Passivität ist unterschätzt! |
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Carlos Reygadas | ||
(Foto: Yasu · CC BY-SA 3.0) |
Das Gespräch führte Rüdiger Suchsland
Carlos Reygadas ist ein sehr freundlicher Mann. Am Anfang unserer Begegnung fragt er mich gleich nach meinem Namen, erkundigt sich nach dessen Ursprung. Ich erinnerte an den ersten Film von ihm, den ich vor bald 20 Jahren auf dem Filmfest München gesehen hatte: Japón.
Wir sprechen über eine gemeinsame Freundin, nach der er sich dann erkundigt. Danach kommt er relativ
schnell auf seinen Gesundheitszustand zu sprechen – er habe nämlich „Montezumas Rache“: »Ich habe schrecklichen Durchfall. Das liegt daran, dass wir in jedem Land eine andere Art von Bakterien haben.« Ich vermute, vielleicht habe es auch etwas mit Sensibilität zu tun. Ich selbst sei nicht so sensibel, darum habe ich, als ich einmal für vier Wochen in Mexiko war, nicht ein einziges Mal wirklichen Durchfall bekommen, obwohl (oder weil?) ich Streetfood esse. Aber er
widerspricht: »Ich habe innerhalb eines Tages Durchfall bekommen, nur weil ich gestern in ein Thai-Restaurant gegangen bin.« – »Da haben wir die Erklärung«, meinte ich, und fragte, ob es wohl auch so etwas gäbe, wie Apichatpongs Rache? Wir beide lachten und waren so gleich in der richtigen Stimmung, um unser kurzes Gespräch über seine Filme zu beginnen.
artechock: Beginnen wir – das passt ja ganz gut zu „Apichatpongs Rache“ – vielleicht mit der Natur. Wenn wir Ihren letzten Film nehmen, dann ist dieser mehr als alles andere ein Film über die Natur – in all ihren Facetten. Ich möchte gern etwas mehr darüber wissen. Was glauben Sie, was Sie für eine Beziehung zur Natur haben? In jedem ihrer Filme scheint diese Beziehungen bisschen anders zu sein. Wie glauben Sie, hat sie sich entwickelt? Wenn es überhaupt eine Entwicklung gibt...
Carlos Reygadas: Tatsächlich bin ich ja in der Stadt geboren und dort aufgewachsen. An den Wochenenden und in den Ferien sind wir allerdings fast immer aufs Land gefahren und ich war dort immer sehr glücklich. Seit 12 Jahren lebe ich nun selbst mit meiner Familie auf dem Land. Ich glaube trotzdem nicht, dass sich mein Verhältnis zur Natur verändert hat. Es ist stabil geblieben. Natur war für mich immer sehr erfüllend, sie war für mich immer ein Glück. Ich glaube nicht, dass das Leben in der Natur prinzipiell besser für die Menschen ist oder schlechter. Das ist eine komplett persönliche Angelegenheit. Ich werde niemanden empfehlen, aufs Land zu ziehen...
artechock: Sie romantisieren Natur nicht, wie es viele Deutsche tun!
Reygadas: Nein, nein, überhaupt nicht. Aber ich habe ganz persönlich gemerkt: Für mich ist Natur eine Quelle von immensen Glück und Vergnügen: Ich mag Tiere, ich mag Pflanzen, ich mag die Stille und ich mag den Raum, den großen weiten Raum. Darum fühle ich mich in der Natur sehr glücklich. Die Ablenkung der Stadt ist etwas, was ich nicht allzu oft brauche; was immer die Stadt einem zu bieten hat, ist nichts, wonach ich suche.
artechock: Aber die Natur hat ja auch dunkle Seiten. zur Natur gehört Gewalt, der Tod, und all das zeigen sie ja auch. Auch in ihrem letzten Film – wie schon wenn wir an einen ihrer früheren Filme denken, Battle in Heaven. Hat sich da etwas gedreht in ihrer Perspektive gibt es eine Verlagerung?
Reygadas: Nein nein, ganz im Ernst nicht. Wenn sich etwas verändert, dann sind es eher verschiedene Achsen oder Perspektiven in meiner Vorstellung.
