Kurz & bündig |
||
Im Ausnahmezustand: Karen Cinorres Mayday | ||
(Foto: FILMFEST MÜNCHEN / Ivan Sardi) |
Heikos Welt (D, 2021) (R: Dominik Galizia) (Neues Deutsches Kino)
Was für eine atemberaubende Milieu-Studie über den bei seiner Mutter wohnenden schon längst erwachsenen Heiko! Berliner Futschi-Kneipen wie »Beim Dicken«, Bier nicht nur als Besäufnisfaktor, sondern auch als Stimulanz, Bar-Darts-Turniere, Roberto Blanco und Giovanni Müller und
Hartz 4. Nebendarsteller die sich selbst spielen (Roberto Blanco), das übrige Cast vom Feinsten und über allem wie die Gallionsfigur eines Berliner Spreedampfers auf Kollisionskurs Martin Rohde als Heiko. Kein Film, sondern ein Erlebnis! (Axel Timo Purr)
Le Sorelle Macaluso (ITA, 2020) (R: Emma Dante) (Wettbewerb CineVision)
Schuld und Sühne in Palermo, wo fünf alleinlebende Schwestern einen letzten unbeschwerten Sommer ihrer Kindheit und Jugend verleben, bis eine von ihnen stirbt. Regisseurin Emma Dante zeigt in der Verfilmung ihres eigenen Theaterstücks, wie nah Glück und Trauer im
Leben liegen und wie sehr die Schatten der Vergangenheit ein ganzes Leben prägen. Wie bei Kenneth Lonergans Manchester by the Sea bleiben die Toten am Leben, ringen die Lebenden bis zum Ende damit, was vom Leben noch übrig ist. (Axel Timo Purr)
Schattenstunde (D, 2020) (R: Benjamin Martins) (Neues Deutsches Kino)
Benjamin Martins biografische Skizze über den christlichen Schriftsteller, Journalisten und dichter Jochen Klepper, der wegen seiner Ehe mit seiner jüdischen Frau seine Privilegien verliert und 1942 von Adolf Eichmann aufgefordert wird, sich zwischen Beruf und Ehe zu
entscheiden, ist ein beklemmendes Kammerspiel und ein wichtiges Dokument gegen das Vergessen. Martin verknüpft die relativ unbekannte historische Tatsache zahlreicher jüdischer Selbstmorde (um der Deportation zu entgehen) überzeugend mit Kleppers Aufzeichnungen. Doch die durch Kleppers christlichen Glauben evozierten wahnartigen Selbstvorwurfskaskaden und Martins Hang, mit einer Mischung aus magischem Realismus und Zombie-Attributen Kleppers Innenwelten darzustellen,
wirken immer wieder aufgesetzt und überstrapaziert. (Axel Timo Purr)
Ghosts (TUR, QAT 2020) (R: Azra Deniz Okyay) (Wettbewerb CineVision)
Azra Deniz Okyay hat für ihren in der Türkei ungefördeten ersten Langfilm bereits zahlreiche Preise erhalten. Mit immer wieder experimentellen, semi-dokumentarischen Patchwork-Techniken bildet sie ein Anti-Erdoğan-Istanbul ab, in dem Drogen genommen werden,
Sex vor der Ehe praktiziert wird, Menschen unschuldig im Gefängnis landen, Frauenrechtsgruppen um ihr Überleben kämpfen und das alte Istanbul von zynischen Baulöwen und ihren Helfershelfern gnadenlos abgerissen wird oder zwischenzeitlich an syrische Flüchtlinge wuchervermietet wird. Okyays Zeitsprünge, erratische Perspektivwechsel und Fokussierungen und eine immer wieder aggressive Handkamera verhindern allerdings eine Identifikation mit ihren Protagonisten,
deren Wege sich so lose wie zufällig kreuzen. Dafür nutzt Okay den Raum für eindeutige und hochpolitische Statements – subtile Zwischentöne, komplexe Charaktere und ein Blick auf die Krise des Islam in der Türkei, wie sie etwa in Berkun Oyas Miniserie Bir Başkadır – acht Menschen in Istanbul dominieren, findet man in Ghosts nicht. (Axel Timo Purr)
Ivie wie Ivie (D, 2021) (R: Sarah Blaßkiewitz) (Neues Deutsches Kino)
