11.02.2021

Tiger on the Loose

Landscapes of Resistance
Manche Bilder erinnern auch an Eisenstein. Marta Popivodas Landscapes of Resistance
(Foto: © Marta Popivoda, Ivan Markovic. Foto: Dunja Bialas)

Vom Formenzwang des Dokumentarischen losgelöst: Tim Leyendekkers Feast und Marta Popivodas Landscapes of Resistance in der Tiger Competition des 50. IFF Rotterdam

Von Dunja Bialas

Den Tiger von der Leine lassen kann man wohl erst im zweiten Teil des Rotter­damer Festivals. Bereits vor der Berlinale hatte die neue IFFR-Leiterin Vanja Kalud­je­rcic ange­kün­digt, Rotterdam in diesem schwie­rigen Jahr zwei­ge­teilt abhalten zu wollen. Als vor allem für das inter­na­tio­nale Fach­pu­blikum gedachtes Online-Festival, das Anfang Februar die Welt­pre­mieren und inter­na­tio­nalen Premieren der Wett­be­werbe sehen konnte, um sie für den weiteren Festival-Circuit frei­zu­ma­chen. Und als Publi­kums­fes­tival dann im Juni, wenn hoffent­lich die Kinos wieder offen haben dürfen, und man sich zum gemein­samen Filme­sehen auch wieder physisch treffen kann. Ähnlich hat dies die Berlinale verkündet, die in der ersten März-Woche als reines Bran­chen­fes­tival online abge­halten wird und erst im Juni ihr Programm auch dem Publikum zugäng­lich macht.

Ob Online- oder Präsenz­fes­tival, das hat in Zeiten von Corona nicht nur seuchen­hy­gi­en­siche, sondern vor allem auch recht­liche Gründe. So sind digitale Welt­pre­mieren durchaus ein Problem, denn es droht, dass die Filme für den weiteren Festi­val­markt »verbrannt« sind. Ein Ausschluss der Öffent­lich­keit von den Film­vor­füh­rungen, wie es Berlin plant, ist aber auch eine Abkopp­lung des Publikums vom fach­li­chen Interesse. Filme können dann auch irgendwie egal werden, wenn die Presse nicht mehr zeit­gleich mit dem Publikum hyper­ven­ti­liert. Die recht­li­chen Proble­ma­tiken sind auch ein Grund dafür, weshalb Cannes jetzt in den Juli verschoben wird. Einem Kino­be­such wird dann wohl hoffent­lich nichts mehr im Wege stehen, und Thierry Frémaux kann wieder das Kino feiern – und Diskus­sionen um Netflix­pro­duk­tionen entfachen.

Die Humanität des Bösen

Solcherlei Diskus­sionen stellen sich in Rotterdam zum Glück nicht. Die seit 1995 bestehende Tiger Compe­ti­tion ist für den Film­nach­wuchs da, der mit oft expe­ri­men­tellen Formen nach neuen Erzähl­weisen forscht. Das ist kaum bis gar nicht auf Film­för­de­rungs-Stan­dard­for­mate gebracht, selbst in der Kategorie »Festi­val­film« wird man da nicht unbedingt fündig.

Vielmehr zeigen sich die Werke des Wett­be­werbs durchweg sehr eigen­sinnig. Einen Teil der Spiel­filme wird man hoffent­lich auch bald im Kino sehen können. Einige Filme aber bewegten sich auch auf der Grenze von Spiel- und Doku­men­tar­film, wie Tim Leyen­dek­kers Feast. Der Film behandelt den »Groningen HIV-Fall«, der 2007 inter­na­tional für Schlag­zeilen gesorgt hatte. Zwei Männer hatten Orgien abge­halten, die den Namen verdienen. Nicht Corona-»Öffnungs­or­gien«, wie sie jetzt Politiker wie Winfried Kret­sch­mann befürchten. Nein, HIV-Orgien, auf denen unter Drogen­rausch mit Retro­viren infi­ziertes Blut injiziert wird. Vier Männer wurden so infiziert, aller­dings wussten sie, was auf sie zukam – oder doch nicht? Auf jeden Fall waren sie darauf vorbe­reitet, dass der Sex nicht »safe« sein würde. Leyen­dekker reka­pi­tu­liert den Fall entlang der authen­ti­schen unter­su­chungs­rich­ter­li­chen Dokumente, reinsze­niert Verhöre mit den Tätern und stellt Gespräche mit den Opfern nach. Auch eine Virologin kommt zu Wort, die anhand von Tulpen-Viren von deren Rolle bei der Evolution schwärmt. Leyen­dek­kers Film ist so auch prak­ti­zierte Dialektik. Anfangs lässt er intuitive Abwehr­im­pulse zu, macht Platz für die Ansicht, es mit zwei Monstern zu tun zu haben. Nach und nach gelangt er aber zu einem plato­ni­schen Kern des Verbre­chens, der eine womöglich perver­tierte Liebes­vor­stel­lung durch­scheinen lässt, aber den Tätern auch Humanität zurück­gibt.