Alles was sie in Batalla en el cielo sehen, ist mir sehr nah. Das sind Dinge, die ich als Kind und als Junge selber erlebt habe: In der Stadt herumzulaufen, die Metro zu benutzen –
das ist alles ein Teil von mir, von meinen Gedanken, und von dem, was ich bin. Es gibt wirklich keine Verlagerung. Ich fühle mich genauso, wie damals. Allenfalls habe ich eine stärkere Distanz zur Stadt und zum Stadtleben entwickelt. Wenn ich heute reise und sei es auch nur für ein paar wenige Tage, dann denke ich sehr sehr schnell Oh wie bin ich glücklich, dass ich nicht in diesen Städten leben muss – ganz ehrlich. Jeden Abend zu Hause, wenn ich direkt auf den Wald blicken kann,
dann fühle ich mich sehr glücklich.
artechock: Sie haben gerade gesagt, dass sie als kleiner Junge oft rausgefahren sind, aufs Land in den Ferien oder am Wochenende. Ihr neuer Film fängt mit Bildern an, in denen wir Kinder und Jugendliche sehen in verschiedenen Altersgruppen und Stadien der Jugend. Die meisten spielen im Freien.
Waren ihre Erfahrungen als junger Mensch im Verhältnis zur Natur ähnlich? Floss das ein in diesen Film?
Reygadas: Ja, auch wenn wir nicht oft zu Seen gefahren sind. Ich hatte eine sehr erfüllte Kindheit und Jugend und ich erinnere mich sehr gut an das Gefühl von Frieden und an den Eindruck einer Welt, die nicht nach irgendeinem Konzept errichtet worden war, an den Eindruck von etwas komplett Physischem und diesen Einblick, den ich in das Leben hatte – es ging da alles um Geräusche, Gerüche, Berührungen Textur Temperatur – all das
prägt auch heute mein Alltagsleben, und ich bin sehr davon überzeugt, dass genau dies das eigentliche Leben ist.
All die Konstruktionen und Konzepte sind nicht wirklich real. Genau genommen ist es aber egal, ob sie real sind oder nicht – aber sie machen nicht das aus, worauf es ankommt. Dieses Verständnis vom Leben ist eine Art von Leitbild: Immer dann, wenn ich mich verwirrt fühle oder schlecht gelaunt bin, dann erinnere ich mich immer daran, dass das reale Leben das andere ist:
Das Leben ohne Konzepte. Konzepte sind natürlich wichtig, aber sie müssen auf ihren Bereich begrenzt sein. Es ist wichtig, sich von Konzepten nicht verwirren zu lassen, und nicht in die Falle der Produktivität zu tappen, in die Falle, dass man etwas abgeben, leisten und vorlegen muss.
Natürlich ist es gleichzeitig ziemlich kompliziert, all die praktischen Fragen des Lebens zu lösen – aber das Licht kommt von der anderen Seite, von der Seite der eigentlichen Existenz.
artechock: Und ihren Figuren ist das moderne Leben nicht vollkommen fremd. Sie haben Computer und Internet, sie haben Autos, und eine ganze Menge von technischen Dingen, die das Leben angenehmer machen.
Wie halten Sie es als Filmemacher mit den Konzepten? Denn ich nehme an, Sie müssen auch so etwas machen, wie für einen neuen Film ein Konzept vorlegen, ein Treatment. Sie müssen in irgendeiner Weise in der Lage sein, Geld zu beschaffen, Financiers zu überzeugen. Wie machen sie das? Denn dafür brauchen sie doch Konzepte oder?
Reygadas: Nein, glücklicherweise kosten meine Filme nicht sehr viel Geld. Ich will nicht, dass sie mehr Geld kosten, als sie kosten. Ich muss darum meine Filme nicht auf diese Art pitchen. Ich brauche nichts zu machen, das nicht direkt aus meinem inneren Bedürfnis hervorgeht. Ich bin eine ziemlich praktische Person und alles, was ich tue, ist eigentlich verbunden mit diesem Zustand, in dem ich arbeiten möchte. Darum bin ich bereit,
bestimmte Dinge zu opfern: Geld, Crew, technisches Equipment. Ich kann mich ganz direkt auf das konzentrieren, was der Film wirklich braucht.