Sarah Blaßkiewitz‘ Ivie wie Ivie ist ein Glücksfall. Denn die seit einigen Jahren so langsam in Schwung kommende Identitäts-Debatte bzgl. Menschen mit migrantischem
Hintergrund hat hier endlich auch einen Film, der all das verhandelt, was Mithu Sanyal in ihrem im Februar erschienenen Roman „Identitti“ erheblich theoretischer dargelegt hat. Gleichzeitig wirft Blaßkiewitz auch einen so hilflos wie nüchternen Blick auf polygame Verhältnisse und ihre Folgen und öffnet damit einen zweiten, hochinteressanten
Identitätsdiskurs über multikulturelle Vermächtnisse, den Jide Tom Akinelminu in seinem Dokumentarfilm WHEN A FARM GOES AFLAME auf dem letzten Dok.Fest sehr ähnlich positionierte. Glücklicherweise sieht man dem Film seine Fragestellungen nur ansatzweise an, sind die Dialoge nicht nur wegen der ungewöhnlichen sächsischen Dialekt-Einlagen erfrischend, überraschend
und spannend. (Axel Timo Purr)
La Innocència (ES, 2019) (R: Lucía Alemany) (CineVision)
Ende der Fiesta. In der Sommerzeit lässt es die fünfzehnjährige Lis ordentlich krachen. Das hat Folgen, die nicht mit dem katholisch-traditionellen Elternhaus vereinbar sind. Sie lehnt sich gegen den Familienpatriarchen (in einer Paraderolle: Sergi Lopez) auf und bringt die
vom Ruf der Familie besessene Mutter (»was denken jetzt bloß die Nachbarn«) auf ihre Seite. Ein sehr traditionelles, etwas klischiertes Valencia wird hier gezeichnet, deren großes Herzstück der Costumbrismo mit Stierkampf und Co. ist. Ein beachtliches Filmdebüt der Regisseurin, die ganz nebenbei mit ihrer Heimat abrechnet. (Dunja Bialas)
Ivie wie Ivie (D, 2021) (R: Sarah Blaßkiewitz) (Neues deutsches Kino)
Laut Goethe bildet Leipzig als Klein-Paris seine Leute. Sarah Blaßkiewitz‘ Film über ein Freundestrio, das lose in einem Leipziger Sonnenstudio zusammenkommt, übertreibt es allerdings mit dem Bildungs- oder auch Erziehungsauftrag – man merkt die Absicht
und ist verstimmt. Die 30-jährige Ivie (Haley Louise Jones) ist die Tochter einer Deutschen (Anneke Kim Sarnau) und eines Senegalesen, den sie nie kennengelernt hat. Bei ihren Bewerbungsgesprächen als Lehrerin erfährt sie ständig mehr oder weniger bewussten Alltagsrassismus, etwa wenn ihr »gutes Deutsch« gelobt wird. Eines Tages steht ihre unbekannte Halbschwester Naomi (Lorna Ishema) aus Berlin vor der Tür. »Aber du bist viel dunkler, wenn man das sagen darf«, meint Ivies
Mitbewohnerin, die beim Zoll passenderweise mit Abschiebungen betraut ist. So wird fleißig Klischee nach Klischee abgearbeitet, zum Glück aufgelockert durch den sächsischen Witz des Solariumbetreibers Ingo (Maximilian Brauer). (Katrin Hillgruber)
Da kommt noch was (Monday um zehn) (D/CH 2021) (R: Mareille Klein) (Neues deutsches Kino)
Frei nach Brecht unternimmt dieser ebenso ruhige wie eindrucksvolle Film eine Untersuchung, ob der Mensch dem Menschen hilft. Subtil verhandelt Mareille Klein unausgesprochene Diskriminierung sogenannter Gastarbeiter und verweigerte
Mitmenschlichkeit im Villenviertel. Die aufkeimende Liebe zwischen der nach einem häuslichen Unfall auf Hilfe angewiesenen Best-Agerin Helga (Ulrike Willenbacher) und ihrem Aushilfs-Putzmann, verschmitzt dargestellt von dem polnischen Schauspielstar Zbigniew Zamachowski, stößt in einem auf Contenance bedachten gutbürgerlichen Umfeld auf schier unüberwindliche Widerstände. Neben Helgas gleichgültigen Familienmitgliedern läuft vor allem Imogen Kogge als
