Deutschland 2021 · 93 min. · FSK: - Regie: Christian Bäucker Drehbuch: Christian Bäucker Kamera: Joanna Piechotta Schnitt: Michelle Barbin |
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Stille Heimat, heimatloses Stillleben | ||
(Foto: 36. DOK.fest@home) |
»Dass man sich verliert, ist noch nicht schlimm, sondern dass man sich hinterher nicht wieder zurechtfinden kann.« – Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Mit der DDR und ihrer Bevölkerung ist es wie mit einer langen Paarbeziehung, die im Streit auseinandergegangen ist und bei der die Partner sich erst nach vielen Jahren wiederbegegnen und darauf besinnen, was ihre Beziehung wirklich war und warum sie sich überhaupt verliebt haben. Das lässt sich sehr gut an den Filmen ansehen, die nach der »Trennung« entstanden. Nach absurden, grotesken und lächerlichen »Schuldzuschreibungen« entstehen seit einigen Jahren Filme ohne jede Ostalgie, die einen deutlich differenzierteren, »empathischeren« Blick auf das »andere« Deutschland werfen, als es die Filme in den Jahrzehnten davor getan haben. Ich denke dabei an Dresens Gundermann, Goldsteins Adam und Evelyn, Fritzi – Eine Wendewundergeschichte oder Annekatrin Hendels Familie Brasch und Schönheit & Vergänglichkeit, Kleinerts Lieber Thomas oder erst kürzlich Aelrun Goettes In einem Land, das es nicht mehr gibt.
In diese Kategorie fällt auch die Dokumentation Heimatkunde von Christian Bäucker. Bäucker bedient sich in seinem Film des vielleicht berühmtesten literarischen Tricks, der seine Vervollkommnung in Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« erfahren hat, in dem der Erzähler durch den Geruch und das Aussehen einer einfachen Madeleine seine komplexe Vergangenheit wieder vor Augen sieht. Bäucker hat zwar keine buttrige, wohlduftende Madeleine, aber dafür ein ganzes Schulgebäude. Ein Schulgebäude, das zu DDR-Zeiten und bis zur Schließung 1997 eine funktionierende Schule war und danach in einen Dornröschenschlaf gefallen ist. Ein Dornröschenschlaf, den das Gebäude besser als etliche andere »Altlasten« der DDR überstanden hat und das Bäucker mit seinem Film zu neuem Leben erweckt.
Der Prinz, der dies bewerkstelligt, ist jedoch nicht Bäucker allein, sondern das Personal seines ruhigen, intensiven, völlig vorurteilsfreien Films, in dem ehemalige Schüler und Lehrer der 1970er und 1980er Jahre an ihre Schule zurückkehren, um wie Proust durch seine Madeleine über die Räume, ihre Utensilien, alte Bücher und Plakate und den Geruch ihrer alten Schule an eine verlorene Zeit, ein verlorenes System, eine verlorene Gesellschaft erinnert zu werden. Dabei merken sie, wie sehr sie selbst noch Teil dieser verlorenen Zeit sind, dass sie auch Versehrte sind, die einen Teil ihrer Persönlichkeit unwiederbringlich verloren haben.
Bäucker und die so hypnotische wie sezierende Kamera von Joanna Piechotta lassen sich dafür Zeit, nehmen die Außenräume so wie die Innenräume und die Menschen in langsamen, formal intensiven und starken Annäherungen wahr und amalgamieren sie über das gesprochene Wort, die Erinnerungen der alten Schüler und Lehrer, zu einem neuen Ganzen. Es ist eine Bewusstseinswerdung, ein therapeutischer Prozess, aus dem jeder der Beteiligten, von denen man durchaus als Zeitzeugen sprechen kann, anders entlassen wird.
Doch bis zu diesem ganzheitlichen, so schönen wie traurigen Ende, schürft sich Heimatkunde in die Bergstollen des DDR-Erziehungssystems und seiner Beteiligten, erzählt von Ehrlichkeit, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit, eine ähnliche Dreieinigkeit wie das symbolische, dreieckige Pioniertuch, das für Elternhaus, Schule und Pionierorganisation stand, die relevanten Koordinaten, um aus einem Kind gute sozialistische Persönlichkeiten zu schaffen.
Schule, davon erzählen alle Beteiligten, war nicht nur Lehr- sondern auch Erziehungsauftrag. Sie konnte Geborgenheit spenden und Stolz vermitteln: »Wir waren Helden!« erinnert sich eine ehemalige Schülerin (Wer das vor allem als »Westler« nicht glauben mag, dem sei die auf dem 37. DOK.fest München im Rahmen der Retrospektive 75 Jahre DEFA 2021 gezeigte Propagandafilm Freundschaft siegt aus dem Jahr 1951 über die III. Weltfestspiele der Jugend und Studenten empfohlen). Die Schule konnte aber auch elternlose Einsamkeit bedeuten, denn die in drei Schichten arbeitenden Eltern gaben ihre Kinder nicht nur schon in aller Früh in der Schule ab, sondern nahmen sie auch erst am Abend wieder in Empfang, so dass eigentlich nur das Abendessen für das familiäre Beisammensein blieb.
Auch Kinder schon im Alter von sechs Jahren für acht Wochen auf Kur zu schicken oder sie für die Sommerferien in das »Ferienspiele«-Programm zu geben, um als Elternpaar mal wieder ein paar Wochen zu zweit allein sein zu können, war nur denkbar, weil es ein Grundvertrauen in das staatliche Erziehungssystem gab, das weit über die ideologische Ausrichtung des Systems Kernfamilie hinausreichte. Es gab wenig, erzählt eine Ex-Schülerin, aber das Wenige war so intensiv, dass es schön war, dass die DDR schön war. Zu dem Wenigen gehörte allerdings auch, dass ein Kind nach langer Kur die Mutter mit Tante ansprach und der ein oder andere mit den drill-artigen Ansprüchen kollidierte.
Bäucker lässt beide Seiten zu Wort kommen. Die, die etwas verloren haben, und jene, die durch das Ende dieser Welt etwas gewonnen haben. Staunen jedoch tun sie alle, denn eine ganze Welt, die nichts anderes als vertraute Heimat war, verloren zu haben, das ist fast so unwirklich wie eine Prinzessin aus langem Schlaf erweckt zu haben.