36. DOK.fest@home 2021: artesho(r)ts |
![]() |
|
Leben in Wittstock von Volker Koepp (Teil der 75 Jahre DEFA-Retrospektive) | ||
(Foto: 36. DOK.fest@home) |
Kímmapiiyipitssini –The Meaning of Empathy (CAN 2021, R: Elle-Máijá Tailfeathers) (Dok.guest Kanada)
Elle-Máijá Tailfeathers intimes Porträt vom Leben und Überleben des Kainai-Stammes in Alberta ist Zeuge von tiefgreifenden Veränderungen innerhalb der Gemeinschaft und eine emotionale Aufforderung zu Empathie. Der Film stellt eine klare Verbindung
zwischen kolonialen Verbrechen an den Indigenen Kanadas und der Drogenkrise innerhalb der Kainai-Gemeinschaft her. Tailfeathers begleitet Betroffene wie medizinisches Personal, Freiwillige in Suchtberatungszentren und Rettungskräfte, die Überlebenshilfe leisten. Feinfühlig und ehrlich. (-> Langkritik) (Louisa von Sohlern)
Freundschaft siegt (DDR 1951, Regie: Joris Ivens) (Retrospektive 75 Jahre DEFA 2021)
Strahlende Jugendfrische vor den aschgrauen Ruinen des zerbombten Berlin: Sechs Jahre nach Kriegsende und zwei Jahre vor dem befreienden Tod Stalins drehte der
bedeutende niederländische Dokumentarfilmer und Herzenskommunist Joris Ivens diese Koproduktion der DEFA mit der sowjetischen Mosfilm – der Abspann weist allein sieben Kameraleute aus. Sie filmten Chöre, Sportwettkämpfe und ergriffene Mienen bei den III. Jugendfestspielen im August 1951, gemäß dem pathetisch scheppernden Kommentar: »Jeder Tag dieses Festivals trägt ein anderes schönes Gesicht.« Doch die Freundschafts- und Friedensmetaphorik wird von der Schärfe
des Kalten Krieges durchdrungen, einschließlich – inszenierter? – Schlägereien an der Sektorengrenze: »So sieht die Gastfreundschaft von Adenauer und Reuter aus!« höhnt die Stimme aus dem Off angesichts effektvoll bandagierter Köpfe von „Friedensfreunden“. Der lobenswerte DEFA-Schwerpunkt des DOK.fests ermöglicht die Wiederbegegnung
mit einem packenden Zeitdokument. (Katrin Hillgruber)
Freundschaft siegt (DDR 1951, Regie: Joris Ivens) (Retrospektive 75 Jahre DEFA 2021)
Freundschaft siegt ist ein hin- und mitreißendes Zeitdokument aus dem Jahr 1951. Sechs Jahre ist das Ende des 2. Weltkriegs her als die
III. Weltfestspiele in Berlin, Hauptstadt der DDR, stattfinden. FRIEDEN! fordert die feiernde, internationale Jugend. Der Film des Holländers Joris Ivens ist ein großartig fotografierter und choreografierter internationaler Reigen auf einem politischen Pulverfass. Sozialistische Schmettergesänge untermalen die geschickt montierten Bilder. Ein imposantes Festival zwischen den Sektorengrenzen trifft auf grauenerregendes Pathos. Und mittenrein pladauzt immer wieder
und unbegreiflich Stalin, „der beste Freund des deutschen Volkes“ … Es lebe die Ambivalenz! (Felicitas Hübner)
There’s No Place Like This Place, Anyplace (CAN 2020, R: Lulu Wei) (DOK.guest Kanada)
Gentrification in der am stärksten wachsenenden nordamerikanischen Metropole Toronto: Das Billigkaufhaus Honest Ed´s war seit 1948 vor allem Anlaufstelle für Menschen, die mit wenig Geld aber großen Träumen nach Toronto eingewandert waren. Die Eigentümerfamilie
Mirvish kaufte über die Jahre in der Nachbarschaft ganze Straßenzüge, in die günstigen Appartements zogen vor allem Kreative. Doch mit dem Verkauf des Areals verschwand diese Oase. Lulu Wei zeigt, was mit einem Viertel passiert, wenn eine auf Luxusimmobilien spezialisierte Firma ein ganzes Quartier übernimmt und nach den Gesetzen der Gewinnmaximierung entwickelt. Hilflos wirken Stadtplaner, Bürgerbeteiligung und Widerstand gegen das Projekt. Sie können der Wucht des Geldes