feindlich-falsche Freundin zu einer sehenswerten schauspielerischen Höchstleistung auf. (Katrin Hillgruber)
Da kommt noch was (Monday um Zehn) (D/CH 2021) (R: Mareille Klein) (Neues Deutsches Kino)
Dinky Sinky-Regisseurin Mareille Klein wirft auch in ihrem neuen Film einen so ironischen wie ernüchternden Blick auf deutsche Befindlichkeiten. Ging es in ihrem
Debüt noch um die Generation derer, die Kinder gebären wollen, sehen wir hier denen zu, die aus Altersgründen nicht mehr gebären können, die gesättigte deutsche Bildungsbürgerschicht, die aus Renten- und Pensionszahlungen und ihren Ersparnissen sehr gut leben kann, aber vom Glück weit entfernt ist. Mit manchmal etwas hölzernem, etwas zu aufgesetztem, aber dennoch feinem schwarzen Humor und großartigen HauptdarstellerInnen, allen voran Ulrike Willenbacher, Zbigniew Zamachowski
und Imogen Kogge, bohrt sich Klein in so erschütternde wie banale Spießigkeiten, ohne ihre Hauptdarsteller in ihren komplexen Hemmungen und fragilen Träumen zu verraten. Am erschütterndsten ist dabei wohl, dass seit Fassbinders Angst essen Seele auf so wenig passiert ist, am schönsten das gemeinsame Lachen am Ende und natürlich Suzi Quatros If You Can’t Give Me Love im Abspann. (Axel Timo Purr)
Nahschuss (Deutschland, 2021), (R: Franziska Stünkel), (Neues Deutsches Kino)
Ein Akademiker wird zum Stasi-Spitzel: Was anfangs mit einer herrlichen Wohnung und einer versprochenen Professoren-Stelle noch verlockend klingt, wird für Franz Walter (Lars Eidinger) schnell zur moralischen und psychischen Zerreißprobe. Als er aus dem
Überwachungsnetz der DDR aussteigen will, wendet sich das System der DDR mit aller Härte gegen ihn. Beeinflusst von der wahren Gesichte des Dr. Werner Teske zeigt Franziska Stünkel ein bedrückendes Zeitengemälde, das eher auf bitteren Realismus, denn auf melodramatische Vergangenheitsbewältigung setzt. Das Centerpiece des Films ist ganz klar Lars Eidinger, der mit seiner Darstellung eines zerrütteten und gequälten Individuums eine Glanzleistung auf die Leinwand bringt.
Auch wenn der Handlungsverlauf mitunter in vorhersehbaren Bahnen verläuft, man zweifelt, leidet und schwitzt zusammen mit der Hauptfigur in jeder Minute. Wer also intensives Schauspieler-Kino erleben will, sollte sich Nahschuss zu Gemüte führen. (Matthias Pfeiffer)
Lieber Thomas (D, 2021) (R: Andreas Kleinert) (Neues deutsches Kino)
Als der Ost-Berliner Schriftsteller und Filmemacher Thomas Brasch 1982 von Franz-Josef Strauß den Bayerischen Filmpreis für Engel aus Eisen erhielt, bedankte er sich unter Buhrufen des
Münchner Publikums für seine Ausbildung an der »Filmhochschule der DDR«. An der HFF Babelsberg studierte auch Andreas Kleinert, Jahrgang 1962. Gut zehn Jahre erarbeitete er sich mit dem Drehbuchautor Thomas Wendrich den Brasch-Stoff samt der filmischen Illustration von Träumen und Halluzinationen – das Ergebnis ist ästhetisch herausragend, nicht zuletzt dank Albrecht Schuch, diesem Meister der Intuition, in der Titelrolle. Nach Kruso, Thomas
Stubners Verfilmung von Lutz Seilers Hiddensee-Roman, konfrontiert Schuch als Antiheld erneut die DDR in Wort und wilder Tat mit dem »wahrhaftigen« Sozialismus. Lieber Thomas beweist, dass der untergegangene östliche Teilstaat nach wie vor die spannendsten Stoffe beschert. Das Schwarzweiß des Films (Kamera: Johann Feindt) eröffnet einen Geschichtsraum voller Materialität und Sinnlichkeit.
