»Abreißen ist leichter als aufbauen!« |
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Ein Meisterwerk des DDR-Dokumentarfilms: Volker Koepps Leben in Wittstock | ||
(Foto: 36. DOK.fest@home) |
Von Axel Timo Purr
»... To follow the dream, and again to follow the dream – and so – always – usque ad finem...« – Joseph Conrad, Lord Jim
Man könnte bei jedem der auf dem diesjährigen DOK.fest@home gezeigten Filme der Retrospektive 75 Jahre DEFA das Heulen kriegen. So viel Wille, so viel Hoffnung, so viel Mut zu neuen Wegen. Dann aber auch: so viel Versagen, so viel Propaganda, so viel Leid. Dieses komplexe Gefühls-Tohuwabohu mit nur acht, zum Teil sehr kurzen Dokumentarfilmen aus 39 Jahren zu erzeugen, ist schon eine Leistung. Und bei der Auswahl aus immerhin 2250 Dokumentar- und Kurzfilmen des volkseigenen Filmunternehmens der DDR mit Sitz in Potsdam-Babelsberg die richtige Auswahl zu treffen, ist es das erst recht.
Natürlich weniger bei einem Klassiker wie Barbara Winfried Junges erste drei Teile der Kinder von Golzow , der legendären, ältesten Langzeitbeobachtung der Filmgeschichte, die erst 2007 nach 22 Teilen zum Ende kam. Von 1961 bis 2007 begleiteten die Junges die Lebenswege von 18 Menschen der Jahrgänge 1953 bis 1955 und schufen mehr als 70 Kilometer und 45 Stunden
Filmmaterial. Die damit längste Dokumentation der Filmgeschichte endete mit: Und wenn sie nicht gestorben sind…. Im Kern sieht sich der Abschluss wie auch schon die ersten auf dem DOK.fest gezeigten Teile nicht nur als Porträt individueller Lebensgeschichten der Protagonisten, sondern auch als Brennglas der
Geschichte der DDR und ihrer Vereinigung mit der Bundesrepublik Deutschland sowie des gesellschaftlichen Anspruches, den der DEFA-Dokumentarfilm für die DDR darstellte.
Deutlich wird allerdings auch, welche Stellung Schule und Jugend in der BRD-Alternative hatte, eine Stellung, die noch einmal deutlicher, weil auch propagandistischer in Joris Ivens und Iwan Pyrjews DEFA-Klassiker Freundschaft siegt wird, der die im August 1951 zum ersten Mal in Ost-Berlin stattfindenden III. Weltfestspiele der Jugend und Studenten, unter dem Motto »Für Frieden und Freundschaft – gegen Atomwaffen« begleitet. Aus der Zukunft sehen wir jedoch über filmische Propaganda-Techniken, die denen der NS-Zeit in nichts nachstehen, statt Friedensbekundungen die Saat des Kalten Krieges aufgehen und gleichzeitig den fast schon tragischen Versuch, über
nationale Jugendbewegungen eine bessere Welt, auch ideologisch globalisierte Welt zu schaffen. So verblendet scheinen viele Passagen und Pläne, so sehr vom Wissen unserer heutigen Gegenwart widerlegt, dass der Film immer wieder nicht nur an die ideologische und wissenschaftliche Schmerzgrenze geht. Gleichzeitig gibt er jedoch auch eine Ahnung davon, wie wir in 70 Jahren von unserer Zukunft rezipiert werden könnten, denn die Gegenwart ist und muss vielleicht auch immer eine sein,
die sich selbst verkennt, um über Try & Error-Prozesse weitergehen zu können.
Weniger bekannt als das allein schon durch den Fluss der Zeit bewegende Langzeitdokument der Junges ist ein anderes Langzeitprojekt, der großartige Wittstock-Zyklus von Volker Koepp. Hier setzt die filmische Beobachtung im Jahr 1974 ein, als Koepp erstmals in der märkischen Kleinstadt Wittstock an der Dosse dreht. Er konstatiert eine außerordentliche Aufbruchsituation: Der VEB Obertrikotagenbetrieb »Ernst Lück« wird vor den Toren der Stadt aufgebaut, 1.000 Arbeiterinnen sind hier schon tätig, 3.000 sollen es werden. Der erste, nur 19 Minuten lange Film Mädchen in Wittstock führt drei dieser Arbeiterinnen als Protagonistinnen ein, die Koepp 22 Jahre lang filmisch begleiten wird, von den ersten Berufsjahren in der DDR bis in die Umbruchzeit der 90er Jahre. Die Retrospektive hat sich für den Mittelteil aus dem Jahr 1984 entschieden, für Leben in Wittstock, in den Teile der früheren Filme montiert wurden, um die bisherigen Lebenslinien besser zu verstehen. Deshalb wird auch hier schon deutlich, dass der Anspruch und die Realität einer neuen, emanzipierten DDR-Frau nicht immer übereinstimmten, aber nichtsdestotrotz dafür gekämpft wurde, an den akribisch gefilmten, futuristischen Produktionsbändern, an denen die Frauen arbeiten wie auch in den Betriebsversammlungen. Subtil und in seinen typisch ruhigen, langen Einstellungen und intensiv fokussierten Gesichtern und Arbeitsprozessen macht Koepp aber auch deutlich, dass Frauen die Arbeitsprozesse nicht »besser« machen, dass im Kern auch hier das kapitalistische Ethos des Konkurrenzsystems dominiert. Wer sich diesen Film ansieht, sollte unbedingt auch die beiden abschließenden Arbeiten des Zyklus ansehen, den düsteren 1991/1992 entstandenen Neues in Wittstock und den Schwanengesang Wittstock, Wittstock, in dem wir Renate, Edith und Elsbeth von stolzen Arbeiterinnen zu Gelegenheitsjoberinnen »abgewickelt« sehen. Und wie in allen Koepp-Filmen entsteht auch hier trotz des sichtlich neuen Filmmaterials (auch ORWO wurde ja abgewickelt) eine sogartige Intensivität, auch durch Koepps Kommentare aus dem Off, die immer wieder an einen anderen Granden den deutschen Films erinnern, an Werner Herzog.