nur wenig entgegensetzen. Doch trotz der mitgelieferten Daten über horrende Mieten und Verdrängung, wirkt vieles allzu glatt. Vielleicht liegt es am kanadischen Optimismus? (Ingrid Weidner)
Silêncio: Voices of Lisbon (PRT 2020, R: Judit Kalmár, Céline Coste Carlisle) (DOK.music)
Gentrification in Lissabon: Eigentlich dreht sich alles um die 80-jährige Ivone Días und die 40 Jahre jüngere Marta Miranda, zwei Fado-Sängerinnen. Miterzählt wird aber auch die Geschichte der Stadt am Tejo und wie der anschwellende Touristenstrom der vergangenen Jahre Segen
und Fluch zugleich bedeuteten. Menschen im Altstadtviertel Alfama verlieren ihre Wohnungen, weil dort Hostels und Ferienwohnungen entstehen. Das melancholische Porträt von Lissabon mit schönen Bildern und trauriger Musik lädt zu einer Reise ohne Risiken und Quarantäne ein. (Ingrid Weidner)
Die Welt jenseits der Stille (DEU 2021, R: Manuel Fenn) (DOK.panorama)
Nichts mehr hören von Corona, nichts mehr sehen von der Pandemie … es ist nur zu gut verständlich, wenn man vor diesem Thema Reißaus nehmen will. Und doch ist „Die Welt jenseits der Stille“ von Michael Fenn wert gesehen zu werden. Zwölf Geschichten, über den ganzen Globus verteilt,
zeigen das, was in der medialen Dauerberieselung meist untergeht: Den Menschen, der mit seiner Situation kämpft, das Individuum, das sich einer neuen Realität anpassen muss. Dabei gibt es in diesem Film kein besser oder schlechter, die Gleichwertigkeit mit der Fenn die Schicksale nebeneinander stellt, erzeugt einen Rundumblick des einzelnen Leidens in der globalen Krise. (-> Langkritik) (Matthias Pfeiffer)
Who’s afraid of Alice Miller? (CHF 2020, R: Daniel Howald) (DOK.panorama)
Daniel Howalds und Martin Millers Film über die Suche nach der Wahrheit in Alice Millers Leben ist ein so verstörender wie wichtiger und berührender Film über transgenerationale Traumabewältigung. Und über das damit einhergehende forcierte Schweigen und die Tragik des Schicksals der
»zweiten Generation«, die die Angst ihrer Eltern zwar kennt, aber nicht mehr die Gründe für die Angst, die Realität hinter der Angst. Wer Sarah Polleys fantastische Vatersuche Stories We Tell mag, sollte auch diesen Film sehen! (-> Langkritik) (Axel Timo Purr)
Monobloc (DEU 2021, R: Hauke Wendler) (DOK.panorama)
Er polarisiert, er ist hässlich und genial zugleich – der Monobloc. Der meistverkaufte Stuhl aus Plastik ist eigentlich kein Design-Stück, obwohl er mittlerweile einen Platz im Vitra Design Museum gefunden hat. In viele Farben und unterschiedlichen Designs hergestellt, finden sich Exemplare in
Gartenlauben, Bars und Restaurants weltweit. Regisseur Hauke Wendler machte sich auf die Reise und fand erstaunliches über das schnelllebige Produkt heraus. Interessant wird es, wenn Don Schoendorfer ins Spiel kommt, ein US-amerikanischer Ingenieur und Tüftler, der den Monobloc nutzt, um damit günstige Rollstühle zu entwickeln. Und das böse Plastik? Auch darauf findet der Film in Brasilien eine Antwort. »Das Leben ist eine unendliche Abfolge von Graustufen«, heißt es dazu
passend im Film. (Ingrid Weidner)
Muranów (Israel 2020, R: Chen Shelach) (DOK.panorama)
Benannt wurde der nördlichste Teil der Warschauer Innenstadt im 17. Jahrhundert nach der venezianischen Inselgruppe Murano. Die Nachkriegs-Einwohner von Muranów leben auf den Trümmern des Warschauer Ghettos. Manche von ihnen träumen schlecht oder hören Geister musizieren, im einstigen SS-Hauptquartier wird
