04.02.2021

Widerstands- landschaften und Vexierbilder

Die Hexen des Orients
Sport so, wie man ihn noch nie gesehen hat: Julien Farauts funkelnder Die Hexen des Orients
(Foto: IFFR 2021)

Die Mittel des Kinos: Ein erster Blick auf das Filmfestival von Rotterdam

Von Rüdiger Suchsland

Ein Abenteuer. Das muss das Kino sein, viel­leicht gerade in Zeiten der Pandemie. Ein Abenteuer ist es ganz gewiss in den Filmen des Franzosen Julien Faraut. In Farauts Filmen geht es um Sport. Aber um Sport so, wie man ihn noch nie gesehen hat – fernab von aller Sport­re­por­tage. Vielmehr in der Bild­sprache eines Liebes­films oder eines Spio­na­ge­thril­lers. Vor 3 Jahren, da bezau­berte Faraut im Forum der Berlinale mit einem großar­tigen Doku­men­tar­film über den Tennis­spieler John McEnroe.

Jetzt hat der Regisseur einen funkelnden neuen Film gedreht. Die Hexen des Orients (Trailer)– im Zentrum: Unbe­sieg­bare Super­hel­dinnen. Sie sind die Spie­le­rinnen der japa­ni­schen Damen-Natio­nal­mann­schaft im Volley­ball, die 1964 bei den Olym­pi­schen Spielen in Tokio Gold gewannen. Sie begannen zwar als Betriebs­mann­schaft einer Textil­fa­brik, doch dann holten sie Sieg um Sieg und ihr Rekord von 258 Siegen in Folge ist bis heute unge­schlagen.
Diese Mann­schaft war so populär, dass eine ganze Reihe von Manga-Comic-Figuren, Zeichen­trick­filmen und Anime-Serien auf ihnen basierten.
Dieses Material nutzt der Regisseur, um die Wieder­be­geg­nung des Teams nach fast 60 Jahren zu zele­brieren: Volley­ball, wie man es noch nie gesehen hat.

Animation, Imagi­na­tion und Realität verschmelzen auch in »Archi­pe­lagos«, einer bezau­bernden Suche nach der Seele der fran­zö­sisch-kana­di­schen Provinz Quebec.

Schließ­lich Bebia von Juja Dobrachkou. Nach dem Tod ihrer Groß­mutter kehrt die 17-jährige Ariadna, die als Model arbeitet, für die Beer­di­gung nach Georgien zurück.

Dies sind nur drei Beispiele für die Filme im Wett­be­werb des Inter­na­tio­nalen Film­fes­ti­vals von Rotterdam, dessen 50. Ausgabe am Montag eröffnet wurde, und in ihrer ersten Hälfte nun in Form von Online-Vorfüh­rungen statt­findet.

+ + +

Deutsche Betei­li­gungen gibt es auch. Zum Beispiel in dem irani­schen Film Mitra (Trailer), in dem die deutsch-iranische Schau­spie­lerin Jasmin Tabatabai die Haupt­rolle spielt. Sie spielt eine alte Frau, die vor knapp 40 Jahren, kurz nach der irani­schen Revo­lu­tion ihr Kind in den Wirren des Gesche­hens verlor. Heute, nachdem sie längst im Exil lebt, will sie sich an den Mördern rächen. Sie bekommt die Chance dazu, doch in dem Moment wachsen auch die Zweifel, ob es sich überhaupt um die Täter handelt, und wenn ja: Ob sie schuldig sind oder selbst Opfer??
Mitra ist ein Vexier­bild mit den Mitteln des Kinos. Ein Thriller der Erin­ne­rung, der virtuos Poli­ti­sches mit Melo­dra­ma­ti­schem vermischt.

Und dann ist da noch Land­s­capes of Resis­tance von Marta Popivoda. Die Regis­seurin stammt aus Jugo­sla­wien, lebt aber seit vielen Jahren in Berlin. In ihrem neuen, ihrem zweiten Langfilm reisen die Zuschauer durch die Land­schaften des turbu­lenten Lebens von Sofija Sonja Vujanović, einer 97-jährigen anti­fa­schis­ti­schen Kämpferin, die eine der ersten weib­li­chen Parti­sanen in Jugo­sla­wien und ein Mitglied des Wider­stands im Lager Auschwitz war.
Basierend auf Gesprächen, die Popivoda gemeinsam mit Sonjas Enkelin (und Co-Autorin) Ana Vujanović führte, wandelt sich die Feier des Wider­stands einer Frau zu einem anti­fa­schis­ti­schen Manifest mit den Mitteln des Kinos, das den Hinter­grund des Aufstiegs des Faschismus im heutigen Europa erhellt.

Popivodas erster Doku­men­tar­film, der schlechthin großar­tige, auto­bio­gra­phi­sche Yugo­s­lavia: How Ideology Moved Our Collec­tive Body, wurde bei der 63. Berlinale urauf­ge­führt und später auf vielen Festivals gezeigt. Der Film ist auch Teil der ständigen Sammlung des New Yorker MoMA.

Über die Haupt­themen ihres neuen Films sagte Popivoda in einem Interview: »Ich bin eine femi­nis­ti­sche, queere und anti­fa­schis­ti­sche Künst­lerin und Kultur­ar­bei­terin. Eines der Haupt­an­liegen in meiner Arbeit ist die Beziehung zwischen Erin­ne­rung und Geschichte. Heute bedeutet das für mich, die steigende Flut des Faschismus und die Radi­ka­li­sie­rung der Klas­sen­ge­sell­schaft zu hinter­fragen. Der anti­fa­schis­ti­sche Wider­stand ist das zentrale Thema des Films, und er wird aus zwei Perspek­tiven erzählt. Die Haupt­per­spek­tive ist die von Sonjas Lebens­ge­schichte, die inmitten des Aufstiegs des Faschismus in Europa in den 1930er Jahren beginnt. Sonja ist eine äußerst sugges­tive Erzäh­lerin, die in der Lage ist, ohne Rück­blicke von vergan­genen Ereig­nissen zu berichten. Sie nimmt uns direkt mit in die Atmo­s­phäre und Menta­lität jener Zeit, aus der der anti­fa­schis­ti­sche Wider­stand entstand. Die andere ist die zeit­genös­si­sche Perspek­tive von uns beiden, den Dreh­buch­au­toren – Marta Popivoda und Ana Vujanović – einem queeren Paar und linken Akti­visten aus Belgrad, die nach Berlin ausge­wan­dert sind. Wir haben Sonja über zehn Jahre lang besucht und inter­viewt und ihre Geschichte mit unseren eigenen Erfah­rungen des aufkom­menden Faschismus im heutigen Europa konfron­tiert.«