Belgien/NL/D 2014 · 102 min. Regie: Peter Krüger Drehbuch: Peter Krüger Kamera: Rimvydas Leipus Schnitt: Nico Leunen |
||
Eindrucksvolle Verschmelzung von Realität und Fiktion |
»Wer ist diese Frau? Träume ich sie oder träumt sie mich?« Sie hat ihn nicht gebeten zu kommen, diesen Geist, der umherirrt durch Zeit und Raum, noch immer getrieben von einem Streben nach irdischem Ruhm. Der Franzose Raymond Borremans, der als junger Mann 1928 auszog, um sein altes Leben zu vergessen, verliebte sich in den afrikanischen Kontinent und materialisierte diese Liebe in einer Enzyklopädie über Afrika, die beim Buchstaben »N« aufhört. In N – Der Wahn der Vernunft von Peter Krüger will Borremans' Geist, um Frieden zu finden, sein Werk vollenden. Stattdessen trifft er auf dieses weibliche Medium, das ihm die Folgen seiner Sicht auf den Kontinent zeigt.
N – Der Wahn der Vernunft ist mehr als ein fantastischer Diskurs zweier diametraler Weltanschauungen und von poetischer Ethno-Träumerei weit entfernt. Die klare Erzählstruktur, die Deutungspluralität der Bilder sowie der Texte des bekannten englisch-nigerianischen Autors Ben Okri durchbrechen eindrucksvoll radikal die Trennung zwischen Fiktion und einer Realität auf der Folie der historischen Figur Borremans und der zeitgenössischen Elfenbeinküste.
Die Sucht, die Wunder der Welt um jeden Preis erfassen, erklären und benennen zu müssen – wer sich ihr hingibt, ohne sie zu hinterfragen, kann sich hinter Aktionismus verstecken, Grenzen erschaffen, mit dem »Ich« unbemerkt auch das »Nicht-Ich« definieren. »Ich wollte visualisieren, wie ein enzyklopädischer Gedanke seine Unschuld verlieren kann«, so der Belgier Krüger, der für seinen Film seit 2005 immer wieder an der krisen- und bürgerkriegsgezeichneten Elfenbeinküste drehte. Der Cutter Nico Leunen komponierte die Schönheit gleichwertig neben der Grausamkeit der Bilder des Litauischen Cinematografen Rimvydas Leipus zu einer Art visuell-atonaler Symphonie. Die dokumentarfilmischen Elemente verdammen den Zuschauer zur Passivität und weisen zugleich über sich selbst hinaus. Oder gleicht beispielsweise unser Nachrichtenkonsum, der erst kürzlich noch jede Ebola-Opferzahlenmeldung aus Westafrika verschlang und jetzt andere Krisenherde trotz unverändert dramatischer Seuchen-Situation präferiert, etwa nicht jener Borremans'schen Kategorisierungswut, die sich mit reiner Fakten-Benennung zufriedengibt?
N – Der Wahn der Vernunft offenbare die »tiefe Verbindung von Film und Poesie«, so Ben Okri. Sie ist der künstlerische Gegenentwurf zur Definition, macht aus der Be- eine Entgrenzung, eine »Entwortung«, durch die die Identifikation einer Entwicklung weichen kann. Somit zählt der Film auch zu den bemerkenswerten Bemühungen der Kunst, Worte von der Gefahr der Erstarrung zu befreien – ganz anders, als es einst die Dadaisten oder William S. Burroughs, angeregt von seinem Malerfreund Brion Gysin, 1959 mit seinen Cut-ups unternahm. So wie die Bilder von N – Der Wahn der Vernunft dienen Okris Worte primär nicht der Beschreibung, sondern der Freisetzung von Gefühlen. Sie bringen das Märchen vom ruhelosen Geist in eine Wirklichkeit, dessen Wirkung Wahrheit genug ist.