Psychologie gelehrt. Bauarbeiten fördern stumme Zeugen der schrecklichen Vergangenheit ans Tageslicht, zugleich versucht die nationalistische Regierungspartei PiS, dieses Erbe zu vereinnahmen. Der Großvater des israelischen Filmemachers kam beim Kriegsausbruch am 1. September 1939 in Muranów ums Leben. In ruhigem Erzähltempo und politisch hochreflektiert macht sich der Enkel auf die Suche nach einer vernichteten Kultur, mit einer gezeichneten Mauer (polnisch »mur«),
die sich als Grenze zwischen damals und heute schiebt. (Katrin Hillgruber)
The Rossellinis (DEU 2021 – R: Alessandro Rossellini) (DOK.international)
Alessandro Rossellini, der Enkel Roberto Rossellinis, startet eine filmische Familientherapie und zeigt dabei das schwere Erbe, das der Regie-Titan seinen Nachkommen hinterlassen hat. Oder geht es eher um eine Rechtfertigung eigener Dämonen? The Rossellinis ist bei aller Schwierigkeit des Themas ein leichter und erkenntnisreicher Dokumentarfilm, der die Ikone des italienischen Kinos weder vergöttert noch dämonisiert. Auch wenn Alessandro Rossellini bei der Selbstanalyse tiefer hätte gehen können, ist das Langfilm-Debüt, das er mit 55 Jahren geschaffen hat, ein interessanter
Filmbeitrag, der die Rückseite eines prominenten Familiennamens anschaulich untersucht. (-> Langkritik) (Matthias Pfeiffer)
Wood – Der geraubte Wald (DEU, AUT, ROM 2020, R: Michaela Kirst, Monica Lazurean-Gorgan, Ebba Sinzinger) (DOK.focus Empowerment)
Ein Umweltthriller, der sich auf die Spuren der Holzmafia in Rumänien, China, Sibirien und Peru begibt. Mit versteckter Kamera ermittelt Umweltaktivist Alexander von Bismarck gegen korrupte Regierungen und Holzfirmen. Ziel ist es
die illegalen Machenschaften durch öffentlichen und politischen Druck zu unterbinden. Ein nicht ganz ungefährliches Unterfangen. Der Film ist packend und enthüllend zugleich. Unbedingt ansehen vor dem Kauf des nächsten IKEA-Regals. (-> Langkritik) (Louisa von Sohlern)
Hinter den Schlagzeilen (DEU 2021, R: Regie: Daniel Sager) (DOK.international)
Citizenfour reloaded. Edward Snowden zu treffen ist hochgradig konspirativ. Liegt es an diesem kurzen Treffen, dass die Redakteure der Süddeutschen Zeitung weder Gefahr noch Tod gescheut
haben, das klandestine Strache-Video einer Whistleblowerin zu veröffentlichen, das zur »Ibiza-Affäre« führte? Eine vor sich hinplätschernde, aber auch nüchterne Reise in die Beurteilung von Authentizität und Kredibilität von zugespieltem Material. Die Helden dieser Reise sind zwei Investigativ-Journalisten – die Abenteurer unter den Schreibtischtätern. (Dunja Bialas)
Land (DEU 2021 – R: Timo Großpietsch) (DOK.international)
Und ewig fliegt die Drohne. Allzu elegisch nimmt sich Timo Großpietschs Doku-Symphonie Land aus. Im Versuch, die Rationalisierung der Landwirtschaft zu beschreiben, verfällt der NDR-Redakteur (Lovemobil) der Faszination gerade gezogener Linien und schwebenden Ansichten von oben, die reichlich Ästhetik um ihrer selbst willen ausschütten. Dann Schnitt, nach einem irritierenden Defilée der Volksmusik-Ortsvereine folgt noch die impressionistische Bestandsaufnahme der Ski- und Tropic-World-Spaßbad-Industrie. Während Großpietsch krampfhaft versucht, stille Meisterwerke wie von Nicolas Geyerhalter (Unser täglich Brot) oder Armin Linke (Alpi) nachzuahmen, fehlen ihm These und philosophische Tiefe. Ein Essayfilm von und für Fernseh-Redakteure. (Dunja Bialas)
