Mexiko/F 2020 · 86 min. · FSK: ab 16 Regie: Michel Franco Drehbuch: Michel Franco Kamera: Yves Cape Darsteller: Naian González Norvind, Diego Boneta, Mónica Del Carmen, Roberto Medina, Lisa Owen u.a. |
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Anschlag in Komplementärfarben | ||
(Foto: 24 Bilder) |
Im Mittelpunkt steht die Braut im roten Hosenanzug: Zeichen der Extravaganz, der Eigenwilligkeit, des Luxus, aber natürlich auch ein filmisches Signal der Farbdramaturgie.
Die Braut in Rot ist Marianne Novilo, die Feier findet statt in El Pedregal, dem Viertel der Superreichen in Mexico City, im ultra-modernen Anwesen der Familie Novilo, einer Gated-Community-artigen Anlage. An den Eingängen regelt Personal den Einlass. Auf der Straße, vor dem Haus, sind die Autos der Gäste geparkt, die Chauffeure stehen draußen herum, an die Motorhaube gelehnt, oder vertreten sich die Beine, rauchen, warten, während drinnen die Familie und die Verwandten, Freunde und Geschäftspartner in Luxus schwelgen, trinken, tanzen, koksen.
Ein Sittenbild der Dekadenz der Schönen und Reichen also, bei dem sich zunächst allenfalls ein zwischenmenschliches Melodram zwischen Reich und Arm anzubahnen scheint. Ausgerechnet zu diesen Feierlichkeiten taucht nach acht Jahren der ehemalige Hausangestellte Rolando uneingeladen auf, er hatte sich mit einem Restaurant selbständig zu machen versucht, kommt aber nun als Bittsteller, um sich von der Familie eine höhere Summe Geld zu erbetteln, damit er die Kosten für die Herzoperation seiner Frau Elisa aufbringen kann.
Ähnlich wie die Chauffeure steht er demütig am Rande der feiernden Gesellschaft, an der Schwelle zum Anwesen, und wartet, bis ihm vielleicht doch noch mehr als ein Almosen zugesteckt wird, während die Mutter der Braut die dicken Kuverts der Gäste mit den Geldgeschenken für das Hochzeitspaar entgegennimmt und unverzüglich im Safe wegsperrt.
Scheinbar haben die großzügigen Super-Widescreen-Bilder (im Format 2.39:1) von Kameramann Yves Cape (er arbeitete unter anderem für Bruno Dumont, Claire Denis, Bertrand Bonello und Leos Carax) und die fluid-eleganten Kamerabewegungen Platz für alle, auch für die am Rand – auch wenn auffällig immer wieder die Braut in Rot dekorativ in die Mitte der Einstellungen gerückt wird und das luxuriöse Dekor maßgeblich den glossy Look prägt. Das popmoderne Diptychon an der Wand im Wohnzimmer jedoch, eines der jüngsten Gemälde des 1978 geborenen mexikanischen Starmalers Omar Rodríguez-Graham, das im Vorspann schon in einer eigenen Einstellung zu sehen war und dessen Format von den Proportionen her dem Widescreen-Bild entspricht, weist in der Mitte eine harte vertikale Trennlinie auf.
Dass die Feierlaune nicht ungetrübt bleiben würde, das ahnte man schon mit den Einstellungen des Vorspanns, die irritierende, traumartige Einbrüche von Gewalt und Zerstörung andeuten. Auch einige Vorzeichen während der Feier kündeten von sozialen Unruhen in der Stadt, von Anschlägen mit grünen Farbbeuteln trugen einige der anreisenden Gäste noch Spuren an der Kleidung, aus dem Wasserhahn im Bad floss kurz ebenso grünes Wasser. Dass sich dann ein brutaler Riss auftun würde, der nicht mehr melodramatisch eingehegt werden kann, das freilich war so nicht zu erwarten: jedenfalls lassen plötzlich bewaffnete Eindringlinge unter Mithilfe der gerade noch devoten Dienerschaft die Feier jäh in ein Massaker umkippen.
