11.02.2021

Tanz mit dem Tiger

Mayday
Im Ausnahmezustand: Karen Cinorres Mayday war einer der ergreifendsten Filme
(Foto: IFFR / Tjasa Kalkan)

Digital, schlank und konzentriert: Das 50. IFFR richtet unter widrigen Umständen und neuer Leitung einen spannenden Tiger-Wettbewerb mit internationalen Nachwuchsfilmen aus. Für uns die besten: I Comete und Mayday

Von Dunja Bialas

Das Film­fes­tival von Rotterdam erkennt man sofort am Tiger. Das Icon mit dem stili­sierten Raub­tier­kopf ist eine Hommage an die Hafen­stadt, in die viele Einwan­derer aus Asien kamen. Wenn im Januar das Festival sonst immer in der zugigen Archi­tek­tur­me­tro­pole stattfand, konnte man durch die Luken des abge­dun­kelten Sich­tungs­raums die Neujahrs­um­züge der einhei­mi­schen Chinesen bewundern, die mit laut­starken Trommeln und roten Lindwurm-Drachen durch die Straßen zogen und das neue Jahr begrüßten.

Jetzt trommelt nichts. Nur ich ab und zu im Shutdown auf dem Balkon, aber nicht, um gegen die nun schon fast zwei Monate dauernde Söder-Ausgangs­sperre zu protes­tieren, sondern weil ich die balzenden Tauben vom Balkon vertreiben will. Mit Backblech und Nudelholz geht das ganz gut. Abge­dun­kelt ist es auch im privaten Sich­tungs­raum. Dämmriges Licht, den ganzen Tag. Eine ganze Woche geht das so, nur unter­bro­chen durch die Stör­geräu­sche des Alltags. Ja, es hat etwas Über­wäl­ti­gendes, das Tiger-Logo auf dem Laptop wie eine Morgen­sonne aufgehen zu sehen. Der runde Tiger-Kopf schiebt sich über den ganzen Screen, ein maßstabs­ge­treues Modell der haushohen Leinwand des gigan­ti­schen Rotter­damer Pathé-Kinos. Seufz. Aber besser als nichts.

Ein Jubiläums-Festival mit neuer Leitung

Rotterdam geht in dieses neue, für das Kino unheil­voll begin­nende Jahrzehnt mit Vanja Kalud­je­rcic, der neuen Leiterin des Festivals, bereits die vierte seit dem Weggang von Simon Field im Jahr 2004. Sie hat ihr Einstands­jahr, das auch das 50. Jahr von Rotterdam ist, ohne Umarmung, ohne Partys, ohne Publi­kums­kon­takt zu meistern, begrüßt die zuge­schal­teten Regis­seu­rinnen und Regis­seure tapfer im Festival-Fern­seh­studio. Kalud­je­rcic kommt direkt von der Londoner Streaming-Plattform Mubi, das macht sie zur Ideal­be­set­zung für eine Online-Festi­val­aus­gabe. Davor arbeitete sie u.a. für das Film­fes­tival Sarajevo und das auf euro­päi­schen Arthouse spezia­li­sierte Film­fes­tival »Les Arcs«. Sie ist also gut in alle euro­päi­schen Rich­tungen vernetzt, hängt aber zumindest biogra­phisch der Inter­kon­ti­nen­ta­lität des Festival-Gründers Hubert Bals mit seinem Faible für Asien oder der Afrika-Obsession von Rutger Wolfson hinterher.

Kalud­je­rcic aber schlägt zumindest in diesem 50. Jahr nicht den Pfad ihres Vorgän­gers Bero Beyer ein, der das Festival vor allem für das Rotter­damer Publikum populär machte. Das empfind­lich gekürzte Online-Programm muss zwar ohne Retro­spek­tiven und Spezi­al­reihen auskommen, wegge­fallen sind aber auch die Best-of-Festivals-Filme, die als nieder­län­di­schen Preview immer für einen großen Andrang gesorgt hatten, für die inter­na­tio­nalen Festi­val­be­su­cher aber unin­ter­es­sant waren, weil »schon durch«. Die hatte man schon gesehen, und Beyer, der diese Entwick­lung forciert hatte, hatte damit den inter­na­tio­nalen Stel­len­wert von Rotterdam deutlich geschwächt.