Nemesis (CH 2021 – R: Thomas Imbach) (Best of Fests)
Gerechter Zorn! Der Schweizer Filmemacher-Schalk Thomas Imbach filmt in Nemesis zum zweiten Mal aus seiner Dachwohnung heraus, von der aus er den Überblick hat. Zumindest über Zürich. Wie in seiner fiktionalen Autbiographie Day Is Done fabuliert er auch einiges an Geschehen herbei, bleibt aber diesmal trotzdem beim Thema: Hier wird der altehrwürdige Güterbahnhof abgerissen, um einem Polizeigebäude und Gefängnis zu weichen. Soziale Fragestellungen und Verwerfungen inbegriffen. Leider ist Imbach diesmal auch inkonsequent. Er geht mit seiner Kamera ziemlich nah ans Geschehen heran, was dem Film unnötige Action beschert, ebenso wie das schnelle Stop-Motion als
Element des Zeitraffers – den Imbach aber bekanntermaßen liebt. Schade ist, dass er den Off-Kommentar diesmal nicht selbst spricht, sondern einem Hochdeutschsprecher überlässt. Da fehlt dann doch spürbar das Imbach-Kolorit, das immer so ans Herz geht. Der Edit-Preis des Dokfests trifft aber trotzdem den richtigen Film. Und natürlich den richtigen Regisseur, an dieser Stelle sei kurz eine Verbeugung vor seinem Spielfilm Lenz getan. (Dunja Bialas)
Personal Life of a Hole (CZ 2020, R: Ondřej Vavrečka) (DOK.international)
Eine Schar fröhlich verträumter Hobby-Philosophinnen und –Philosophen schwärmt aus, um nach dem Sinn des Lebens zu suchen, den sie in allerlei Hohlräumen wie Erdlöchern oder Wasserrohren vermutet. Darüber schwebt die berühmte einsame Melone aus den Bildern von René Magritte.
Auch sonst präferieren die Protagonistinnen und Protagonisten ungewöhnliche Kopfbedeckungen wie umgedrehte Stühle oder aufgespannte Regenschirme, unter denen es sich anscheinend besonders gut denken lässt. Regisseur Ondřej Vavrečka erschafft eine Mischung aus »Pan Tau« und philosophischem Seminar, das vor allem dem Gedankenkosmos von Slavoj Žižek huldigt. Eines seiner Standardwerke heißt »Die Tücke des Objekts« und hat offensichtlich dieses
Experiment inspiriert. (Katrin Hillgruber)
Vakuum (Ö/D 2021, R: Kristina Schranz) (Student Award)
Nicht sagen, sondern zeigen, was ist: Dieses Postulat nimmt dieser außergewöhnliche Dokumentarfilm wörtlich. Als der erste Lockdown im März 2020 anfängt, befindet sich die HFF-Studentin Kristina Schranz gerade im Heimaturlaub im Süd-Burgenland. Gleichsam im Auge des Orkans beginnt sie, vertraute und nun
verlassene Orte wie die Kirche, Schule oder Diskothek zu filmen – und die Reaktion ihrer Mitmenschen auf die ungewohnte bis bedrohliche Situation, etwa, wenn der Cafébesitzer von seinen Albträumen erzählt. Die Regisseurin zeichnet bei ihrem ersten Langfilm, bei dem der BR als Koproduzent einstieg, auch für Buch, Kamera und Ton verantwortlich. Beim Zusehen entsteht eine Art magischer Unterdruck, der in »Vakuum« hineinzieht. (Katrin Hillgruber)
Hinter den Schlagzeilen (DEU 2021, R: Regie: Daniel Sager) (DOK.international)
Es bleibt eines der Geheimnisse dieses PR-Films für die Süddeutsche Zeitung: In einer Szene trifft ein hoch investigativ unterwegs seiender SZ-Journalist den Lebenspartner der 2017 durch eine Autobombe ermordeten, maltesischen Investigativjournalistin Daphne Caruana
Galizia. Vor laufender Kamera fragt der Witwer den Journalisten, wie es denn seiner Mutter gehe. Zu den Informationen über ihr Wohlergehen plaudert der Wirbelwind auch noch die Details zum Wohnort der armen Frau aus. (Felicitas Hübner)