Mit der gesprengten Familienfeier und der sich in der Stadt ausbreitenden Gewalt sowie dem als Reaktion vom Militär ausgerufenen Ausnahmezustand explodiert auch der Film in mehrere Erzählsegmente. Die Braut wird Opfer von paramilitärischen Geiselnehmern, die mit den entführten Angehörigen der Oberschicht Lösegelder erpressen wollen und mit Sadismus die Gefangenen in einem Lager foltern, vergewaltigen und töten.
Der mexikanische Regisseur Michel Franco, nach fünf Filmen erstmals auch in Deutschland im Kino, entwirft die Dystopie der titelgebenden neuen Ordnung als eine Art Synthese lateinamerikanischer Militärdiktaturen jenseits ideologischer Orientierungen.
Soldaten und Soldatinnen der Armee und der Aufständischen, offizielle Militärs und Paramilitärs sind kaum mehr zu unterscheiden, letztere scheinen von der neoliberalen Oligarchie geduldet oder instrumentalisiert zu werden, um Schrecken aufrechtzuerhalten und repressiven Terror und Kontrollgewalt zu legitimieren.
Víctor, einer der mit Bestechungsgeldern geschmierten Geschäftspartner des Vaters der Braut, der angesichts erster Anzeichen die Hochzeitsgesellschaft frühzeitig verlassen hatte, findet sich an der Seite des Generals auf der Kommandobrücke der hypermodernen Machtzentrale, auf der er vor einem riesigen Mosaik von Überwachungsbildschirmen einen panoptischen Überblick hat. (Michel Franco drehte diese Szenen in der 2019 vom mexikanischen Präsidenten eingeweihten Notruf- und Organisationszentrale für Rettungs-, Polizei-, und Katastrophenschutzdienste C5i in Pachuca im mexikanischen Bundesstaat Hidalgo nordöstlich von Mexiko-Stadt: das Gebäude ist ein technokratisches Musterbeispiel neuester Kontroll-, Überwachungs- und Verwaltungsarchitektur und als solches gleichermaßen monströs wie elegant.)
Schien am Anfang des Films noch Luis Buñuels hintersinnige und auch komische Art der Entlarvung des »diskreten Charmes der Bourgeoisie« im Bereich des Möglichen, so zeigt sich bald, dass die Zeiten für Michel Franco definitiv härter sind.
Der Regisseur hatte in seinen bisherigen Filmen eher privat-intimistische Themen behandelt, hier wagt er nun den radikalen Schritt in eine andere Richtung, der ihm den Silbernen Löwen des Großen Preises der Jury bei den Filmfestspielen von Venedig 2020 eintrug. Er nimmt dabei keine Rücksichten, weder auf seine Figuren noch auf sein Publikum. Vor allem bei der Schilderung der Gewaltexzesse ist der Film nichts für zarte Gemüter; Kameramann Yves Cape erzählt in einem Interview, Franco hätte beim Dreh der Gewaltherrschaft etwas in der Art von Pasolinis 120 Tage von Sodom vorgeschwebt.
Es ist allerdings eher eine unverkennbare Lust an der Exploitation, der diesen Film und sein kontrastives Klassenportrait als Alptraum vor allem der Oberschicht in eine schillernde Ambivalenz taucht, die zwischen Zynismus und Subversion oszilliert.
In Mexiko war der Film bereits nach dem Trailer heftig umstritten: dem Regisseur wird eine klassistische und rassistische Sicht auf die scharfe soziale Kluft in seinem Land vorgeworfen. Insbesondere wird ihm vorgehalten, legitime Proteste als gewalteskalierend zu diskreditieren, wenn er deren Codes und Zeichen entwendet und innerhalb der im Film dargestellten brutalen Exzesse rekontextualisiert: So setzen in Mexiko Frauen im Kampf für eine Legalisierung von Abtreibung die Farbe Grün als Erkennungsmerkmal ein, wie sie hier von den Aufständischen als Signal der blindwütigen Rache benutzt wird.
