Tiger on the Loose |
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Manche Bilder erinnern auch an Eisenstein. Marta Popivodas Landscapes of Resistance | ||
(Foto: © Marta Popivoda, Ivan Markovic. Foto: Dunja Bialas) |
Von Dunja Bialas
Den Tiger von der Leine lassen kann man wohl erst im zweiten Teil des Rotterdamer Festivals. Bereits vor der Berlinale hatte die neue IFFR-Leiterin Vanja Kaludjercic angekündigt, Rotterdam in diesem schwierigen Jahr zweigeteilt abhalten zu wollen. Als vor allem für das internationale Fachpublikum gedachtes Online-Festival, das Anfang Februar die Weltpremieren und internationalen Premieren der Wettbewerbe sehen konnte, um sie für den weiteren Festival-Circuit freizumachen. Und als Publikumsfestival dann im Juni, wenn hoffentlich die Kinos wieder offen haben dürfen, und man sich zum gemeinsamen Filmesehen auch wieder physisch treffen kann. Ähnlich hat dies die Berlinale verkündet, die in der ersten März-Woche als reines Branchenfestival online abgehalten wird und erst im Juni ihr Programm auch dem Publikum zugänglich macht.
Ob Online- oder Präsenzfestival, das hat in Zeiten von Corona nicht nur seuchenhygiensiche, sondern vor allem auch rechtliche Gründe. So sind digitale Weltpremieren durchaus ein Problem, denn es droht, dass die Filme für den weiteren Festivalmarkt »verbrannt« sind. Ein Ausschluss der Öffentlichkeit von den Filmvorführungen, wie es Berlin plant, ist aber auch eine Abkopplung des Publikums vom fachlichen Interesse. Filme können dann auch irgendwie egal werden, wenn die Presse nicht mehr zeitgleich mit dem Publikum hyperventiliert. Die rechtlichen Problematiken sind auch ein Grund dafür, weshalb Cannes jetzt in den Juli verschoben wird. Einem Kinobesuch wird dann wohl hoffentlich nichts mehr im Wege stehen, und Thierry Frémaux kann wieder das Kino feiern – und Diskussionen um Netflixproduktionen entfachen.
Solcherlei Diskussionen stellen sich in Rotterdam zum Glück nicht. Die seit 1995 bestehende Tiger Competition ist für den Filmnachwuchs da, der mit oft experimentellen Formen nach neuen Erzählweisen forscht. Das ist kaum bis gar nicht auf Filmförderungs-Standardformate gebracht, selbst in der Kategorie »Festivalfilm« wird man da nicht unbedingt fündig.
Vielmehr zeigen sich die Werke des Wettbewerbs durchweg sehr eigensinnig. Einen Teil der Spielfilme wird man hoffentlich auch bald im Kino sehen können. Einige Filme aber bewegten sich auch auf der Grenze von Spiel- und Dokumentarfilm, wie Tim Leyendekkers Feast. Der Film behandelt den »Groningen HIV-Fall«, der 2007 international für Schlagzeilen gesorgt hatte. Zwei Männer hatten Orgien abgehalten, die den Namen verdienen. Nicht Corona-»Öffnungsorgien«, wie sie jetzt Politiker wie Winfried Kretschmann befürchten. Nein, HIV-Orgien, auf denen unter Drogenrausch mit Retroviren infiziertes Blut injiziert wird. Vier Männer wurden so infiziert, allerdings wussten sie, was auf sie zukam – oder doch nicht? Auf jeden Fall waren sie darauf vorbereitet, dass der Sex nicht »safe« sein würde. Leyendekker rekapituliert den Fall entlang der authentischen untersuchungsrichterlichen Dokumente, reinszeniert Verhöre mit den Tätern und stellt Gespräche mit den Opfern nach. Auch eine Virologin kommt zu Wort, die anhand von Tulpen-Viren von deren Rolle bei der Evolution schwärmt. Leyendekkers Film ist so auch praktizierte Dialektik. Anfangs lässt er intuitive Abwehrimpulse zu, macht Platz für die Ansicht, es mit zwei Monstern zu tun zu haben. Nach und nach gelangt er aber zu einem platonischen Kern des Verbrechens, der eine womöglich pervertierte Liebesvorstellung durchscheinen lässt, aber den Tätern auch Humanität zurückgibt.