Ich habe in Moll geträumt (Schweiz 2021 – Regie: Ueli Meier) (Münchner Premieren 2021)
Der Schweizer Autor Walter Rufer wollte in den 1960er Jahren in München berühmt werden. Geklappt hat das nur mit seinen Schwabinger Tagebüchern »Der Himmel ist blau. Ich auch.« Tweetkurze Einträge zeugen von einer großen Lust am Leben, an der Kunst und am Alkohol. In München
pflegte er eine Liaison mit einer nicht mit ihm verheirateten Geliebten. Ins Tagebuch schrieb Rufer: »Mariechen malte mich beim Dichten,/ das nennt man in der Kunst Verdichten.« Ein schön montierter und unterhaltsamer Film. (Felicitas Hübner)
The Rossellinis (Italien, Lettland 2020 – Regie: Alessandro Rossellini) (DOK.panorama 2021)
Roberto Rossellini gehört zu den berühmten Männern, die einige Kinder mit mehreren Frauen zeugten. So groß ihre Werke auch sind, so klein sind sie immer wieder, wenn es um die Beteiligung am selbst geschaffenen Familienleben geht. Mit »The Rossellinis« hat ein
Rossellini-Enkel eine Familienaufstellung erschaffen, die manchmal etwas peinlich gerät. Der Schatten des Großvaters lastet schwer. Auf den Erfolgreichen des Familienclans, umso mehr auf denen, die sich für nicht erfolgreich halten. (Felicitas Hübner)
The Ark (CHN 2020 – R: Dan Wei) (DOK.international)
Gnadenlos richtet der chinesische Filmemacher Dan Wei seine Kamera auf die kranke Großmutter und die sich kümmernde Familie. Kein familiäres und medizinisches Detail ist es Wei nicht wert, gefilmt zu werden. Gnade erfahren die Zuschauer*innen durch das Schwarz-Weiß-Format des Films. Nur der entfernte
Gallenstein wird kurz in Farbe gezeigt. »The Ark« sollte nicht vorʼm Schlafengehen geguckt werden. Er ist harte Kost. (Felicitas Hübner)
Heimatkunde (DEU 2021, R: Christian Bäucker) (DOK.deutsch)
2007 gab es schon mal einen Heimatkunde-Film. In ihm wanderte Martin Sonneborn nach 17 Jahren deutsch-deutscher Vereinigung um Gesamt-Berlin herum. Christian Bäucker wandert in seinem HK-Film in seine alte DDR-Schule im
brandenburgischen Bärenklau und lässt die Leute von damals von damals erzählen. Mir als Mensch aus der DDR erschließt sich nicht, was Bäucker mit seinem Film will. Im Pressetext des DOK.festes steht: »Hier wurde vorurteilsfrei und offen gefragt.« Warum sollte der Regisseur Vorurteile haben? Sich selbst gegenüber? Die DDR bleibt ein unbekanntes Land. Da hilft kein Proust-Zitat, Herr Purr. (Felicitas Hübner)
Hinter den Schlagzeilen (DEU 2021, R: Regie: Daniel Sager) (DOK.international)
Sechs versteckte Kameras zeichnen eine Nacht lang die merkwürdigen Geschehnisse in einer Villa auf Ibiza auf, und am Ende stürzt die österreichische Regierung: Regisseur Daniel Sager gelingt es, den notwendigerweise diskreten SZ-Investigativjournalisten Frederik Obermaier
und Bastian Obermayer ganz nah zu kommen, bis hin zum heimischen Kofferpacken. Ein Hauch von Watergate liegt über München-Steinhausen, angenehm gedämpft von der Bescheidenheit des Reporterduos Obermayer & Obermaier. Bis die von Hanna von Hübbenet und John Gürtler musikalisch geschickt untermalte »Nervositätsspirale« in Sachen Strache & Co. allerdings anzieht, benötigt der Film ein dreiviertelstündiges polyglottes Präludium. Darf sich Journalismus bei allem
Erfolg selbst loben? Dieser Zwiespalt bleibt. (Katrin Hillgruber)
Slowly Forgetting Your Faces (DEU 2021, R: Daniel Asadi Faezi) (Student Award)
