USA 2020 · 77 min. · FSK: - Regie: Emma Seligman Drehbuch: Emma Seligman Musik: Ariel Marx Kamera: Maria Rusche Darsteller: Rachel Sennott, Molly Gordon, Polly Draper, Danny Deferrari u.a. |
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Im Zentrum des Sturms | ||
(Foto: MUBI) |
Debütfilme haben es in sich. Man denke nur an das gerade in der ARD und ihrer Mediathek gezeigte Erstlingswerk Atlas von David Nawrath, in dem so konzentriert und verzweifelt die Themen Heimat und Familie durchdekliniert werden, dass einem angst und bange wird. Emma Seligmans auf MUBI gelaunchter Shiva Baby steht dem in nichts nach. Auch wenn wir es bei Shiva Baby nicht mit einem düsteren Drama, sondern einer immer wieder auch forcierten Komödie zu tun haben. Und es sich bei Shiva Baby nicht um einen abwesenden, seine Identität suchenden Vater und seinen verlorenen Sohn, sondern eine verlorene Tochter und ihre verkorksten Beziehungen zur Mutter, Freunden und ihrer eigenen Zukunft handelt.
Emma Seligman hat dafür ihren Kurzfilm aus dem Jahr 2018 nach einem mühsamen Finanzierungs-Parcours (von dem sie in einem auf MUBI an den Film gehängten Q&A erzählt) in einen Langfilm transformiert, der mit 77 Minuten zwar immer noch recht kurz ist, sich aber deutlich länger anfühlt.
Das liegt nicht nur an dem exzellenten Cast, der seine Rollen mit Genuss ausspielt, sondern vor allem an Seligmanns messerscharfen Dialogen, die eine jüdische Schiv’a-Feier, also einen »Leischenschmaus« im Zentrum New Yorks, zu einer gruppentherapeutischen Session werden lässt, nach der nichts mehr so ist, wie es vorher war.
Feste als kathartische Methode mit wuchtigen »Wahrheitsmonologen« haben im Film eine lange und reiche Tradition, man denke nur an Ingmar Bergmans fantastisch inszeniertes Fest am Ende von Fanny und Alexander (1982) oder Thomas Vinterbergs Dogma-Urgestein Das Fest (1998), aber mehr noch erinnert Seligmans Fest-Horror an Woody Allens zahlreiche Feier- und Fest-Momente im jüdischen Umfeld New Yorks, in dem wie bei Seligman heckenschützenartige Kreuzverhör- und Dreiecksdialoge (Liebes-) Beziehungen demaskierten und eine so radikale wie (dann und wann auch) nervige Identitätssuche postuliert wurde.
Doch seit Woody Allen und einem Film wie Hannah und ihre Schwestern (1986) sind viele Jahre vergangen und aus den hierarchischen Männer-Frauen-Konstrukten dieser Zeit sind neue Beziehungsmodelle mit nicht weniger schmerzvollen Hierarchien entstanden, die Seligman in Shiva Baby ähnlich direkt und vorurteilslos in den Raum stellt wie Joey Soloway in ihrer Serie Transparent, in der ebenfalls so rabiat, emotional und grotesk über Jewishness, Sexualität und Identitätssuche erzählt wurde wie es Seligman in Shiva Baby tut. Denn so wie Ali in Transparent ringt auch Danielle (Rachel Sennott) mit ihrer Bisexualität und ihrer Ex-Freundin Maja (Molly Gordon), hinterfragt nagend ihre Identität, versucht sich über eine Sugar-Daddy-Beziehung, also eine Art Prostitutions-Light-Variante, mit einem älteren, verheirateten Mann (Danny Deferrari) finanziell, aber auch moralisch zu emanzipieren, gerät dabei jedoch genau wie mit ihren beruflichen Visionen konsequent ins Schlingern und ins kritische Visier ihrer Umgebung, beißt und wird gebissen.
Als ob dieser toxische Beziehungs-Mix nicht schon reichen würde, fügt Seligman ihrem Beziehungs-Tohuwabohu auch noch Danielles Mutter Debbie (Polly Draper) hinzu, die klassische Helikopter-Mutter, die hier allerdings mit ihrem »Bubeleh«-Sprech weniger »Glockenbach«- oder »Berlin-Mitte«-Übermutter als stereotype jüdische Übermutter ist, so wie sie Adam Sandler schon in You Don’t Mess with the Zohan erleiden musste, oder Ronda Fox es im Jewish Journal formuliert: »Helicopters want their children to do well; Jewish Mothers want their children to do good.« Das wirkt zwar dann und wann etwas aufgesetzt und befeuert ein altes, dann doch auch überkommenes und kritisiertes Mutter-Tochter-Modell, doch gelingt Seligman dieser Balance-Akt ausgesprochen gut, findet sie nach jeder musikalisch aufregend aufbereiteten Eskalation wieder zur Ruhe, um Handlung und analytische Klarheit zu finden, wird nach jeder Komik wieder auf Tragik geschaltet, so spielerisch leicht und dann auch völlig überzeugend, dass man ihr die kleinen Übertretungen nur allzu gern verzeiht und nach 77 Minuten eigentlich nur über eins verärgert ist: dass ihr Film schon vorbei ist.
Shiva Baby ist seit dem 11. Juni 2021 auf MUBI abrufbar und auf dem 38. Münchner Filmfest zu sehen.