MEX/D/F/DK/S 2018 · 173 min. Regie: Carlos Reygadas Drehbuch: Carlos Reygadas Kamera: Adrian Durazo, Diego García Darsteller: Natalia López, Phil Burgers, Carlos Reygadas, Maria Hagerman, Yago Martínez u.a. |
||
Ein Film, nach allen Seiten offen |
Nuestro tiempo, der fünfte Langfilm von Carlos Reygadas, bestätigt aufs Neue, dass der Mexikaner als einer der eigenwilligsten und eigenständigsten Autorenfilmer nicht nur Mexikos und Lateinamerikas, sondern der ganzen Welt gelten kann. Dabei ergibt sich die künstlerische Besonderheit seiner Werke vor allem aus der Art, die in der mexikanischen Gesellschaft und Landschaft aufgegriffenen Stoffe in einer spannungsreichen Mischung aus quasi-dokumentarischem Ansatz und experimentellem Formenspiel zu gestalten und ihnen so eine fast schon existentielle Dringlichkeit und Universalität zu verleihen.
Im Mittelpunkt von Nuestro tiempo steht Juan. Er ist Großdichter und Großgrundbesitzer, mit seiner Frau Esther betreibt er eine prächtige Zucht von Kampfstieren. Als Herrscher über ein beeindruckendes Latifundium ist er ein moderner Nachfahr jener Kaziken der mexikanischen Geschichte, die als lokale Führer über die Geschicke ganzer Regionen bestimmten, unabhängig davon, wer die Zentralregierung innehatte. Als international gefeierter Starlyriker ist er eine interessante Konzeptfigur, mit der die dargestellte ländliche Cowboy-Realität einen Zug ins Überspannte bekommt.
Das Leben auf der Ranch führt Reygadas als faszinierend dichten Kosmos aus Familie samt Kindern und Freunden, Rancharbeitern, Bediensteten, insbesondere auch Tieren (Hunden, Pferden, Maultieren, Stieren usw.) vor, der sowohl exzessive Rodeo-Festlichkeit als auch harten Arbeitsalltag umfasst. Aus diesem überaus sinnlichen Gewebe schält sich dann allmählich die eigentliche Geschichte heraus: Esther scheint sich auf eine Affäre mit Phil einzulassen, einem befreundeten Gringo aus den Staaten, der mit Pferden und Stieren geradezu perfekt umzugehen versteht.
Was hier nun erzählt wird, ist ein Eifersuchtsdrama, wie es im Buche so vieler Eheromane steht, dass es fast schon etwas wie aus der Zeit gefallen wirkt.
Juan, der gefeierte Dichter und Stierzüchter, hat ein Ego, das so groß scheint wie sein Latifundium. Die sich anbahnende Affäre stellt umso mehr eine narzisstische Kränkung dar. Dabei ermuntert er den ihm sehr sympathischen Phil zunächst geradezu gönnerhaft, sich mit seiner Frau einzulassen. Schließlich würden sie so etwas wie eine offene Ehe führen. Diese Geste offenbart vor allem sein Besitzdenken in Bezug auf Esther. Und mit den Folgen dieser Intervention kommt Juan dann am allerwenigsten zurecht.
Reygadas selbst führt als Hauptdarsteller den Eifersuchtstrip Juans mit all seinen Untiefen vor, und seine Ehefrau Natalia López spielt Esther. Eine gewisse Koketterie mit der Autofiktion schwingt hier gewiss mit. Doch verleiht dieser Kunstgriff der Figur des eitlen Juan im Grunde eine kaum kontrollierbare Ambivalenz zwischen Selbstentblößung und Selbstbespiegelung.
Und um diesen Effekt einer doppelbödigen Selbstexponierung scheint es Reygadas tatsächlich zu gehen. Die Eifersuchtsgeschichte um einen Repräsentanten der »toxic masculinity« wäre nämlich allzu banal, ja gänzlich belanglos oder einfach nur peinlich.
Wenn der Film auf der inszenatorischen und gestalterischen Ebene die anmaßende Haltung des Egozentrikers Juan nicht gewissermaßen übernehmen und in einen produktiven Impuls überführen würde. Es ist dies der Impuls einer Weltaneignung, der die Kamera in diesem Film leitet. Die Kamera, die bestrebt ist, alles zu erfassen, alles auf die gleichsam unaufhebbaren Bedingungen des Sichtbarseins zu bringen und dabei ein im Kino selten gewordenes Grundvertrauen in das Visuelle, Bildliche an den Tag, ans Licht zu legen.