Ja, Michel Franco zeigt in aller Drastik den Aufstand als hässliche Fratze einer sozial erniedrigten und gedemütigten Schicht, eine Fratze, der das eiskalte Machtkalkül einer neoliberalen Oligarchie mit Kontrollbürokratie antwortet und dabei gern die Dienste gewaltbereiter Militärs und Paramilitärs in Kauf nimmt: Unter dem repressiven Terror haben, das macht der Film sehr deutlich, vor allem wieder die in den schlechteren Vierteln zu leiden. Und diejenigen, die menschlich zu handeln versuchen, egal welcher Schicht sie angehören, werden zwischen den Fronten zermalmt.
Auffällig ist jedenfalls, dass Franco keiner der Parteien ideologisch identifizierbare Positionen zuweist, die »Kapitalistenschweine« der deutschen Synchronfassung sind in der Originalfassung lediglich »cabrones« (deutsch wortwörtlich »Ziegenböcke«), ein allgegenwärtiges Schimpfwort der Verächtlichmachung und Herabwürdigung ohne klassenkämpferischen Unterton.
Dass die Klänge des ersten Satzes von Schostakowitsch' 1957 uraufgeführter 11. Symphonie »Das Jahr 1905« den Auftakt des Films untermalen, könnte ein interessanter Hinweis darauf sein, dass Michel Franco in den so impulsiv agierenden Aufständischen erst den Vorboten von etwas Größerem zeigen will. Schostakowitsch gedachte in seiner Symphonie einer blindwütigen Hunger- und Elendsrevolte gegen das Zarenregime, die 1905 in Sankt Petersburg brutal niedergeschlagen wurde, ehe dann erst 1917 die Oktoberrevolution politisch planvoller und erfolgreicher vorging. Und gerade Mexiko hat in diesen Dingen einiges an Erfahrungen vorzuweisen: die dortige Revolution in den Zehnerjahren des 20. Jahrhunderts kam schon allen damaligen marxistischen Prophezeiungen zuvor.
Dies ist ein Film, in dem man das Staunen wieder lernt. Und das Fürchten. New Order (»Neue Ordnung«) vom Mexikaner Michel Franco ist ein mexikanischer Film ohne die Cuteness, die mexikanische Filme sonst haben.
Ganz im Gegenteil ist das ein Film über das Unangenehme im Menschen und eine Gesellschaft der Angst. Endlich mal ein aussichtsloser Film, ein Film ohne Happy End, der trotzdem kein B-Movie ist.
Manche werfen das dem Film vor. Aber warum sollte das Abbilden des Nihilismus der Wirklichkeit oder der Spaß des Regisseurs an diesem Abbilden ein Vorwurf sein? Warum darf Kino nicht ohne jeden Hoffnungsschimmer sein? Warum sollte es immer »darüber hinausführende Ideen« haben?
Die Hoffnungslosigkeit dieser Dystopie könnte einen auch glücklich machen: Das Glück des Erkenntnisgewinns.
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Die ersten Bilder sind fragmentarisch, eher ein phantastischer Vorschein des Kommenden als ein Geschehen: Ein Mädchen steht da zwischen modernen Steinwänden, fast nackt und mit grüner Farbe übergossen. Ein Krankenhaus, in dem das Chaos regiert. Eine Ecke, in der viele Tote übereinandergestapelt liegen. Die Farbe Grün dominiert.
Chaos herrscht in dem Film in gewisser Weise von Anfang an. Paranoia. Was genau los ist, ahnt man nicht. Aber auch an unsere Pandemie kann man bald denken.
Franco hat den Film vor der Corona-Pandemie geschrieben und gedreht, aber er hat sich von vielen anderen Aspekten unserer Gegenwart inspirieren lassen. Er zeigt zwingend den sozialen Zusammenbruch einer Welt, in der die Alternativlosigkeit regiert, und das »Ende der Geschichte«, in der Utopien unmöglich scheinen, die Zukunft nur als Katastrophe denkbar ist. Er zitiert die französischen Gelbwesten, aber auch die Proteste der »Occupy Wall Street«, »Black Lives Matter« und »Extinction Rebellion«.
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New Order ist ein Film über unangenehme Menschen und über das Unangenehme im Menschen. Es gibt kaum sympathische Charaktere.
