Tanz mit dem Tiger |
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Im Ausnahmezustand: Karen Cinorres Mayday war einer der ergreifendsten Filme | ||
(Foto: IFFR / Tjasa Kalkan) |
Von Dunja Bialas
Das Filmfestival von Rotterdam erkennt man sofort am Tiger. Das Icon mit dem stilisierten Raubtierkopf ist eine Hommage an die Hafenstadt, in die viele Einwanderer aus Asien kamen. Wenn im Januar das Festival sonst immer in der zugigen Architekturmetropole stattfand, konnte man durch die Luken des abgedunkelten Sichtungsraums die Neujahrsumzüge der einheimischen Chinesen bewundern, die mit lautstarken Trommeln und roten Lindwurm-Drachen durch die Straßen zogen und das neue Jahr begrüßten.
Jetzt trommelt nichts. Nur ich ab und zu im Shutdown auf dem Balkon, aber nicht, um gegen die nun schon fast zwei Monate dauernde Söder-Ausgangssperre zu protestieren, sondern weil ich die balzenden Tauben vom Balkon vertreiben will. Mit Backblech und Nudelholz geht das ganz gut. Abgedunkelt ist es auch im privaten Sichtungsraum. Dämmriges Licht, den ganzen Tag. Eine ganze Woche geht das so, nur unterbrochen durch die Störgeräusche des Alltags. Ja, es hat etwas Überwältigendes, das Tiger-Logo auf dem Laptop wie eine Morgensonne aufgehen zu sehen. Der runde Tiger-Kopf schiebt sich über den ganzen Screen, ein maßstabsgetreues Modell der haushohen Leinwand des gigantischen Rotterdamer Pathé-Kinos. Seufz. Aber besser als nichts.
Rotterdam geht in dieses neue, für das Kino unheilvoll beginnende Jahrzehnt mit Vanja Kaludjercic, der neuen Leiterin des Festivals, bereits die vierte seit dem Weggang von Simon Field im Jahr 2004. Sie hat ihr Einstandsjahr, das auch das 50. Jahr von Rotterdam ist, ohne Umarmung, ohne Partys, ohne Publikumskontakt zu meistern, begrüßt die zugeschalteten Regisseurinnen und Regisseure tapfer im Festival-Fernsehstudio. Kaludjercic kommt direkt von der Londoner Streaming-Plattform Mubi, das macht sie zur Idealbesetzung für eine Online-Festivalausgabe. Davor arbeitete sie u.a. für das Filmfestival Sarajevo und das auf europäischen Arthouse spezialisierte Filmfestival »Les Arcs«. Sie ist also gut in alle europäischen Richtungen vernetzt, hängt aber zumindest biographisch der Interkontinentalität des Festival-Gründers Hubert Bals mit seinem Faible für Asien oder der Afrika-Obsession von Rutger Wolfson hinterher.
Kaludjercic aber schlägt zumindest in diesem 50. Jahr nicht den Pfad ihres Vorgängers Bero Beyer ein, der das Festival vor allem für das Rotterdamer Publikum populär machte. Das empfindlich gekürzte Online-Programm muss zwar ohne Retrospektiven und Spezialreihen auskommen, weggefallen sind aber auch die Best-of-Festivals-Filme, die als niederländischen Preview immer für einen großen Andrang gesorgt hatten, für die internationalen Festivalbesucher aber uninteressant waren, weil »schon durch«. Die hatte man schon gesehen, und Beyer, der diese Entwicklung forciert hatte, hatte damit den internationalen Stellenwert von Rotterdam deutlich geschwächt.
Die Verschlankung des Programms in der Online-Ausgabe schärft also wieder das Profil und lenkt die Aufmerksamkeit nun plötzlich auf das eigentliche Herzstück des Festivals: die Tiger Competition. Sechzehn Filme des Nachwuchs sind hier zu sehen, die innovativ sind und das Abenteuer, zu neuen kinematographischen Gefilden aufzubrechen, erlebbar machen.
Die beiden aufregendsten Spielfilme des Wettbewerbs waren Pascal Tagnatis Debüt I Comete – A Corsican Summer und Karen Cinorres Mayday, eine amerikanische Produktion, jedoch in Kroatien mit kroatischem Team gedreht. Beide führen in die Extreme der Existenz.
I Comete (»Die Kometen«) – mit dem Special Jury Award ausgezeichnet – ist ein loses Portrait der korsischen Einheimischen, wenn sie sich im Sommer in ihren Dörfern wiedersehen. Die Abwesenheit von Touristen ist auffällig, die Sommerrituale erinnern immer wieder auch an Miguel Gomes’ Our Beloved Month of August (2015). I Comete erzählt vom Nebeneinander der Alten, die noch Korsisch sprechen, von den nach der Kolonialzeit heimisch gewordenen Afrikanern, oder den sich nach Frankreich orientierenden Jugendlichen. In statischen Tableaux gruppiert Tagnati seine Figuren meist im Mittelgrund des Bildes. Sie bleiben auf Distanz, die Szenen wirken dadurch wie zufällig eingefangen, werden eins mit der Landschaft, dem Dorfplatz, den Stränden, der Felsküste oder dem abgedunkelten Zimmer. Erst ganz allmählich schälen sich aus diesem atmosphärischen Figurenkaleidoskop so etwas wie Protagonisten heraus. Ein Ruhepol unter den hungrig den Sommer feiernden Jugendlichen sind die stillen Zusammenkünfte zwischen der weißhaarigen Lucienne und ihrem schwarzen Adoptivenkel François-Régis. Ein junges Mädchen bietet sich am Kieselstrand an, eine unsichtbare Webcam sieht sie, aus dem Off eine unheimliche Männerstimme. Im Dorf unterhält man sich über die Einsamkeit, die Liebe und die Eifersucht. Oder über Fußball. Meist bleibt es trivial, es sind leichte Sommergespräche.