(Katrin Hillgruber)
Nö (D, 2021) (R: Dietrich Brüggemann) (Neues deutsches Kino)
Nach Heil nun Nö: Wieder gelingt Dietrich Brüggemann ein elektrisierend aktuelles
Deutschlandpanorama. Auf unnachahmlich unerschrockene Weise nimmt der gebürtige Münchner und Mit-Initiator von #allesdichtmachen stets die ganze Gesellschaft samt ihrer Talkshow-, Geschlechtsdefinitions- und sonstigen Neurosen in den Fokus. »Nö«, antwortet die Schauspielerin Dina – gespielt von Anna Brüggemann, die mit ihrem Bruder auch das Drehbuch schrieb – ihrem Freund, dem Chirurgen Michael (Alexander Khuon), auf die Frage, ob sie sich nicht doch lieber
trennen wollten. Er habe nämlich das Gefühl, sagt er im Halbdunkel des Bettes, »wir ziehen hier ein Programm durch, was eine schweigende imaginäre Gruppe von uns erwartet«. In 15 Tableaus, die mit überbordender Spielfreude ins Surreale abheben, entwirft Brüggemann den Lebenslauf einer Liebe. Diese bewährt sich durch vielerlei Krisen hindurch, ausgelöst vom gefühlskalten Schwiegervater (Hanns Zischler gibt einen grandiosen Patriarchen) und seiner gefühlsduseligen Frau (Isolde
Barth), einem erwachenden und prompt moralisierenden Patienten auf dem OP-Tisch oder einem Kindergeburtstag im Kletterparadies, bei dem der kleine Ottokar keine Getreideprodukte verträgt. Es ist genau dieser freche Freigeist, der dem aktuellen deutschen Kino so not- wie wohltut. (Katrin Hillgruber)
A Pure Place (D, 2021) (R: Nikias Chryssos) (Neues deutsches Kino)
Die Handlung überzeugt nicht unbedingt, aber um so mehr die mediterran-attischen Szenenbilder und phantasiesprühenden Kostüme mit umgehängten Seifenstücken. In dieser durchgedrehten Sekten-Farce geht es um den Seifenhersteller Fust, dargestellt vom sonor klingenden
belgischen Bösewicht Sam Louwyck, der mit dunkler Sonnenbrille und doppelreihigen Sakkos an Ion Tiriac erinnert. Fust propagiert einen Reinheitskult um die Göttin Hygeia und lässt Waisenkinder im Keller für sich schuften, die sein Badewasser trinken müssen. Wird den Geschwistern Irina und Paul (phantastisch: Greta Bohacek und Claude Heinrich) der Aufstieg aus Dunkelheit und Schmutz ins Licht gelingen? Als hätten sich Charles Dickens‘ entrechtete Proletarierkinder und der
erlauchte George-Kreis auf einer griechischen Insel getroffen. (Katrin Hillgruber)
Mainstream (USA 2019) (R: Gia Coppola) (Spotlight)
Ein extremer Fall von Frühvergreisung: Bizarr genug, dass Gia Coppola, Jahrgang 1987, vor Internet und Influencer Culture warnt wie eine alte Studienrätin, die zuletzt ca. 2004 selbst online war. Unfassbar aber, wie sehr der Film (der’s ohne die Adressbücher von Coppolas Familie wohl
nie auf die Leinwand geschafft hätte) wirkt, als hätte sie einfach im Drehbuch einer schon damals altbackenen, witzlosen 1950er Satire aufs Fernsehen »TV« gegen »YouTube« ausgetauscht. (Thomas Willmann)
Sun Children (IRN, 2020) (R: Majid Majidi) (Wettbewerb CineMasters)
Iranisches Kino at its best, formal wie erzählerisch beeindruckend und mitreißend. Dabei wagt sich Majid Majidi, einer der erfolgreichsten Regisseure des Landes, mit seiner Geschichte über Straßenkinder in Teheran an ein eher sprödes, schwer »verkäufliches« Thema. Doch
Majidi erzählt gleichzeitig auch über die iranische Isolation, die Wirtschaftskrise und die politische Krise im Land, erzählt, wie Erwachsene Kinder instrumentalisieren und wie Erwachsene selbst instrumentalisiert werden, und hat den Mut zu Leerstellen. Der Film weckt Assoziationen an Louis Sachars Löcher und Andrzej Jakimowskis Kleine Tricks und findet über die großartige Kameraarbeit Houman Behmaneshs zu einer beeindruckenden Bildsprache (z.B. die fliegenden Schultaschen). Und dann ist da noch Majidis junger Haupdarsteller Rouhollah Zamani, der für seine tolle Performance 2020 in Venedig mit dem Marcello-Mastroianni-Preis ausgezeichnet wurde. (Axel Timo Purr)