Am ehesten sympathisch und auch sonst zur Identifikationsfigur taugt Marianne (gespielt von der Newcomerin Naian Gonzalez Norvind). Sie ist eine Art Hauptfigur, ein Mädchen aus stinkreichem Haus, wohlerzogen und gutmütig, gar nicht so weltfremd, aber eben auch verdorben von Eltern, die eiskalt und reaktionär sind und sich trotzdem noch Illusionen machen.
Marianne ist das Mädchen der ersten Bilder, die wir erst später besser verstehen. Man lernt sie auf ihrer eigenen Hochzeitsfeier kennen, zwischen Verwandten, Freunden, Dienstboten. Aber was ist das eigentlich genau für eine Hochzeit? Eine jüdische? Marianne hat jedenfalls kein weißes Brautkleid an, sondern ein rotes. Das macht es für die Zuschauer leicht, ihr im Durcheinander der Personen zu folgen, und sieht schön aus, im Kontrast zu den braunen Wänden, dem Grün des Gartens. Erst recht, als plötzlich grünes Wasser aus der Leitung läuft. Nur kurz. Aber irgendetwas ist passiert.
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Der Film hat, wie Marianne, einen nüchternen Blick auf die Verhältnisse. Er verklärt auch die Armen nicht, das wird später noch klarer. »Ist das ein Prozent der Bestechungsgelder, die er von Papa bekommen hat« – so kommentiert die Tochter das Hochzeitsgeschenk eines Geschäftspartners ihres Vaters.
In solchen kurzen Dialogen und Szenen lernen die Zuschauer eine durch und durch moralisch verworfene, kulturell dekadente Familie kennen und ihre Freunde. Der Film zeigt ganz
gut, wie diese Leute sind, wie sie sich benehmen, auch gegenüber den Dienstboten. Da ist selbst in den kleinsten Gesten viel Wissen um das existierende Klassensystem und um die Sprache der Gesten, die feinen Unterschiede.
Irgendwann im Laufe des Tages kommt ein langjähriger Dienstbote der Familie. Er bittet um Hilfe. Ausgerechnet jetzt (kein guter Zeitpunkt) bittet er um 200.000 Pesos, die er für eine Operation seiner Frau braucht. Das Geld, nach heutigem (11.08.21) Kurs immerhin 8500 Euro, bekommt er nicht, obwohl die Familie sich das gut leisten könnte. Marianne versucht, ihm das Geld zu geben, aber sie kommt nicht so schnell an Bargeld. Alle anderen sind komplett unverantwortlich: der Bruder, der zukünftige Ehemann, ihre Eltern sowieso. Also fährt Marianne dem Diener hinterher, um ihre Kreditkarte einzusetzen. Das ist konstruiert, aber warum nicht?
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Bald danach wird die Villa überfallen, auch einzelne Dienstboten schließen sich quasi unmittelbar den Eindringlingen an. Nicht wie Menschen, die frei entscheiden und wissen, was sie tun, zugleich unsicher und tastend agieren; sondern wie Tiere, die Instinkten folgen, die automatengleich, um so ruhiger und konsequenter agieren. Wie in Trance.
Man raubt, plündert, zerstört, verwundet, demütigt, tötet – ein Hauch der Manson-Family, einer vollkommen sansculottischen,
primitiven, destruktiven Willkür kommt spätestens dann auf, als sie »Putos Ricos« und »Vera tu Dios« an die Wände schmieren.
Großartig ist, wie explizit hier viele Dinge sind – zwar nicht im Vergleich zu B-Movies und klassischem Horrorfilm, aber sehr wohl im Vergleich zum protestantischen Hollywood-Kino. Dieser Film ist nicht sauber, sondern schmutzig. Hier wird nicht geredet, sondern gezeigt.
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Was dieser Nacht der Abrechnung folgt, ist das Portrait einer Gesellschaft der Angst. Ein paar Tage lang kann niemand seines Lebens sicher sein. Es herrscht an der Oberfläche komplette Anarchie. Tatsächlich kommt schnell heraus: Die randalierenden Massen sind von Teilen der Obrigkeit entfesselt worden. Unter anderem soll die Macht bestimmter rivalisierender Familien – auch die Mariannes – gebrochen werden. Und wer genau hingesehen hat, oder sich den Film zweimal ansieht, dem fällt auch auf, dass manch einer die Hochzeit (zu) früh verlässt, und bedacht ist, dass das auch seine Kinder und seine Frau tun.