Die Verschlan­kung des Programms in der Online-Ausgabe schärft also wieder das Profil und lenkt die Aufmerk­sam­keit nun plötzlich auf das eigent­liche Herzstück des Festivals: die Tiger Compe­ti­tion. Sechzehn Filme des Nachwuchs sind hier zu sehen, die innovativ sind und das Abenteuer, zu neuen kine­ma­to­gra­phi­schen Gefilden aufzu­bre­chen, erlebbar machen.

Plane­ta­ri­sche Gefüge

Die beiden aufre­gendsten Spiel­filme des Wett­be­werbs waren Pascal Tagnatis Debüt I Comete – A Corsican Summer und Karen Cinorres Mayday, eine ameri­ka­ni­sche Produk­tion, jedoch in Kroatien mit kroa­ti­schem Team gedreht. Beide führen in die Extreme der Existenz.

I Comete (»Die Kometen«) – mit dem Special Jury Award ausge­zeichnet – ist ein loses Portrait der korsi­schen Einhei­mi­schen, wenn sie sich im Sommer in ihren Dörfern wieder­sehen. Die Abwe­sen­heit von Touristen ist auffällig, die Sommer­ri­tuale erinnern immer wieder auch an Miguel Gomes’ Our Beloved Month of August (2015). I Comete erzählt vom Neben­ein­ander der Alten, die noch Korsisch sprechen, von den nach der Kolo­ni­al­zeit heimisch gewor­denen Afri­ka­nern, oder den sich nach Frank­reich orien­tie­renden Jugend­li­chen. In stati­schen Tableaux gruppiert Tagnati seine Figuren meist im Mittel­grund des Bildes. Sie bleiben auf Distanz, die Szenen wirken dadurch wie zufällig einge­fangen, werden eins mit der Land­schaft, dem Dorfplatz, den Stränden, der Felsküste oder dem abge­dun­kelten Zimmer. Erst ganz allmäh­lich schälen sich aus diesem atmo­s­phä­ri­schen Figu­ren­kalei­do­skop so etwas wie Prot­ago­nisten heraus. Ein Ruhepol unter den hungrig den Sommer feiernden Jugend­li­chen sind die stillen Zusam­men­künfte zwischen der weißhaa­rigen Lucienne und ihrem schwarzen Adop­ti­venkel François-Régis. Ein junges Mädchen bietet sich am Kiesel­strand an, eine unsicht­bare Webcam sieht sie, aus dem Off eine unheim­liche Männer­stimme. Im Dorf unterhält man sich über die Einsam­keit, die Liebe und die Eifer­sucht. Oder über Fußball. Meist bleibt es trivial, es sind leichte Sommer­ge­spräche.

Der wie ein plane­ta­ri­sches System kompo­nierte I Comete, in dem die Figuren sich wie auf einem unsicht­baren Orbit bewegen, während sie sich auch um sich selbst und andere drehen, gehört zum soge­nannten »Hyperlink Cinema« (Roger Ebert). Komplexe, multi­per­spek­ti­vi­sche und multi­li­neare Erzähl­struk­turen vereinen sich in I Comete zum Deleuze’schen Rhizom, bleiben gleich­zeitig ohne strin­gente Handlung. Das wirkt alles wie beiläufig einge­fangen, fast doku­men­ta­risch. Immer wieder fühlt man sich auch an Virgil Verniers Filme über lose Gemein­schaften erinnert, an den futu­ris­ti­schen Mercu­riales (2014) oder den poli­ti­schen Sommer­film Sophia Antipolis (2018).