Ich glaube, dass ich bis heute genug Glück hatte um noch nie wirkliche Grenzen und Einschränkungen erfahren zu haben. Auch keine Selbstzensur – aber vielleicht gehe ich hier ein bisschen zu weit. Vielleicht ist mehr Selbstzensur darin, als ich glaube. Zumindest denke ich, in meinem letzten Film hätte ich radikaler sein müssen.
artechock: In Nuestro tiempo?
Reygadas: Ja genau. Ich hätte mich um tiefere Einsichten und Ideen bemühen müssen. Es lag nicht daran, dass ich nicht tapfer genug gewesen wäre. Ich war nicht intelligent genug. Ich hatte nicht ausreichend Einblick, um noch tiefer zu gehen. Alle meine Filme sehe ich als Produkt des Augenblicks. Sie können defekt sein, aber ich habe mein Maximum gegeben.
In diesem Film bin ich, glaube ich gescheitert, zumindest in gewissem Sinn. Ich weiß
nicht, was ich mir dabei gedacht habe. [Lacht]
artechock: Sie sind einer jener Regisseure, bei denen es mir sehr schwer fällt, auch nur für mich selbst eine Art Liste zu erstellen, auf der die Filme von Top zu Down, vom besten zum schlechtesten geordnet sind. Ich kann nicht wirklich sagen: Dieser hier ist der beste, bei jenem ist er gescheitert, oder ich mag ihn nicht so. Ich mag z.B. ihre beiden letzten Filme sehr gern, aber sie sind ganz anders als die Filme davor. Die mag ich auch sehr gern.
Reygadas: Ja, ich verstehe, was Sie meinen. Wenn ich all die Leute nehme, die ich auf meinen Reisen treffe, dann kann ich sagen: Es ist ziemlich ausgeglichen. Die einen mögen den Film, die anderen jenen Film lieber. Man kann nicht sagen, dass ein Film am meisten Liebe bekommt. Ich glaube, das liegt daran, dass ich versuche, das was ich tue, sehr ausgeglichen zu halten. Und Raum zu lassen für den Zuschauer, um den Film für sich selbst fertig zu stellen. Dafür geben alle Filme auf verschiedene Weise Raum. Und manche Leute hassen wirklich bestimmte meiner Filme, aber sie lieben dann andere.
artechock: Gibt es das auch für sie selbst? Könnten sie ihren eigenen Film auf eine bestimmte Weise komplettieren? Ich frage Sie jetzt nicht nach der Antwort, aber ich wüsste gerne, ob sie das könnten?
Reygadas: Ja, aber nur bis zu einem bestimmten Grad. Denn es hat auch etwas mit Sensibilität zu tun. Ich als Zuschauer möchte nicht allzu viel in Filme hineinlesen. Ich möchte sie einfach sehen und hören und normalerweise nehme ich mir irgendeine Idee aus ihnen mit. So erfahre ich Filme, wenn ich sie als Zuschauer sehe.
Über meine eigenen Filme hätte ich nicht viel zu sagen. Umgekehrt ist es aber für mich sehr interessant, von anderen zu hören, wie sie meine Filme sehen. Denn sie können mir neue Einsichten geben, die mir im besten Fall selber neu sind. Denn was ich als Filmemacher tue, versuche ich ziemlich instinktiv zu machen. Mit Intuition, nicht mit Vernunft. Ich denke nicht wie ein Ingenieur: Das eine dient diesem Zweck, das andere jenem Zweck. Wenn man einen Film macht, hat nicht alles einen Zweck. Wie beim Malen gehört eine ganze Menge dazu, von dem man nicht weiß, woher es eigentlich kommt.
Wir alle kennen diese Vorstellung – und ich stimme ihr sehr zu – dass Film und Kino dem Traum ähneln. Wir träumen ohne Frage nicht mit unserer Vernunft. Noch nicht mal mit unserem Willen. Aber wir produzieren trotzdem unsere Träume. Dieses Produzieren ohne Aktivität ist eine unglaublich faszinierende Qualität, eine mysteriöse Qualität, die wir als Menschen haben und das Kino hat sie auch: Wir können etwas schaffen, ohne unseren Verstand zu benutzen, in jedem Fall ohne das, was wir für unseren Verstand halten, also die vernünftige Seite unseres Verstandes, und unser Ego.