Marianne, die zunächst bei der Familie eines Angestellten Unterschlupf findet, sich aber angesichts der Umstände immer noch komplett naiv verhält, wird von Soldaten entführt, und mit vielen anderen in irgendeiner abgelegenen, zu einem Konzentrationslager umgebauten Kaserne gefangengehalten, um Lösegeld zu erpressen.
Der Film zeigt eine Weile ihr Leben dort und das ihrer Mitinsassen, sowie parallel die allmähliche Beruhigung (Normalisierung?) draußen und die Bemühungen, sie zu befreien.
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New Order ist vielleicht überreiztes, aber auch präzises Beobachtungskino, wenn wir an das Mexiko der Drogenkartelle denken, die selbstverständlich Bündnisse und Stillstandsabkommen mit Politik, Polizei und Militär geschlossen haben.
Korruption und Verrat auch unter den Eliten gibt es nicht nur in diesem Film. Und nicht nur in Mexiko. Insofern ist dieser Film auch universal, sowohl in seiner Beschreibung revoltierender, anarchischer,
destruktiver Massen, als auch eines Ausnahmezustands, der von den Autoritäten verhängt und mit brachialer Gewalt durchgesetzt wird. Vor allem aktuell interessant und facettenreich in ihrem gedanklichen Konsequenzen ist aber das dialektische Ineinanderwirken beider Elemente: eines Ausnahmezustands, der von Massen »erzwungen« wurde, die genau darum entfesselt wurden, um ihn auslösen zu können, einer autoritären Reaktion, die genau darum von irgendwelchen
Volkstribunen und Querdenkern provoziert wurde, um ihnen selber in die Hände zu spielen. Armee/ Polizei wie Wutbürger/ Regimekritiker sind in beiden Fällen dumme, willige Spielmasse.
Das innere Prinzip der souveränen Macht ist, der Gewalt eine Form zu geben, die sie zugleich auf nichts verpflichtet und nicht einschränkt. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben (»Das nackte Leben«) beschreibt dies treffend: »Der Naturzustand und der Ausnahmezustand sind nur zwei Gesichter des topologischen Prozesses, in dem wie beim Möbiusband oder bei der Leidener Flasche das, was man als das Äußere (Naturzustand) angenommen hat, nun im Inneren (Ausnahmezustand) erscheint, und die souveräne Macht ist gerade diese Unmöglichkeit des Unterscheidens des Äußeren und des Inneren, des Beispiels und der Ausnahme, physis und nomos.« (Agamben, »Homo Sacer«)
Das, was hier »Naturzustand« genannt wird, ist der »spontane« Aufstand gegen das Recht und anarchische Rechtlosigkeit, das, was »Ausnahmezustand« genannt wird, ist der Aufstand der Institutionen gegen das Recht, durch seine Suspension durch den Souverän. (»Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.«; Carl Schmitt).
Michel Franco zeigt in seinem Film Zonen der dynamischen Ununterscheidbarkeit von Barbarei und Terror auf beiden Seiten der Ordnung. Die »Neue Ordung« ist die, in der die Grenze zwischen Ordnung und Unordnung aufgelöst wurde, zwischen Normalität und Unnormalität. Souveränität und Anarchie stehen in einem korrelativen Verhältnis.
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»Nuevo Orden«, »Neue Ordnung« heißt dann nicht nur die irgendwann oberflächlich wiedergewonnene Stabilität, sondern eine neue Form des Arbeitens und Lebens, sowie dazugehörig eine neue Form der Überwachung. Die »Neue Ordnung« meint nicht: mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit oder mehr sozialer Ausgleich. Sie bedeutet: Diktatur.
Das System zieht das eiserne Gehäuse über die Existenzen der Menschen noch enger zu. Selbst die Mächtigen sind in vieler Hinsicht die Gefangenen der Strukturen und Institutionen. Und hinter der Rede von dieser »neuen Ordnung« hört und sieht man heute auch: »neue Normalität«.