Die mora­li­sche Grat­wan­de­rung vollzieht Leyen­dekker mit künst­li­chen Eingriffen in die Welt der Dokumente. Vieles erinnert auch an moderne Thea­ter­in­sze­nie­rungen. So sind die nach­ge­stellten Szenen statisch, werden ruhig von den Schau­spie­lern gespro­chen, in einer zweiten Ebene verwan­delt sich der Raum in eine Guck­kas­ten­bühne, wenn die Schau­spieler sich selbst durch einen Spion­spiegel, wie man ihn aus Fern­seh­krimis kennt, beim Disku­tieren beob­achten und kommen­tieren, was sie sagen. Sehr sensibel ist die Interview-Technik, mit der Leyen­dekker die Täter (von Schau­spie­lern verkör­pert) befragt. Immer wieder fragt er nach, bringt den fließenden Übergang von Sex zu Liebe zum Vorschein, und den Irrweg. Leyen­dekker entschul­digt nichts und macht auch nichts nach­voll­ziehbar. Die spontane mora­li­sche Verur­tei­lung wie zu Beginn des Films aber hat sich am Ende deutlich rela­ti­viert, die eindeu­tige Moral der verur­tei­lens­werten Handlung hat viele Schat­tie­rungen ange­nommen.

Natürlich ist es ein Wagnis, dem Bösen Nuancen zu verleihen. Bis wohin ist das Bemühen um Verständnis noch akzep­tabel, wo ist die Grenze? Auch diese Fragen wirft Leyen­dek­kers Film auf. Ein komplexer Essay, der es den Zuschauern, aber auch sich selbst nicht einfach macht und viele Gedan­ken­räume öffnet.

Erin­ne­rungs­strom einer Holocaust-Über­le­benden

Cultural Marxism! Die in Berlin lebende Regis­seurin und Emigholz-Schülerin Marta Popivoda hat mit Land­s­capes of Resis­tance einer der letzten Holocaust-Über­le­benden ein zartes filmi­sches Denkmal gesetzt. Sonja Vujanović ist die Groß­mutter der Co-Autorin des Films, Ana Vujanović, die Filme­ma­cherin Marta Popivoda wiederum deren Partnerin. Zur Zeit des Dritten Reichs kämpfte Sonja Vujanović als Parti­sanin gegen die Nazis, kam nach Auschwitz und überlebte. Zeit­le­bens führte sie ein poli­ti­sches und intel­lek­tu­elles Leben, war eine wache Beob­ach­terin des sich verän­dernden Jugo­sla­wien. Der Film steckt voller inten­siver Erin­ne­rungen. Fotoalben werden durch­blät­tert, sie erzählt mit ihrer alten Stimme, steckt sich dabei immer das mädchen­haft zum Bob geschnit­tene Haar mit einer Spange fest. Sie erzählt, wie alles anfing, von den Büchern, die sie mit ihrem späteren Mann Ivo noch während der Schulzeit getauscht hat, wie sie von deutschen Offi­zieren zusam­men­ge­schlagen wurde. Über zehn Jahre hat Popivoda Sonja Vujanović immer wieder befragt und gefilmt, das Lang­zeit­in­ter­view zeigt sich in der puren Aufzeich­nung der Begeg­nungen. Am Ende verstirbt Sonja Vujanović, sie wurde 97 Jahre alt.

Wenn im Film ihre Erzäh­lungen zu hören sind, schieben sich auch andere Aufnahmen ins Bild. Es sind die titel­ge­benden »Land­s­capes«, Seelen­in­nen­land­schaften, Land­schaften des Wider­stands. Ein rot leuch­tendes Mohnfeld, die graue Maserung einer verwit­terten Holztür, eine Wand mit Rissen, Graffiti. Die Vitrine mit den Büchern, in der sich die Konturen der Parti­sanin spiegeln. Es sind stim­mungs­volle und nahezu roman­ti­sche Erin­ne­rungs­land­schaften, die ganz vage Bezüge zum Erzählten herstellen. Behutsam, ganz allmäh­lich tauchen sie auf und verschwinden wieder, in einem langsamen Strom fast unmerk­li­cher Über­blen­dungen. Ivan Marković hat diese Korre­spon­denz­land­schaften foto­gra­fiert, findet mit seinen Bildern die zweite tragende Ebene des Films, neben den Erin­ne­rungen von Sonja Vujanović.

Anders als in ihrem Debüt Yugo­s­lavia: How Ideology Moved Our Collec­tive Body (2013), das aus Archiv­ma­te­rial kompi­liert war und die Choreo­gra­phie der poli­ti­schen Aufmär­sche, des Wider­stands und der Demons­tra­tionen sezierte, finden sich in Popivodas neuem Film keine histo­ri­schen Aufnahmen. Sie vertraut ganz auf die sugges­tive Kraft von Sonjas Vuja­no­vićs Erzäh­lungen. Der unbe­bil­derte Erin­ne­rungs­strom erinnert an Wang Bings Dead Souls (2018) oder auch an Lech Kowalskis East of Paradise (2005). Wenn Popivoda zeigt, wie Sonja Vuja­no­vićs alter und zerbrech­lich wirkender Körper gewaschen und angezogen wird, wird sinnlich begreifbar, was Geschichte ausmacht. Ihr Körper stand da und hat sich gegen die poli­ti­schen Verhält­nisse aufge­lehnt, nicht nur die Gedanken.

Im persön­li­chen Zugang zur Geschichte von Sonja Vujanović bringt Marta Popivoda auch ihre eigene Geschichte ein. Warum sie aus Serbien wegging, hat auch zu tun mit ihrer queeren Identität. In Berlin kann sie diese ausleben, in Serbien wäre sie ausge­grenzt oder mehr. Soghaft nimmt Marta Popivoda das Leben von Sonja Vujanović in sich auf, im Film und auch ganz buchs­täb­lich.