Der wie ein planetarisches System komponierte I Comete, in dem die Figuren sich wie auf einem unsichtbaren Orbit bewegen, während sie sich auch um sich selbst und andere drehen, gehört zum sogenannten »Hyperlink Cinema« (Roger Ebert). Komplexe, multiperspektivische und multilineare Erzählstrukturen vereinen sich in I Comete zum Deleuze’schen Rhizom, bleiben gleichzeitig ohne stringente Handlung. Das wirkt alles wie beiläufig eingefangen, fast dokumentarisch. Immer wieder fühlt man sich auch an Virgil Verniers Filme über lose Gemeinschaften erinnert, an den futuristischen Mercuriales (2014) oder den politischen Sommerfilm Sophia Antipolis (2018).
Auch Karen Cinorres Spielfilmdebüt Mayday nimmt den Weg des Hyperlinks, mit der fantastischen Fluchtlinie aus einer eher bodenständigen Rahmenhandlung über gastronomische Hochzeitsvorbereitungen. Ähnlich wie Alice im Wunderland gerät die Protagonistin Ana (Grace Van Patten), die als Bedienung im streng geführten Cateringteam arbeitet, im Moment eines mit Elektrizität aufgeladenen Sturms auf die »andere Seite des Spiegels«. In ihrem Fall wird sie in die Röhre des Großküchen-Backofens gesogen, ein heftiger Wasserstrudel spült sie auf eine Insel. Dort führt eine martialische Einheit von jungen Frauen gegen einen Männertrupp Krieg. Erotische Annäherungen zwischen den kampfbereiten Frauen deuten sich an, während sich die Binarität der Geschlechter zum War of Genders steigert. Das ist kraftvoller Girls'-Riot-Spirit und modernes Amazonen-Phantasma, Utopie von einer sich selbst genügenden, männerlosen Existenz der Mädchenjahre. Wie im Fiebertraum wirkt diese unwahrscheinliche Gemeinschaft, für immer isoliert von der Unmöglichkeit, diesen wieder zu verlassen und aufs kontinentale Festland der Gewissheiten zu gelangen. Ana gelingt am Ende die Flucht durch das strömende Meer. Mitgegeben wurde ihr der Satz: »Float until you feel the current weaken.« – Und damit schwappt man auf einmal auch wieder zurück in das eigene Wohnzimmer, wird sich wieder des Corona-Shutdowns bewusst und versteht Mayday plötzlich auch als Allegorie auf den eigenen Ausnahmezustand. Sich nicht gegen den Strom wehren, sondern sich von ihm treiben lassen, bis man wieder festen Boden unter den Füßen hat. Plötzlich steht da ganz viel Trost im Raum.
Die Kamera von Mayday hat Sam Levy geführt, der aus dem Indiewood-Umfeld von Greta Gerwig und Noah Baumbach stammt und bereits Frances Ha oder Lady Bird fotografierte. Seine Bilder sorgen für den Sog, mit dem der Film in den Bann zieht, ebenso wie das konzentrierte Spiel des hochkarätigen Nachwuchscasts um Grace Van Patten (Under the Silver Lake, The Meyerowitz Stories), die dominante Riot’s-Girl-Anführerin Mia Goth (Suspiria, High Life) oder die französische Sängerin und Tänzerin SoKo. Sie alle spielen mit kraftvoller Verve. Choreographiert hat die belgische Tanzkompanie Rosas, bekannt für ihre Highperformance. Mayday ist physisches Kino, das phantasmatisch abhebt und tiefgründig berührt.
Deutlich als Corona-Allegorie inszeniert war El Perro Que No Calla der Argentinierin Ana Katz. In Schwarzweiß entwirft sie die Dystopie einer plötzlich auf die Menschen hereinbrechenden unbekannten Seuche. Alle können sich nur noch geduckt im Watschelgang fortbewegen, richtet man sich auf, wirft einen eine unsichtbare Substanz um. Um sich zu schützen, behelfen sich die Menschen mit einer Art Taucherglocke. Die Epidemie dauert länger, als die Regierung zunächst gehofft hatte. Alle sehnen sich nach dem normalen Leben zurück, die Kinder aber kennen es gar nicht mehr anders.
Wenn auch die Parallelen zu Corona allzu deutlich sind: El Perro ist ein Beispiel, wie vielleicht das kollektive Trauma künftig künstlerisch verarbeitet werden könnte. Als Dystopie, die man durchlebt hat. Der Film, der in der Big Screen Competition lief, gewann prompt den Hauptpreis.
Gewinner der Tiger Competition wurde der indische Pebbles. Vinothraj P.S. inszeniert in seinem minimalistischen Debüt den Gewaltmarsch von einem alkoholkranken Vater mit seinem jungen Sohn. Er will seine Frau zurückholen, oder ihr zumindest die Seele aus dem Leibe prügeln. Der Weg führt durch die staubige Trockenheit von Tamil Nadu, und, ja, nur die Sonne war Zeuge. Zugutehalten kann man dem Film die einfache Linearität und die Reduktion des Erzählten auf das Elementare der menschlichen Triebe. Andererseits geraten allerdings Plot und Figurenzeichnung allzu plakativ, während die Kamera sich ästhetische Überbietungen erlaubt. Das alles wirkt insgesamt zu sehr nach einem Kino der erbaulichen Effekten. Meine beiden persönlichen Gewinner stehen oben.