Ein universales Misstrauen macht sich Platz. Da muss man sich einfach nur verstecken vor den Institutionen und ihren Vertretern, vor Polizei und Armee. Man darf ihnen nicht trauen; man kann ihnen nicht trauen. Das Mindeste, was sie tun, ist ihrer Willkür freien Lauf zu lassen – unnötig zu sagen, dass das mit unseren Verhältnissen in Europa natürlich ganz und gar nichts zu tun hat.
Wenn man das Genre beschreiben will, dann wohl trifft Paranoia-Polit-Thriller am ehesten. Michel Franco zeigt Mexiko als die Klassengesellschaft, die es ist. Ein Land, das einen Schritt über den Abgrund hinaus ist. Moral: Trau keinem.
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Das wird nicht allen gefallen. Dieser Film ist herrlich destruktiv und abgründig kritisch. Dass er keinen Trost spendet, ist sein Kapital. Dass man allen und allem zu misstrauen lernt. Manchmal auch sich selber.
Dies ist wenigstens ein Film, kein bebildertes Manifest; keine Wohlfühl-Fabrik; kein Film, in dem sich der Bildungsbürger in uns selber zurücklehnen und an den Leiden in anderen Kontinenten und in anderen Schichten ergötzen kann und daran, dass sie selbst über all das erhaben sind. Kein Film, in dem man es sich mit der eigenen Amoral bequem machen kann.
Franco inszeniert den Exzess. Kurz, hart, zynisch – ohne alle Hoffnung. Ohne Überraschungen, ohne Deus ex machina, aber in einer seltsamen Schönheit, die in der Unverfrorenheit und handwerklichen Souveränität des Regisseurs liegt. Allerdings ohne Poesie, ohne Lust. Der Exzess ist ein negativer, depressiv und nihilistisch. Franco genießt es auch, Faschismus zu inszenieren – aber er inszeniert ihn ohne die Ästhetik des Faschismus, ohne die Ästhetisierung der Macht – sondern eher als Inferno, als De Sade-sche Phantasie totaler Willkür.
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Das Ganze ist selbstverständlich auch eine bürgerliche Paranoia, ein Szenario, das unbewusste Ängste der herrschenden Klassen ins Bild setzt. Und wer aus Europa wäre nicht im Weltmaßstab Teil der herrschenden Klasse?
Man könnte durchaus argumentieren, dass der Film politisch rechts steht. Denn die Geschichte ließe sich auch so erzählen: Das kommt dabei heraus, wenn man den Armen helfen möchte. Und: Die Willkür des barbarischen Mobs auf der Straße ist noch schlimmer als die
Barbarei einer stählernen Ordnung.
Aber das stimmt ja nicht. Das ist ja eine sehr oberflächliche Lesart. denn tatsächlich überlebt Marianne den Überfall auf ihr Elternhaus genau dadurch, dass sie den Armen helfen wollte und deswegen das Haus verließ.
Es gibt kein richtiges Handeln hier, weder moralisch, noch taktisch zur Überlebenssicherung. Es gibt nur das Glück und den Zufall. Auch die Familie bietet keinen Trost. In Francos Film gibt es drei Mütter. Die eine wird gleich erschossen. Die zweite gehängt. Die dritte rät ihrem Sohn, als dessen Braut nach vier Wochen Verschwinden noch nicht wieder aufgetaucht ist, sie doch langsam zu vergessen. Dass diese Mutter damit sogar richtig liegt, macht das alles nicht besser.
In seiner Beschreibung der Willkür setzt New Order unbewusste Ängste ins Bild. Die Härte, die Kälte und die Coolness dieses Filmemachens kann man mit der des Österreichers Michael Haneke (Das weiße Band) vergleichen. Aber bei Franco ist – zum Guten wie zum Schlechten – mehr Engagement spürbar. Es gefällt ihm weniger als Haneke, das zu zeigen, was er zeigt.
Glänzend inszeniert, seltsam schön. Wunderbares Kino!