss der schäd­li­chen – ja, was eigent­lich: Magnet­strahlen? Partikel? Aerosole? zu geraten. Kinder sind eindeutig im Vorteil. Um ihr Leben weiter­zu­führen, tragen irgend­wann alle eine Art Taucher­glocke. Ein Corona-Leugner, wer Böses dabei denkt. Alle anderen werden einen unauf­ge­regten und präzise insze­nierten Film erleben, der auch viel Opti­mismus bereit­hält. Das Leben wird weiter­gehen. (Dunja Bialas)

Mayday (USA 2021, R: Karen Cinorre) (CineVi­sion)
Kaft­voller Girls'-Riot-Spirit und modernes Amazonen-Phantasma, Utopie von einer sich selbst genü­genden, männer­losen Existenz der Mädchen­jahre. Wie im Fieber­traum wirkt diese unwahr­schein­liche Gemein­schaft, für immer isoliert von der Unmö­g­lich­keit, diese wieder zu verlassen und aufs konti­nen­tale Festland der Gewiss­heiten zu gelangen. Ana gelingt am Ende die Flucht durch das strömende Meer. (siehe Lang­kritik zum IFF Rotterdam) (Dunja Bialas)