Daniel Asadi Faezis zartes, philosophisches Kammerspiel reflektiert die ganz persönliche Geschichte seiner Familie. Alte Briefe zeugen vom Leben zweier Brüder zwischen den Fronten: Untergrundkämpfe im Iran während der Revolution einerseits und andererseits die Flucht nach
Deutschland ins Exil. Längst vergessene Namen, Gesichter und schmerzhafte Schicksale. Und die Frage nach Heimat. Ein berührender Film, der mit minimalistischen Mitteln auskommt. Aktuell und empathisch. (Louisa von Sohlern)
Verriegelte Zeit (DDR/BRD 1990, R: Sibylle Schönemann) (Retrospektive 75 Jahre DEFA 2021)
Der sehr persönliche Film der aus der DDR stammenden (einst DEFA-)Regisseurin Sibylle Schönemann geht sehr dicht auf das von ihr erlittene Unrecht durch den
Staat DDR und seine »Sicherheits«behörden in der Mitte der 80er Jahre. Schönemanns Schmerz und Wut sind total berechtigt und nachvollziehbar. Einen Schritt zurücktreten konnte sie 1990 noch nicht, auch verständlich. Dass sie es schaffte, einige der damaligen Staatsdiener*innen vor Kamera und Mikrofon zu kriegen, zeugt von Sibylle Schönemanns großer Kraft und einer tiefen Verletztheit. Ihre energiegeladenen Konfrontationsmethoden voller Wucht und Wissbegier haben
hoffentlich zu ihrer Gesundung geführt. (Felicitas Hübner)
75 Jahre DEFA-Dokumentarfilm-Retrospektive
Anlässlich des 75. Jahrestags präsentiert das DOK.fest eine kleine, aber sehr feine und unbedingt sehenswerte Retrospektive, bei der man das große Heulen kriegen kann. So viel Wille, so viel Hoffnung, so viel Mut zu neuen Wegen. Dann aber auch: so viel Versagen, so viel Propaganda, so viel Leid. Dieses komplexe
Gefühls-Tohuwabohu mit nur acht, zum Teil sehr kurzen Dokumentarfilmen aus 39 Jahren zu erzeugen, ist schon eine Leistung. Und bei der Auswahl aus immerhin 2250 Dokumentar- und Kurzfilmen des volkseigenen Filmunternehmens der DDR mit Sitz in Potsdam-Babelsberg die richtige Auswahl zu treffen, ist es das erst recht. (-> Langkritik) (Axel Timo
Purr)
Heimatkunde (DEU 2021, R: Christian Bäucker) (DOK.deutsch)
Ein Film, der fast der ideale Schlusspunkt der DEFA-Retrospektive ist. Denn Christian Bäucker lässt in Heimatkunde ehemalige Schüler an ihre alte DDR-Schule zurückkehren und begibt sich mit ihnen auf eine völlig
vorurteilsfreie Suche nach einer verlorenen Zeit und Heimat. Sein Film ist nicht nur eine erzählerisch und formal überzeugende Annäherung an das Bildungssystem der DDR, sondern auch ein emotionaler therapeutischer Prozess, den man den noch lebenden Protagonisten der in der Retrospektive versammelten Filme nur wünschen kann. (-> Langkritik) (Axel Timo Purr)
Zinder (DEU/FRA/NER 2021, R: Aïcha Macky) (DOK.horizonte / DOK.network Africa)
Aicha Mackys Porträt einer Gang in Zinder im Niger dokumentiert düster und präzise das (Über-) Leben in informellen Strukturen eines gescheiterten Staates, in dem die Hoffnung zuletzt stirbt. Doch gerade von dieser Hoffnung und ihrer Realisierung erzählt Mackays Film ebenfalls und ist
ein so überzeugendes wie realistisches Porträt einer Gesellschaft, die sich aus den globalen Anforderungen und Reglementierungen kreativ immer wieder neu erfindet. (-> Langkritik) (Axel Timo Purr)
The Last Hillbilly (USA/QAT 2021, R: Diane Sara Bouzgarrou, Thomas Jenkoe) (DOK.international)
Ein trister Blick auf die Abgehängten: The Last Hillbilly begleitet Brian und seine Familie, von Armut und Enttäuschung gezeichnete Existenzen der