Genauso versuche ich, mein Kino zu machen. Ich glaube, dass Kino eine sehr besondere Qualität hat. Es ist zweiseitig: Auf der einen Seite muss Kino manchmal vom Bewusstsein gelenkt sein. An einem bestimmten Punkt muss es vom Ego angetrieben werden; man muss wissen, was man machen will, vor allem am Anfang. Und dann noch mal, wenn man das ganze Material hat.
Aber dazwischen, im Zentrum da muss es mit Passivität gemacht werden. Wenn man versteht, wie die Kamera und die Tongeräte funktionieren, dann muss man sie einfach arbeiten lassen. Man muss sie nicht zu aktiv benutzen. Man sollte sie nicht als ein Gerät zum Konstruieren und zum Bauen benutzen, sondern als ein Gerät, um etwas einzufangen. Passiv eben, man muss die Geräte ihre Arbeit machen lassen. Wenn man sie ihre Arbeit machen lässt, mit ausreichend Geduld, dann wird man etwas einfangen, was einzigartig ist. Was jenseits der Informationen reicht, und etwas Essentielles konstituiert.
artechock: Passivität ist unterschätzt..
Reygadas: Ja, auf alle Fälle!
artechock: Meine persönliche Erfahrung ist, dass es auch für einen Filmkritiker am allerbesten ist, wenn er möglichst passiv in einen Film hinein geht. Ich habe keine Liste mit Punkten oder Fragen, die ich abhake, sondern ich warte ab, was der Film mir erzählt, wie er gesehen werden möchte.
Reygadas: Ja absolut, da haben Sie recht.
artechock: Auch im Schnitt, bei der Montage ist es ja so, dass einem sehr oft die Bilder selbst sagen, wo der nächste Schnitt kommt und welches Bild an das nächste heran gehört...
Reygadas: Ja genau, normalerweise ist es so. Und Sie haben vollkommen recht, dass es bei dieser Passivität nicht nur darum geht, wie sie einen Film machen, sondern dass es genauso auch darum geht, wie man einen Film sieht. Auch der Zuschauer muss passiv sein. Später kann er so aktiv sein, wie er will, und kann urteilen – ich habe überhaupt kein Problem mit dem Urteilen, denn Denken ist Urteilen – aber zunächst einmal sollte man den Film erfahren können.
Und darum gibt es so viele Filmkritiker, die es nie begreifen, die es nie verstehen, die es nie checken. Sie wollen immer on top sein und Herr der Situation, sie wollen aktiv sein – aber das funktioniert nicht. Wenn man etwas erfährt, dann muss man demütig sein und empfangen. Das ist es, was wir tun müssen.
Das muss man tun, wenn wir Liebe machen, wenn wir essen, wenn wir Fußball spielen, und wenn wir einen Film machen. Wir müssen demütig sein und dann aufstehen
und agieren, und dann wieder demütig sein, und passiv.
Aber aus meiner Sicht ist das Haupt-Problem, dass das Kino schrecklich stark durch Philosophie beeinflusst wurde. Wir wollen heute Filme machen, wie Philosophen und wir wollen Filme so anschauen wie Philosophen, zumindest wie zweitrangige Philosophen, z.B. wie Semiotiker. Die immer nur über die Bedeutung des Gesehenen nachdenken und nicht die Dinge einfach so anschauen, wie sie ein Kind anschauen wird. Wie Kinder einen Berg anschauen oder die Wolken. Wir haben
diese Fähigkeit verloren.
Ein Beweis dafür ist, dass z.B. die Philosophie der Musik für die Musik überhaupt nicht wichtig ist. Bei der Musik kommt es darauf an, dass man etwas hören und fühlen möchte. Aber im Kino hört man auf die Philosophen, da sind Philosophen sehr sehr wichtig, auch für Regisseure, auch für Filmkritiker, gerade seit den 60er Jahren, seit den Strukturalisten.
