Japan 2004 · 140 min. · FSK: ab 18 Regie: Hirokazu Kore-eda Drehbuch: Hirokazu Kore-eda Kamera: Yutaka Yamasaki Darsteller: Yuya Yagira, Ayu Kitaura, Hiei Kimura, Momoko Shimizu u.a. |
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Die Eroberung der Freiheit |
Fast immer scheint die Sonne in diesem Tokio. Gleißend hell leuchtet sie mit weißem Licht durch die Stadt und zu den Fenstern hinein. Die Grundstimmung ist über weite Strecken fröhlich, was vielleicht daran liegt, dass es vier Kinder sind, die im Zentrum dieses Films stehen, aber auch daran, dass Hirokazu Kore-eda in seinem neuen Film Nobody knows auf minutiös genaue, fast dokumentarische Beobachtung setzt.
Der Japaner, der bereits mit seinen früheren Filmen (Maborosi, After Life und Distance) zu den wichtigsten Stimmen des jüngeren japanischen Kinos gehört, erzählt eine bewegende Familiengeschichte: Vier Kinder mit verschiedenen Vätern wachsen allein mit ihrer Mutter auf. Die kleinen Appartements, in denen sie leben wechseln sie ständig. Bis auf den Ältesten, den 12jährigen Akira, werden die anderen Kinder vor den Nachbarn versteckt, sie gehen auch nicht zur Schule, leben weitgehend abgeschlossen vor der Außenwelt, für sich, vor sich hin. Es gibt keine Besucher, keinen Leben jenseits der Wohnung. Man spürt, dass da ein dunkles Geheimnis ist, von dem sie selbst nichts wissen, das aber ihre Existenz dominiert. Doch die ist so in der Routine des Versteckens gefangen, dass die Kinder zumeist ganz unbeschwert wirken.
Nach kurzen glücklichen Tagen ist die Mutter verschwunden, um in einer anderen Stadt zu arbeiten, was scheinbar öfters geschieht. Nach einer langen Weile kehrt sie zurück. Dann verschwindet sie wieder, und man wartet mit den Kindern. Anfangs kauft Akira ein, doch dann wird das Geld knapp, man klaut im Supermarkt, schließlich werden erst der Strom, dann das Wasser abgestellt, und spätestens jetzt dämmert es Kindern, wie Zuschauer, dass die Mutter nie zurückkommen wird.
Stattdessen
erlebt man, wie die vier Kinder mitten in der modernen Welt verwildern, zurückgeworfen werden in den Naturzustand. Zugleich verlassen auch die Geschwister zuerst zögernd, dann immer mutiger die Wohnung, legen, je verwahrloster sie werden, um so mehr auch ihre Furcht ab. In diesen Momenten erzählt der Film auch eine magische Odyssee der nachgeholten Weltentdeckung, eine Robinsonade im Großstadtdschungel mit Jagdzügen im Supermarkt, und entwickelt bezaubernde Poesie, ohne dass
das Bedrohliche dieses Lebens je vergessen würde.
Kore-eda erzählt entlang der vier Jahreszeiten, mit Handkamera, in sanften pastelligen Farben. Der Film beginnt als Kammerspiel, und öffnet sich immer mehr, wie auch der Horizont für die Kinder weiter zu werden scheint. Zugleich verweigert sich Nobody knows allen üblichen Erwartungen ans japanische Kino: weder Sex und Gewalt, noch Pop. Eher wirkt der Film wie die Übertragung des italienischen Neorealismus auf die japanische Moderne. Ohne
Sozialreportage zu sein, ist Nobody knows ein Film über die Verwahrlosung in avancierten Gesellschaften, Vor allem aber eine Geschichte über das Kaputtgehen der Familien im Familienland Japan. Während Europa gerade Asien als Utopie entdeckt, entzaubert dieses sich selbst und unsere Vorstellung davon.
Vor allem die berührende Figur des 12jährigen Akira (Yagira Yuya erhielt für diesen Part in Cannes den Schauspielpreis) erinnert in ihrer Mischung aus
Unschuld und Unerbittlichkeit, instinktivem Wissen und Unverständnis an die Kinder bei Rossellini und de Sica. Schon der französische Film L´esquive und der chilenische Machuca, die gerade ins Kino kamen, zeigten, was Nobody knows jetzt bestätigt: Das Kino entdeckt wieder
den lange vergessenen Blick der Kinder auf die Welt der Erwachsenen. Sie gucken nicht weg, sie sehen alles. »Nobody knows« heißt: Keiner weiß Bescheid.