Reygadas und sein Kameramann Diego García arbeiten mit dem Visuellen wie mit einem plastischen Material. Die Bilder von den ungeheuren Landschaften, den impulsiven leidenschaftlichen Interaktionen der Figuren, den dynamischen, oft eruptiven Bewegungen von Mensch, Tier, Fahrzeugen im Raum, den intensiven Naturstimmungen, wirken wie momentan erfasste optische Aggregatzustände, die zwischen roher Unbehauenheit und lyrischer Feinstofflichkeit schillern. Herausgearbeitete Lichtplastiken, Lichtskulpturen, die von den unbeherrschten Affekten der Figuren oft genug heftigen Zerreißproben ausgesetzt werden.
Mit dieser Unbedingtheit seines Gestaltungswillens erzeugt Reygadas Intensitäten, die die Ambivalenzen seiner Figuren zu übersteigen vermögen. Intensitäten, die etwas schaffen, was tatsächlichen ästhetischen Erfahrungen gleichkommt, genuinen Wahrnehmungserfahrungen nämlich, die man als Zuschauer so nur im Kino machen kann.
Mit Kindern, die an einem See spielen, und die dann bedeckt mit Schlamm nach Hause laufen, geht alles los. Die Verbindung von Mensch und Natur scheint hier noch ungebrochen.
Dann sind die älteren Freunde und Geschwister zu sehen, die pubertierenden Mädchen sind fast schon junge Frauen und reden über Schmuck und darüber, ob der Schlamm wohl gut für die Haut wäre. Noch etwas ältere Jugendliche haben zum ersten Mal Sex, irgendwo im Gras unter einem Baum.
Ganz nahe an der Erde dran ist und bleibt vieles in diesem Film, der sich von Anfang an alle Zeit der Welt nimmt – so wie er zunächst von immergleichen Tagen erzählt, deren Rhythmus von der Sonne
bestimmt wird, und von einer Zivilisation, die noch nahe dran am Naturzustand zu sein scheint. Und doch herrscht hier nichts weniger als paradiesische Unschuld.
Es ist zwar eine Dreiecksliebesgeschichte, also der klassische Stoff, aus dem Kinomelodramen sind, die in Nuestro tiempo erzählt wird. Und doch ist es nicht die Handlung, die vom neuen Film des Mexikaners Carlos Reygadas am stärksten im Gedächtnis bleibt, sondern die Bilder. Western-Bilder, in denen die Natur groß und die Fähigkeiten der Menschen begrenzt sind, so wie ihre Moral. Die Bilder zeigen Landschaften von überwältigender Schönheit, aber diese Natur soll immer wieder gebändigt werden, ihre Instinkte genutzt für das Vergnügen der Menschen.
Juan und Ester, ein Paar mit drei Kindern, züchtet Kampfbullen. Tag und Nacht arbeiten sie auf ihrer Farm. Allerdings ist Juan auch ein weltweit erfolgreicher Schriftsteller, und Ester eine Frau, die ihre Dienstboten per Walkie-Talkie kommandiert.
Als Ester dann eines Tages mit dem US-Cowboy Phil eine Affaire anfängt, ist das nicht sofort der Einbruch des Naturzustands. Zum gedämpften Liberalismus dieses Paar-Lebens gehört das Versprechen einer offenen Beziehung wie die Tatsache, dass Juan und Phil befreundet sind:
Aber das zivilisierte Verhalten hält nicht lang. Nur die Bilder bleiben nüchtern.
Die wunderschöne Kameraarbeit, die den Schweiß der Ranchos einfängt wie die Kraft der unbezwingbaren Bullen, machen Nuestro tiempo zu einem der beeindruckendsten, der skrupulösesten und aufrichtigsten Filme des Jahres.
Der Film ist nach allen Seiten offen: Natürlich ein Spiel um die Macht der Männer und der Frauen, über den Ernst der Leidenschaften und über ihr zerstörerisches Potential.
Reygadas' neuer Film ist eine doppelte Familienaufstellung, denn er selbst, seine wirkliche Frau und seine eigenen Kinder spielen mit. Der Regisseur zeigt seine Figuren gleichzeitig liebevoll, aber auch am Abgrund. Denn ob die von Reygadas selbst gespielte Figur nun eine ironische Betrachtung »des« Lateinamerikanischen Mannes an und für sich ist, oder doch eine skrupulöse und widersprüchliche Auseinandersetzung mit sich selbst, das liegt im Auge des Betrachters.
Der
Film zeigt das verstohlene Chaos einer bürgerlichen Ehe mit einem Furor und einer Intensität, die man zuletzt in den Filmen von Ingmar Bergman gesehen hatte – aber zugleich visuell gelassen und beiläufig, dabei ungemein sinnlich.
Dies ist auch ein Spiel. Ein Spiel mit Verweisen auf Murnaus Sunrise. Und ist dies möglicherweise nicht auch ein eigenwilliger Kommentar auf das Verhältnis
Mexikos zu den USA, den Gringos aus dem Norden?
Zwei Bullen kämpfen am Ende. Einer siegt. Es ist die Natur, kann man das verstehen, die sich durchsetzt und zu der nicht nur dieser Film zurückkehrt.