Wir haben die Fähigkeit verloren, demütig zu sein. Gerade Philosophen haben überhaupt nicht die Fähigkeit zur Demut. Sie müssen immer etwas konstruieren und bauen und machen und machen – das ist das schreckliche schreckliche Ding mit der Semiotik. Das ist eine schreckliche Krankheit.
artechock: Sie haben Jura studiert, nicht wahr?
Reygadas: Ja.
artechock: Ich habe Geschichte und Philosophie studiert und ich habe, während Sie das gerade gesagt haben, eben an Roland Barthes gedacht. Denn in gewissem Sinn stimme ich Ihnen zwar zu, aber z.B. ein Autor wie Roland Barthes scheint mir doch etwas anderes zu schreiben. Ihm geht es, glaube ich, schon darum, sinnlich offen zu sein, Lust-Gefühle zu entwickeln und passiv zu sein. Vielleicht habe ich es nicht richtig verstanden, aber so kam es mir vor.
Es gibt, glaube ich, schon ein paar Philosophen, die ihre Leser da hinbringen wollen, passiver zu sein und offener als sie sind.
Aber ich glaube, ich verstehe sie richtig, dass wir uns darin einig sind, dass es eine sehr sonderbare Idee ist, die Vorstellung, dass man Bilder und die Bewegung der Bilder also einen Film in Text übersetzen kann. Dieser Ausdruck: »einen Film lesen«...
Reygadas: Exakt ja, ganz genau. Vielleicht sollten wir nicht so generell über Philosophie reden, denn es gibt ja auch die Philosophie der Passivität.
Aber was ich sagen wollte, ist: Das eigentliche Problem ist die Semiologie und der Strukturalismus. Beide haben eine ganze Zeichenlehre in das Kino injiziert. Barthes hat, so wie ich ihn verstehe, ein grundsätzliches Konzept, das technisch einfach falsch ist.
Es ist das Grundkonzept des Strukturalismus übertragen auf die Bilder: Barthes sagt, und Deleuze hat dies übernommen, dass ein Bild keine Realität ist, sondern die Repräsentation von Realität. Ich glaube, das ist grundfalsch. Was ich denke: Ein Bild, jedes Bild, ist keine Repräsentation, sondern es ist eine eigene Realität. Natürlich wird diese Realität dann in etwas anderes übertragen. Die Realität des Lichts lässt sich auf dem Filmmaterial nieder. Aber die Kamera und das Tonaufnahmegerät lügen nicht. Per definitionem lügen sie nicht. Was immer man dreht und aufzeichnet, sind Atome, die direkt vor der Kamera sind und sich in den Bildern niederschlagen. Natürlich kann man dieses Bild dann in irgendeiner Form verwenden, benutzen, auch verfälschen. Man kann daraus Propaganda machen, wie es zum Beispiel in den Kriegen passiert. Aber die Fotografie auch derjenigen, die für die Propaganda missbraucht werden, verweist auf etwas Echtes. Die Soldaten im Ersten Weltkrieg in den Propagandabildern der Engländer – sie waren da! Das Licht die Atome vor der Kamera ist in die Kamera hinein gegangen und das ist etwas, was komplett unterschätzt ist im Kino, und nur sehr wenige Leute verstehen es. Dabei ist das eine wunderbare Idee. Im Kino geht es um Beobachtung und Zuhören, darum sprechen wir über Passivität und darum sind die Maschinen so magisch und wunderbar. Man kann sie einfach hinstellen auf den Knopf drücken und dann kann man den Raum verlassen und Kaffee trinken. Die Maschinen tun die Arbeit ohne dein Talent. Wenn man einen Klavierspieler ist und einen schlechten Tag hat, dann hören das die Zuhörer. Aber die Kamera hat keinen schlechten Tag. Sie macht die Arbeit und sie macht immer die gleiche Arbeit an einem ganz bestimmten Punkt und das ist unterschätzt. Wenn man es schafft, das zu verstehen, dass diese Maschinen etwas Essentielles einfangen, dann hat man die Passivität verstanden, die man braucht um gutes Kino zu machen.
