15.07.2021

Knick in der Pupille

A Pure Place
So banal wie ärgerlich: A Pure Place
(Foto: Filmfest München)

Den Förderpreis Neues Deutsches Kino für Regie des 38. Filmfest München erhält überraschend ein schmockiger »Theaterfilm« – aber in einem starken deutschen Jahrgang gab es auch würdige Preisträger

Von Axel Timo Purr

Auch dieses Jahr war wie das vorletzte Jahr ein gutes Jahr für das neue deutsche Kino auf dem Filmfest München.

Es wurde über­zeu­gend Vergan­gen­heits­be­wäl­ti­gung geübt (Schat­ten­stunde), die aktuellen Iden­ti­täts­de­batten facet­ten­reich präsen­tiert (Ivie wie Ivie, Trans – I Got Life), sich an alten DDR- und Post-DDR-Clustern aufregend abge­ar­beitet (Nahschuss, Lieber Thomas, Das Mädchen mit den goldenen Händen), mal weniger und mal mehr über­zeu­gend Bezie­hungs­ar­beit geleistet (Genera­tion Bezie­hungs­un­fähig, Viva Forever, , Monday um zehn, Heikos Welt) – ein aufre­gendes Panop­tikum, das in seiner Vielfalt unser Leben, unsere Gesell­schaft, Vergan­gen­heit und Gegenwart nicht nur darstellt, sondern im besten Fall auch unbe­wusste Strö­mungen anzapft und mehr über unsere Zukunft erzählt, als uns viel­leicht lieb ist.

Fast alle der hier erwähnten Filme hätten deshalb zwei­fellos einen Preis verdient, man lese dafür nur die begeis­terten Kurz­kri­tiken, die wir im Verlauf des Festivals vor allem über die deutschen Filme verfasst haben. Und immerhin hat ja Trans – I Got Life den Publi­kums­preis gewonnen, wurde Martin Rohde für seine furiosen Dart-Leis­tungen (in einer auch sonst großar­tigen Futschi-Miljö-Studie) in Heikos Welt ausge­zeichnet, erhielt Mareille Klein für ihren ironi­schen wie ernüch­ternden Blick auf deutsche Befind­lich­keiten in Monday um zehn den FIPRESCI-Preis, gewann Franziska Stünkels düstere DDR-Abrech­nung Nahschuss den Dreh­buch­preis Neues Deutsches Kino und Miriam Düssels Mutter-Sohn-Road-Movie Mein Sohn den Preis für die beste Produk­tion.

Den mit 30.000 Euro höchst­do­tierten Förder­preis, den für die beste Regie, erhielt aller­dings ein Film, der im artechock Kurz­kritik-Spiegel nicht sonder­lich hervor­stach und für den inter­es­sierten Kinogeher eher ein Ärgernis war. Denn Nikias Chryssos, der mit seinem Lang­film­debüt, der Groteske Der Bunker (2015), zahl­reiche Preise gewinnen konnte, nimmt sich – mit einer sehr ähnlichen Fixierung auf das Groteske – des an sich aufre­genden und inter­es­santen Themas »Sekte« an. Man denke nur an Zal Batman­glij psycho­lo­gisch akkurate und spannende Sekten­ab­rech­nung Sound of My Voice! Aber Chryssos inter­es­siert weder Psycho­logie noch Spannung. In seinem Gedan­ken­spiel A Pure Place nimmt er sich einer Sekte an, die sich auf einer grie­chi­schen Insel einem Seifen­kult verschrieben und die üblichen Hier­ar­chien und Grau­sam­keiten etabliert hat, die man aus dem Sekten-ABC so kennt.

So banal wie unin­ter­es­sant insze­niert, so weit entfernt von real-gesell­schaft­li­chen Bezügen wie es nur geht, scheint die »Theater-Jury« um Sophie von Kessel (Schau­spie­lerin), Komi M. Togbonou (Schau­spieler und Münchner Kammer­spiele-Ensem­ble­mit­glied) und Barbara Mundel (Inten­dantin der Münchner Kammer­spiele) dann aber wohl gerade an den aufge­setzten, nur allzu offen­sicht­li­chen Anspie­lungen auf das antike Theater Gefallen und viel­leicht ein bisschen beruf­liche Heimat gefunden zu haben. Und wohl auch an der sichtlich bemühten, an schlechte Theater-AGs erin­nernden Schau­spie­lerei. Doch all das und die abstrusen Leer­stellen und noch abstru­seren Verweise scheinen die Jury tatsäch­lich berührt und zu einer der verschwur­beltsten Jury-Begrün­dungen (des an sich ja schon legendär-verquasten Formats »Jury-Begrün­dung«) inspi­riert zu haben, die es in letzter Zeit gab. Eine Begrün­dung, die letztlich aber immerhin genau dem entspricht, was Chryssos uns in seinem Film zeigt:

»Nachdem wir alle so lange nicht mehr im Kino waren, ist uns als Jury in dieser Woche noch bewusster geworden, wozu Kino in der Lage ist. Durch eindrucks­volle Bilder, die vor Phantasie strotzen und Bilder, die mit filmi­schen Effekten aufge­laden sind, wurde uns wieder klar, was man vom Kino erwarten darf: Alles, was fehlt, viel­leicht im Leben jedes einzelnen!
Das Unge­wöhn­liche, auch das mitunter Verstö­rende, gespickt mit Visionen des Unvor­stell­baren.
Wir als Jury hatten die Aufgabe, den Förder­preis Regie nach diesen Kriterien auszu­wählen, und dazu gehörte in diesem Fall auch ein großartig geführtes Kinder­en­semble. Wir haben uns daher entschieden, den Förder­preis Neues Deutsches Kino in der Kategorie Regie an A Pure Place von Nikias Chryssos zu vergeben. Herzliche Gratu­la­tion!«