amerikanischen Südstaaten. Eine aussterbende Spezies, für die keine Zukunft vorgesehen ist. Mit düsteren Bildern, bedrückender Musik und obskuren Szenarien zeigt dieser grandiose Film eine Minderheit, aus dem Radar der Öffentlichkeit immer mehr verschwindet. Ein herausragender Film, der auf Vorurteile verzichtet – selbst wenn sie laut Brian alle der Wahrheit entstprechen. (-> Langkritik) (Matthias Pfeiffer)
BILDER (M)EINER MUTTER (DEU 2021, R: Melanie Lischker) (DOK.deutsch)
Melanie Lischkers so zärtliche wie vielschichtige Reflexion über das Leben ihrer Mutter erklärt die große Welt einer zerrissenen Gesellschaft mit der kleinen Welt des Privaten, der Familie, und ist weit mehr als nur eine (auto-) biografische Erzählung zu einem verlorenen Leben und einer
verlorenen Zeit. Ihr Film ist Denkmal und Mahnmal zugleich und so traurig wie schön (-> Langkritik) (Axel Timo Purr)
ANNE FLIEGT (NL 2010, R: Catherine van Campen) (DOK.education)
Eine schillernde, unbedingt empfohlene Filmperle, die, wie der Silberne Bär-Gewinner Herr Bachmann und seine Klasse, zeigt, was Schule vermag und im Besonderen, wie die 11-jährige Anne sich ein erfülltes
(Schul-)Leben mit Tourette-Syndrom erarbeitet. Kaum zu glaubende 21 Minuten, die sich wie 210 Minuten anfühlen und große, berührende Dokumentarfilmkunst sind! (Axel Timo Purr)
THE CASE YOU (DE 2020, R: Alison Kuhn) (Student Award)
Sehr analystisch, experimentell und souverän in der Wahl seiner Mittel ist Alison Kuhns Debüt. Auf einer leeren Bühne im schwarzen Theaterraum unternimmt die Regisseurin eine Art kollektive Anamnese über einen vergangenen Me-Too-Vorfall. In gestageten Szene markieren die Schauspielerinnen
Bühnen-Situationen der Nötigung, wenn der Theater-Regisseur sie zum Äußersten bringt oder den Willen bricht – für manche Regieführende immer noch das Mittel der Wahl – und Nacktheit ohne Einverständnis fordert. In der experimentellen Direktheit erinnert das an Andres Veiels Die Spielwütigen, vielleicht sogar an Lars von Triers Dogville oder an Rithy Panhs Aufarbeitungen des Roten-Khmer-Traumas. Die Reduktion zieht auf jeden Fall in den Bann. (Dunja Bialas)
HOLGUT (BE 2021, R: Liesbeth De Ceulaer) (DOK.international)
Ein Film aus dem Zwischenreich von Fiktion und Dokumentation. Der Film, der in Nyon Weltpremiere zusammen mit dem wichtigen CPH:Dox-Festival feierte (was von einer interessanten Offenheit beider Festivals zeugt), spielt in der sibirischen Tundra. Ein Vater weiht seinen Sohn in die Geheimnisse der Jagd
ein, Ziel ist das wilde Rentier – das sie aber nicht finden können. Stattdessen stoßen sie auf eine neue Sorte Goldgräber, die im allmählich auftauenden Permafrost nach alten Mammut-Knochen und –Stoßzähnen suchen, um sie zu Geld zu machen. Das Treiben der Männer ist dysphorischer Science-Fiction, diese Mammut-Funde gibt es nicht, sie könnte es aber geben. Überhöht wird alles von einer mystifizierenden Legende. (Dunja Bialas)
HUNTER FROM ELSEWHERE – A JOURNEY WITH HELEN BRITTON (DE 2021, R: Elena Alvarez Lutz) (Weltpremiere)
In der Local-Heroes-Sektion des DOK.fest »Münchner Premieren«, in der es keinen Blumentopf zu gewinnen gibt, versteckt sich ein tolles Filmjuwel, das unter der Hand in Weltpremiere gezeigt wird. Die australische Künstlerin Helen Britton hat seit über zwanzig
Jahren ein Atelier in München, in welchem sie Schmuckstücke anfertigt, die Alltagsmaterial mit Preziosen verbindet. Was heißt schon Schmuckstücke? Kunstwerke, Skulpturen in Stein, Kettenglieder und verstecktes Gold. Inspiriert wird die in der internationalen Schmuckszene eminente Künstlerin von ihrer industriell geprägten Heimatstadt Newcastle in Australien. Unter der Kamera von Elena Alvarez offenbart sich der Blick, unter dem alles Profane Kunst und kunstvoller Schmuck