Zusammenfassend: Kino ist keine Kunst der Repräsentation, es ist eine Kunst der Präsenz. Wie Musik, wie Fotografie. Präsentation, nicht Repräsentation
Man steht nicht über allem als Regisseur; vielleicht tut das Hitchcock, aber die anderen nicht.
artechock: Die nächsten Theoretiker, die Sie nerven werden, sind diejenigen die Performance-Theorien entwickeln, nach denen ist alles Performance. Das kommt aus dem Tanz und der Performance-Art und der Theaterwissenschaft, aber eigentlich kann man das auch das Kino beziehen und gerade das, was Sie eben erklärt haben, nämlich den Akt selber, das Hier und Jetzt, die Präsenz – genau dies ist die Basis der Theorie der Performance: Präsenz herzustellen im Akt Kunst zu machen.
Jetzt nach ihren letzten Ausführungen muss ich sie natürlich noch etwas anderes fragen: Was denken sie über Digitalisierung? Wie ist es mit der Digitalisierung?
Wie verändert die Digitalisierung das Kino? Denn Digitalisierung verändert ja genau das, beseitigt es eigentlich, was sie eben beschrieben haben. Jetzt können Sie mit den Bildern und in den Bildern malen. Man könnte Marilyn Monroe in ihren Film hinein setzen mit Computer Techniken – was passiert da jetzt? Verschwindet dieses alte dieses klassische Konzept des Kinos, das sie gerade umschrieben haben?
Reygadas: Ich glaube nicht, dass dieser Digitalisierungsprozess die Ursache von irgendetwas ist, die Ursache von irgendeinem substantiellen Wechsel. Vielmehr ist es eine Konsequenz aus einer viel substantielleren Veränderung, die tatsächlich das Kino zum Verschwinden bringen kann.
Das, was mich wirklich beunruhigt, ist nicht die Digitalisierung, sondern etwas viel Größeres. Es ist die Idee der Unterhaltung und des Unterhaltungskinos, die Idee, dass Kino Unterhaltung sein sollte, und die Idee des „codified cinema“, die Idee die Vorstellung davon wird stärker und stärker in jeder möglichen Art und Weise.
Das Fernsehen ganz sicher und die sogenannten digitalen Plattformen mit diesen ganzen Serien, die unsere Augen und Ohren erziehen, die die Möglichkeiten, die sie den normalen Menschen bieten, die werden übernommen und gekapert von einer ganz bestimmten Form des Kinos: Dem unilateralen Kino, das nur Unterhaltungskino ist, es ist ein Kino, das bereits auf dem Bildschirm vollendet wird und uns erlaubt, es vollkommen passiv zu konsumieren ohne irgendeinen Sinn für Individualität. Ich glaube, das ist es, was mir zum allerersten Mal im vergangenen Jahr das Gefühl gegeben hat, dass es zutreffen könnte, dass das Kino verschwindet und dass nur noch Entertainment übrig bleibt. Das ist es, was mich wirklich beunruhigt. Wenn es nur um die digitale Technik ginge, aber wir Vorstellungen hätten, wie man sie beispielsweise in den 40er Jahren hatten hatte, dann würde sich nicht viel verändern.
Das Problem ist, dass die ganzen Erwartungen, die ganzen Vorstellungen, wie wir selber sein möchten und wie wir glauben, dass Menschen sind, sich komplett geändert haben. Alles basiert auf Selbst-Ausbeutung und auf Selbst-Konsumierung. Denken wir doch nur daran, wie ein normales Leben aussieht: Die Leute gehen zur Arbeit, arbeiten für acht Stunden, der Weg kommt noch dazu, hin und zurück – und dann kommen sie nach Hause und sehen Fernsehserien rauf und runter, und irgendwann schlafen sie ein und dann am nächsten Morgen geht es so weiter – mit anderen Worten: Es geht alles um Ruhigstellung, um Passivität, aber in einem anderen Sinn, als dem den ich vorher genannt habe. Erinnern wir uns an Aldous Huxleys Roman „Brave New World“ („Schöne neue Welt“), da haben die Menschen alle Drogen genommen und es waren teure Drogen und sie führten dazu, dass alle Menschen ungefähr das Gleiche denken würden. Unsere Droge heute die Entertainment-Droge. Die Droge namens Entertainment ist eine deprimierende Droge. Sie führt dazu, dass das zentrale Nervensystem deprimiert wird und ruhig gestellt wird; wir kreieren nichts mehr für irgendein System, sondern wir konsumieren, um so taub und abgestumpft und benommen zu sein, wie möglich, damit wir weiter in der Lage sind, zu leisten und unsere Leistung zu erfüllen. Das ist es, was ich für die Hauptveränderung halte.
artechock: Also eine Passivität, in der sich die Menschen eigentlich in Maschinen verwandeln, in Kameras, wenn man so will.