Nachtwald (DEU, 2021) (R: André Hörmann & Katrin Milhahn) (Kinderfilmfest)
In der bislang fast ausnahmslos lobenswerten Förderungsreihe »Der besondere Kinderfilm« ist dieser besondere Film entstanden, der sich mit Zitaten aus Indiana Jones (etwa
das Tagebuch des Vaters) und Star Wars in die Wilhelm Hauffsche Düsterkeit des Schwarzwalds bewegt und dort nicht nur darüber erzählt, wie nah Abschied, Trauer und Freude liegen können, sondern auch über Jungenfreundschaft, Schatz- und Vatersuche, aber auch nicht vor so »schwierigen« Themen wie Depressionen zurückschreckt. Im Kern fast eine Neuauflage des
Jugendfilmklassikers Nordsee ist Mordsee von Hark Bohm, doch mit seinen beiden hervorragend gespielten Helden dann auch ein ganz und gar gegenwärtiger Film. (Axel Timo Purr)
Viva Forever (DEU, 2021) (R: Sinje Köhler) (Neues Deutsches Kino)
Sinje Köhler gelingt mit ihrem Debütfilm über fünf Freundinnen am Gardasee eine so melancholische wie zärtliche Bestandsaufnahme der Generation heutiger Endzwanziger, die plötzlich spürt, dass das Leben so schwer wird wie ihre Vergangenheit. Der Film arbeitet mit
erzählerischen Brüchen und einer verzweifelten, tagebuchartigen Offenheit, die der Präsenz der Erzählung zugute kommt. Vor allem Köhlers kluge Handlungselemente zu den demografischen Hintergründen ihrer Protagonisten zeigen, dass die wirtschaftliche Separierung, die Anke Stelling in ihrem Roman Schäfchen im
Trocknen für die Mittvierziger-Generation in Berlin ernüchternd festgestellt hat, möglicherweise schon viel früher und nicht nur in Berlin relevant ist. (Axel Timo Purr)
Helden der Wahrscheinlichkeit (DNK, 2020) (R: Anders Thomas Jensen) (Wettbewerb CineMasters)
Die dänische Variante des ungewöhnlichen, amerikanischen Vigilante-Thrillers, wie er gerade mit Nobody in den Kinos angelaufen ist. Dänisch heißt hier
aber nicht nur einem markanten Vollbart-Mads Mikkelsen in der Hauptrolle dabei zuzusehen, wie er das Gesetz in die Hand nimmt und Rache übt, sondern es bedeutet auch sich auf groteske Selbsttherapien und überraschende Wahrscheinlichkeitstheorien einzulassen. Schwarzer Humor vom Feinsten und Dialoge, die Spaß und Sinn machen: »I sometimes think people with problems band together. Just like fat people, so they look less fat when they’re all together.« (Axel Timo
Purr)
Shiva Baby (USA, 2020) (R: Emma Seligman) (Spotlight)
Feste als kathartische Methode mit wuchtigen »Wahrheitsmonologen« haben im Film eine lange und reiche Tradition (siehe Bergmans Fanny und Alexander oder Vinterbergs Das Fest), aber Emma Seligmans Coming of Age einer jungen, bisexuellen Frau auf einem »Leichenschmaus« erinnert auch an Woody Allens zahlreiche Feier- und Fest-Momente im jüdischen Umfeld New Yorks. Und doch hat Seligman mit ihren heckenschützenartigen Kreuzverhör- und Dreiecksdialogen, mit denen (Liebes-) Beziehungen demaskiert und eine dann und wann auch nervige Identitätssuche postuliert
wird, eine ganz eigene, völlig überzeugende Filmsprache gefunden. (-> Langkritik) (Axel Timo Purr)
A Nuvem Rosa (Brasilien, 2021) (R: Iuli Gerbase) (CineVision)