werden kann. (Dunja Bialas)
JUDY VERSUS CAPITALISM (CA 2021, R: Mike Hoolboom) (DOK.guest Kanada)
Einer der bekanntesten Experimentalfilmemacher Kanadas versucht hier zumindest zunächst im Off-Ton den Anschein zu erwecken, er würde sich diesmal dem Dokumentarischen zuwenden. Es geht um häusliche Gewalt, Abtreibung und Missbrauch, Emotion und Erinnerung. Dazu assoziative Bilder, diffus
könnten sie eine Kindheit, die Kindheit von der sprechenden Judy meinen. Judy: Das ist Judy Rebick, Aktivistin in eigener Sache. (Dunja Bialas)
KOMÚNA (SVK, CZE 2020, R: Jakub Julény) (DOK.international)
Formal und analytisch starke Aufarbeitung des Gundermann-Dilemmas: Wie geht man nach dem Untergang des Sozialismus mit dem Bekanntwerden von Verrat in den eigenen Reihen um? Eine Untergrund-Gruppe rund um den
Künstler, Philosophen und Politiker Marcel Strýko versucht nach Jahrzehnten das Unmögliche – zu verzeihen, aber nicht zu vergessen. Deutlich wird dabei jedoch auch, dass Sprechen nicht immer hilft und vor allem nicht immer möglich ist und dass der eigentliche Feind dann vielleicht doch die durch populistische Politik verführte Mehrheit des slowakischen Volkes gewesen
ist. (Axel Timo Purr)
DIE KUNST DER FOLGENLOSIGKEIT (DE/AT 2021, R: Jakob Brossmann, Friedrich von Borries) (DOK.deutsch)
Ein Film über einen Filmemacher, der einen Film macht und daran scheitert. Oder: Ein Film über die »Kunst der Folgenlosigkeit«, die Architekt Friedrich von Borries letztes Jahr bekannt gemacht hat. Oder: Die Inszenierung eines Dokumentarfilms unter dem Deckmantel
des Films im Film, mit Diskurs, Rollensprechen und vorgegebenen Situationen. Oder: Ein verspielter Film, mit einem wunderbaren Albert Meisl als er selbst. Die Rolle, die er am besten kann. (Dunja Bialas)
SOLDATEN (DE 2021, R: Christian von Brockhausen, Willem Konrad) (DOK.deutsch)
Das ist schon eine seltsam Welt: die Bundeswehr. Apparat gewordene Hierarchie und Gleichschaltung: Uniform an, Haare ab, »jeden morgen rasieren«, sagt der mit dem wildesten Bart. Soldaten zeigt den Alltag während der Grundausbildung, schießen, schwimmen, getarnt
durch Wälder rennen. Ein irgendwie zarter Blick, neutral dabei. Zwei von drei porträtierten Soldaten rücken ins Zentrum, beide aus schwierigen Verhältnisse. Für sie ist die Ausbildung eine Chance. Was ist die Bundeswehr heute? Ein klassisch umgesetztes, dokumentarfilmisches Brennglas, ambivalent, mit zartem Score (Deutscher Dokumentarfilm-Musikpreis 2021 für Christoph Schauer). Trotzdem: Komische Welt! (Jens Balkenborg)
WHEN A FARM GOES AFLAME (DE 2021, R: Jide Tom Akinelminu) (DOK.panorama)
Die intensive Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte des Regisseurs, vor allem der gescheiterten Ehe seiner Eltern aus zwei Kulturen, einer dänischen Mutter und eines nigerianischen Vaters überzeugt durch lange, suchende Einstellungen auf Gesichter und ein vorsichtiges, zärtliches
und zugleich nüchternes Hinterfragen so unterschiedlicher Kulturräume und nach den fragilen Möglichkeiten eines erfolgreichen Zusammenlebens. Ein wichtiger Beitrag zur Interkulturalität, der über die Unvereinbarkeit von polygamen und monogamen Verhältnissen genauso überzeugend erzählt wie über das Altwerden von Menschen und dem Verblassen ihrer Träume. (Axel Timo Purr)