Auch zwei weitere, kürzere Filme erzählen von neuen Rollenmodellen der Frau in der damaligen DDR. Kann Gitta Nickels faszinierender, 30-minütiger »Spaziergang« Sie der Gynäkologin Gisela Otto durch das »VEB Textilkombinat Treff-Modelle Berlin« trotz »westlicher« Pop-Elemente und überraschend direkter Gespräche mit Arbeiterinnen unterschiedlicher Altersklassen über Gleichberechtigung und Sexualität den propagandistischen Charakter nicht ganz abwerfen, so ist Jürgen Böttchers 56-minütiges Porträt der 68-jährigen Bauarbeiterin Martha eine wirkliche Wucht. Wir beobachten Martha bei der täglichen Arbeit, sehen Schuttberge in winterlicher Landschaft, das endlos laufende Band, an dem Martha den ankommenden Schutt sortiert. Es sind Marthas letzte Arbeitstage. Nach dem Abschied von den Kollegen und einer der bizarrsten Kaffee- und Kuchengesellschaften der deutschen Filmgeschichte bleibt Martha allein in der Baubude zurück, erzählt von ihrem Leben, vom zerbombten Berlin, von den tapferen Kindern, von ihrer Arbeit als Trümmerfrau. Das berührt nicht nur wegen der burschikosen Souveränität dieser Frau, die den heute so altertümlich und ideologisch verbrannten Ausdruck »Proletarierin« fast schon kongenial verkörpert, sondern auch wegen ihrer Modernität, denn wo bitte gibt es heute auf einer Baustelle so eine Frau wie Martha!? Aber auch die Kamerafahrten über die Baustelle, die ungewöhnlichen, immer wieder überraschenden Kameraeinstellungen bei der Porträtierung von Martha und ihren Kollegen (sei es im Bagger oder am Band oder der Baubude) in den typischen, unnachahmlich trist-pastelligen ORWO-Color-Farben zeigen immer wieder auch, dass Böttcher nicht nur für die DEFA wegweisende Filme gedreht hat, sondern auch als Maler nicht nur aktiv, sondern überaus erfolgreich war.
Anders als Böttcher, der trotz immer wieder auch bei den Behörden aneckender Eigenwilligkeit sein Ding machen konnte, war für die Filmemacherin Sibylle Schönemann und ihren Mann Mitte der 1980er nach zahlreichen Projektabsagen ein Punkt des Stillstands erreicht, der sie dazu bewog, einen Ausreiseantrag zu stellen. Daraufhin wurde sie im November vom Ministerium für Staatssicherheit verhaftet und einige Monate später von der BRD freigekauft. Nach der Wende besuchte Sibylle Schönemann 1990 den Kongress des Verbandes der Film- und Fernsehschaffenden der DDR. Hier entstand die Idee, gemeinsam mit der DEFA eine Dokumentation über ihre Haftzeit zu machen, ihren später preisgekrönten Film Verriegelte Zeit. Sie kehrt dafür in die DDR zurück, sieht an der Grenze Bauarbeiter die Grenzanlagen abreißen, die sie vor Jahrzehnten noch mit aufgebaut haben und auf Schönemanns Frage hin lakonisch kommentieren: »Abreißen ist leichter als aufbauen!« Sie kehrt an die Orte ihrer Festnahme und ihrer Haftanstalt zurück, spricht mit den »Tätern« von damals, auch mit den damals Verantwortlichen bei der DEFA, die allerdings alles andere als einsichtig sind, sondern nur die schon aus NS-Zeiten bekannte Erfüllung ihrer Pflicht und bestehender Gesetze vorschieben, um die zermürbende Gesprächssituation und die sichtliche Betroffenheit von Schönemann zu deeskalieren.
Dieser so ernüchternde wie distanzlose zeitliche Abschluss der Retrospektive sollte allerdings mit einem Film kombiniert werden, der nicht in der Retrospektive läuft, weil er kein DEFA-Film und erst jetzt, 30 Jahre später entstanden ist, aber ebenfalls auf dem diesjährigen DOK.fest@home läuft und der fast ideale Schlusspunkt der Retrospektive ist. Denn Christian Bäucker lässt in Heimatkunde ehemalige Schüler an ihre alte DDR-Schule zurückkehren und begibt sich mit ihnen auf eine völlig vorurteilsfreie Suche nach einer verlorenen Zeit und Heimat. Sein Film ist nicht nur eine erzählerisch und formal überzeugende Annäherung an das Bildungssystem der DDR, sondern auch ein emotionaler, therapeutischer Prozess, den man den noch lebenden Protagonisten der in der Retrospektive versammelten Filme nur wünschen kann.