Die moralische Gratwanderung vollzieht Leyendekker mit künstlichen Eingriffen in die Welt der Dokumente. Vieles erinnert auch an moderne Theaterinszenierungen. So sind die nachgestellten Szenen statisch, werden ruhig von den Schauspielern gesprochen, in einer zweiten Ebene verwandelt sich der Raum in eine Guckkastenbühne, wenn die Schauspieler sich selbst durch einen Spionspiegel, wie man ihn aus Fernsehkrimis kennt, beim Diskutieren beobachten und kommentieren, was sie sagen. Sehr sensibel ist die Interview-Technik, mit der Leyendekker die Täter (von Schauspielern verkörpert) befragt. Immer wieder fragt er nach, bringt den fließenden Übergang von Sex zu Liebe zum Vorschein, und den Irrweg. Leyendekker entschuldigt nichts und macht auch nichts nachvollziehbar. Die spontane moralische Verurteilung wie zu Beginn des Films aber hat sich am Ende deutlich relativiert, die eindeutige Moral der verurteilenswerten Handlung hat viele Schattierungen angenommen.
Natürlich ist es ein Wagnis, dem Bösen Nuancen zu verleihen. Bis wohin ist das Bemühen um Verständnis noch akzeptabel, wo ist die Grenze? Auch diese Fragen wirft Leyendekkers Film auf. Ein komplexer Essay, der es den Zuschauern, aber auch sich selbst nicht einfach macht und viele Gedankenräume öffnet.
Cultural Marxism! Die in Berlin lebende Regisseurin und Emigholz-Schülerin Marta Popivoda hat mit Landscapes of Resistance einer der letzten Holocaust-Überlebenden ein zartes filmisches Denkmal gesetzt. Sonja Vujanović ist die Großmutter der Co-Autorin des Films, Ana Vujanović, die Filmemacherin Marta Popivoda wiederum deren Partnerin. Zur Zeit des Dritten Reichs kämpfte Sonja Vujanović als Partisanin gegen die Nazis, kam nach Auschwitz und überlebte. Zeitlebens führte sie ein politisches und intellektuelles Leben, war eine wache Beobachterin des sich verändernden Jugoslawien. Der Film steckt voller intensiver Erinnerungen. Fotoalben werden durchblättert, sie erzählt mit ihrer alten Stimme, steckt sich dabei immer das mädchenhaft zum Bob geschnittene Haar mit einer Spange fest. Sie erzählt, wie alles anfing, von den Büchern, die sie mit ihrem späteren Mann Ivo noch während der Schulzeit getauscht hat, wie sie von deutschen Offizieren zusammengeschlagen wurde. Über zehn Jahre hat Popivoda Sonja Vujanović immer wieder befragt und gefilmt, das Langzeitinterview zeigt sich in der puren Aufzeichnung der Begegnungen. Am Ende verstirbt Sonja Vujanović, sie wurde 97 Jahre alt.
Wenn im Film ihre Erzählungen zu hören sind, schieben sich auch andere Aufnahmen ins Bild. Es sind die titelgebenden »Landscapes«, Seeleninnenlandschaften, Landschaften des Widerstands. Ein rot leuchtendes Mohnfeld, die graue Maserung einer verwitterten Holztür, eine Wand mit Rissen, Graffiti. Die Vitrine mit den Büchern, in der sich die Konturen der Partisanin spiegeln. Es sind stimmungsvolle und nahezu romantische Erinnerungslandschaften, die ganz vage Bezüge zum Erzählten herstellen. Behutsam, ganz allmählich tauchen sie auf und verschwinden wieder, in einem langsamen Strom fast unmerklicher Überblendungen. Ivan Marković hat diese Korrespondenzlandschaften fotografiert, findet mit seinen Bildern die zweite tragende Ebene des Films, neben den Erinnerungen von Sonja Vujanović.
Anders als in ihrem Debüt Yugoslavia: How Ideology Moved Our Collective Body (2013), das aus Archivmaterial kompiliert war und die Choreographie der politischen Aufmärsche, des Widerstands und der Demonstrationen sezierte, finden sich in Popivodas neuem Film keine historischen Aufnahmen. Sie vertraut ganz auf die suggestive Kraft von Sonjas Vujanovićs Erzählungen. Der unbebilderte Erinnerungsstrom erinnert an Wang Bings Dead Souls (2018) oder auch an Lech Kowalskis East of Paradise (2005). Wenn Popivoda zeigt, wie Sonja Vujanovićs alter und zerbrechlich wirkender Körper gewaschen und angezogen wird, wird sinnlich begreifbar, was Geschichte ausmacht. Ihr Körper stand da und hat sich gegen die politischen Verhältnisse aufgelehnt, nicht nur die Gedanken.
Im persönlichen Zugang zur Geschichte von Sonja Vujanović bringt Marta Popivoda auch ihre eigene Geschichte ein. Warum sie aus Serbien wegging, hat auch zu tun mit ihrer queeren Identität. In Berlin kann sie diese ausleben, in Serbien wäre sie ausgegrenzt oder mehr. Soghaft nimmt Marta Popivoda das Leben von Sonja Vujanović in sich auf, im Film und auch ganz buchstäblich.