Keiner darf raus! Lebensgefahr! Nur in der Wohnung ist man sicher! Es kommt einem bekannt vor, was Iuli Gerbase in A Nuvem Rosa zeigt. Doch handelt es sich in ihrem Science Fiction-Kammerspiel nicht um einen Virus, sondern um eine rätselhafte rosarote
Wolke, die den sofortigen Tod bringt. So findet sich Giovanna auf einmal gefangen in der Wohnung ihres One-Night-Stands, mit dem sie wohl oder übel eine längere Partnerschaft eingehen muss. Natürlich kann man diesen Film nicht mehr von der Corona-Pandemie trennen (von der das Filmteam bei der Postproduktion überrascht wurde). Dennoch funktioniert ihr Werk auch als intelligente Reflexion darüber, wie schnell sich der Mensch mit der Extremsituation abfinden und sie sogar lieben
lernen kann. (Matthias Pfeiffer)
Generation Beziehungsunfähig (Deutschland 2021, R: Helena Hufnagel) (Neues Deutsches Kino)
Der Verfilmung des gleichnamigen Sachbuchs von Michael Nast sieht man das Sachbuch in jeder Einstellung an, gerade weil der Film versucht, nicht Sachbuch, sondern romantische Komödie zu sein, aber trotzdem Nasts Bestandsaufnahme
auf Biegen und Brechen transportieren will. Das wirkt so platt und aufgesetzt und vorhersehbar wie der Titel, ausgenommen ein paar überraschend atmosphärische Bilder aus Köln. Hinzu kommt das schmerzhafte Overacting der Schauspieler, eine grausame Mischung aus Klamauk und Stereotypendudelei, nach der man besser beraten ist, sich auf dem nächsten Hofflohmarkt eine DVD von Doris Dörries Männer zu kaufen, um mehr Spaß und Gefühl bei ähnlicher Thematik zu haben. (Axel Timo Purr)
Das Mädchen mit den goldenen Händen (Deutschland 2021, R: Katharina Marie Schubert) (Neues Deutsches Kino)
Als Corinna Harfouch 2019 auf dem Münchner Filmfest in Jan-Ole Gersters Lara zu sehen war, schien es keine Steigerung eines Porträts eines
verbitterten und verstockten Menschen mit all seinen verlorenen Träumen zu geben. In Katharina Marie Schuberts Debütfilm, in dem die Heldin ebenfalls 60 Jahre alt wird, beweist sie, dass es durchaus noch eine Steigerung gibt. Doch Schubert zeichnet nicht nur eine eindringliche Skizze einer Frau ohne Liebe und Heimat, sondern über ein kleines ostdeutsches Provinzstädtchen im Jahr 1999 auch das differenzierte Portrait einer zunehmend heimat- und orientierungslosen Gesellschaft, die
sich selbst ausverkauft. Mit einem Ensemble, das bis in die Nebenrollen überragend besetzt ist. (Axel Timo Purr)
El perro que no calla (Argentinien 2021, R: Ana Katz) (CineMasters)
Wenn man einen Hund in die Wüste schickt, kommt selten gutes bei rum. Anders ist es in dieser in stilvollem Schwarzweiß inszenierten Filmparabel aus Argentinien. Eine seltsame Krankheit zieht auf, alle müssen ganz geduckt gehen, um nicht unter
den Einfluss der schädlichen – ja, was eigentlich: Magnetstrahlen? Partikel? Aerosole? zu geraten. Kinder sind eindeutig im Vorteil. Um ihr Leben weiterzuführen, tragen irgendwann alle eine Art Taucherglocke. Ein Corona-Leugner, wer Böses dabei denkt. Alle anderen werden einen unaufgeregten und präzise inszenierten Film erleben, der auch viel Optimismus bereithält. Das Leben wird weitergehen. (Dunja Bialas)
Mayday (USA 2021, R: Karen Cinorre) (CineVision)
Kaftvoller Girls'-Riot-Spirit und modernes Amazonen-Phantasma, Utopie von einer sich selbst genügenden, männerlosen Existenz der Mädchenjahre. Wie im Fiebertraum wirkt diese unwahrscheinliche Gemeinschaft, für immer isoliert von der Unmöglichkeit, diese wieder zu verlassen und aufs
kontinentale Festland der Gewissheiten zu gelangen. Ana gelingt am Ende die Flucht durch das strömende Meer. (siehe Langkritik zum IFF Rotterdam) (Dunja Bialas)