Riot’s Girls

Auch Karen Cinorres Spiel­film­debüt Mayday nimmt den Weg des Hyper­links, mit der fantas­ti­schen Flucht­linie aus einer eher boden­s­tän­digen Rahmen­hand­lung über gastro­no­mi­sche Hoch­zeits­vor­be­rei­tungen. Ähnlich wie Alice im Wunder­land gerät die Prot­ago­nistin Ana (Grace Van Patten), die als Bedienung im streng geführten Cate­ring­team arbeitet, im Moment eines mit Elek­tri­zität aufge­la­denen Sturms auf die »andere Seite des Spiegels«. In ihrem Fall wird sie in die Röhre des Groß­küchen-Backofens gesogen, ein heftiger Wasser­strudel spült sie auf eine Insel. Dort führt eine martia­li­sche Einheit von jungen Frauen gegen einen Männer­trupp Krieg. Erotische Annähe­rungen zwischen den kampf­be­reiten Frauen deuten sich an, während sich die Binarität der Geschlechter zum War of Genders steigert. Das ist kraft­voller Girls'-Riot-Spirit und modernes Amazonen-Phantasma, Utopie von einer sich selbst genü­genden, männer­losen Existenz der Mädchen­jahre. Wie im Fieber­traum wirkt diese unwahr­schein­liche Gemein­schaft, für immer isoliert von der Unmö­g­lich­keit, diesen wieder zu verlassen und aufs konti­nen­tale Festland der Gewiss­heiten zu gelangen. Ana gelingt am Ende die Flucht durch das strömende Meer. Mitge­geben wurde ihr der Satz: »Float until you feel the current weaken.« – Und damit schwappt man auf einmal auch wieder zurück in das eigene Wohn­zimmer, wird sich wieder des Corona-Shutdowns bewusst und versteht Mayday plötzlich auch als Allegorie auf den eigenen Ausnah­me­zu­stand. Sich nicht gegen den Strom wehren, sondern sich von ihm treiben lassen, bis man wieder festen Boden unter den Füßen hat. Plötzlich steht da ganz viel Trost im Raum.

Die Kamera von Mayday hat Sam Levy geführt, der aus dem Indiewood-Umfeld von Greta Gerwig und Noah Baumbach stammt und bereits Frances Ha oder Lady Bird foto­gra­fierte. Seine Bilder sorgen für den Sog, mit dem der Film in den Bann zieht, ebenso wie das konzen­trierte Spiel des hoch­karä­tigen Nach­wuchs­casts um Grace Van Patten (Under the Silver Lake, The Meye­ro­witz Stories), die dominante Riot’s-Girl-Anfüh­rerin Mia Goth (Suspiria, High Life) oder die fran­zö­si­sche Sängerin und Tänzerin SoKo. Sie alle spielen mit kraft­voller Verve. Choreo­gra­phiert hat die belgische Tanz­kom­panie Rosas, bekannt für ihre High­per­for­mance. Mayday ist physi­sches Kino, das phan­tas­ma­tisch abhebt und tief­gründig berührt.

Seuche in der Luft

Deutlich als Corona-Allegorie insze­niert war El Perro Que No Calla der Argen­ti­nierin Ana Katz. In Schwarz­weiß entwirft sie die Dystopie einer plötzlich auf die Menschen herein­bre­chenden unbe­kannten Seuche. Alle können sich nur noch geduckt im Watschel­gang fort­be­wegen, richtet man sich auf, wirft einen eine unsicht­bare Substanz um. Um sich zu schützen, behelfen sich die Menschen mit einer Art Taucher­glocke. Die Epidemie dauert länger, als die Regierung zunächst gehofft hatte. Alle sehnen sich nach dem normalen Leben zurück, die Kinder aber kennen es gar nicht mehr anders.

Wenn auch die Paral­lelen zu Corona allzu deutlich sind: El Perro ist ein Beispiel, wie viel­leicht das kollek­tive Trauma künftig künst­le­risch verar­beitet werden könnte. Als Dystopie, die man durchlebt hat. Der Film, der in der Big Screen Compe­ti­tion lief, gewann prompt den Haupt­preis.

Gewinner der Tiger Compe­ti­tion wurde der indische Pebbles. Vinothraj P.S. insze­niert in seinem mini­ma­lis­ti­schen Debüt den Gewalt­marsch von einem alko­hol­kranken Vater mit seinem jungen Sohn. Er will seine Frau zurück­holen, oder ihr zumindest die Seele aus dem Leibe prügeln. Der Weg führt durch die staubige Trocken­heit von Tamil Nadu, und, ja, nur die Sonne war Zeuge. Zugu­te­halten kann man dem Film die einfache Linea­rität und die Reduktion des Erzählten auf das Elemen­tare der mensch­li­chen Triebe. Ande­rer­seits geraten aller­dings Plot und Figu­ren­zeich­nung allzu plakativ, während die Kamera sich ästhe­ti­sche Über­bie­tungen erlaubt. Das alles wirkt insgesamt zu sehr nach einem Kino der erbau­li­chen Effekten. Meine beiden persön­li­chen Gewinner stehen oben.