Reygadas: Exakt. Die andere Passivität ist die, die etwas aufbaut, etwas schafft und diese Passivität führt dazu, dass wir Zeit konsumieren, dass wir dafür sorgen, dass die Zeit schneller vergeht.
artechock: Können Sie sich vorstellen, dass sie für irgendeinen Streaming-Dienst arbeiten würden, wenn sie wirklich tun könnten, was immer Sie tun wollen?
Reygadas: Die Wahrheit ist, dass das unmöglich ist. Dazu gibt es keine Möglichkeit, denn ganz egal, was ich wollen würde – sie würden es mich nie tun lassen.
artechock: Sie brauchen trojanische Pferde sowie Alfonso Cuaron...
Reygadas: Sie wollen Kodifizierung und wenn man nicht kodifizieren will, wenn man keine Moral etablieren will, dann nehmen Sie einen nicht.
Um für diese Leute zu arbeiten, braucht man spezifische Dramaturgien. Man muss erstens einen eindeutigen Konflikt etablieren, zweitens muss man eindeutige Charaktere etablieren, und das bedeutet Simplifizierung von Menschen; und dann muss man drittens eine Moral etablieren. In allen diesen
Fernsehserien und in 98 Prozent des zeitgenössischen Kinos finden Sie das. Insbesondere Moral – und die Leute lieben das. Dieser Impuls ist ein konservativer Impuls, und der ist so unglaublich, so schrecklich aktiv in den Menschen. Ich bin absolut davon überzeugt, dass die Menschen schrecklich konservative Wesen sind. Wir brauchen eine Moral und wir hassen es, wenn jemand uns einen Film präsentiert, der keine klare Moral hat. Wir denken, das ist eine Enttäuschung, und
darum nennen wir es dann »narzisstisch« oder »stupide« oder »arrogant« oder »maßlos« – denn wir wollen so etwas überhaupt nicht. Ich denke diese Art von Kodifizierung, die Tatsache, dass wir kodifizieren müssen, ist das problematische von allem.
artechock: Letzte Frage gibt es da auch irgendwo Hoffnung?
Reygadas: Es gibt eine Hoffnung. Nur eine, und das ist die, dass die Geschichte uns lehrt, dass sich die Dinge irgendwann immer verändern. Das ist die einzige Hoffnung – außer wir zerstören das Leben auf dem Planeten. Die Dinge müssen sich ändern. Was mir aber ein bisschen Sorgen macht, das ist die Tatsache, dass die neuen technischen Geräte eine enorme Macht haben. Sie führen dazu, dass die ganze Gesellschaft extrem gut kontrolliert wird.
Diese Vorstellung von persönlicher Identität, dass wir alle eine persönliche Identität haben müssen und dass wir alle sehr speziell sein müssen, anstelle dass wir glücklich sein müssen – diese Veränderung in der Ideenwelt scheint mir das Leben der jungen Menschen viel viel komplizierter zu machen. Ich denke, die letzte intelligente Philosophie der Menschheit war die Hippie-Philosophie.
Denn das Hippietum ging davon aus, alles sei einfach: Respekt
Freiheit und Glück und das löst alle Probleme. Aber heute hat es der Kapitalismus geschafft, sich wieder zu verändern und neue Konflikte zu führen und neue Teilungen zu schaffen und die Menschen gegeneinander aufzuhetzen.
Mit der Erfindung der Identität wurden die Menschen gegeneinander in Stellung gebracht. Das kann man ganz besonders bei den Angelsachsen und im angelsächsischen Sprachraum beobachten – die sind alle verrückt mit ihrer »racial identity«, sexuellen Identität – das ist ein einziger Fake. Die persönliche Identität, das persönliche Profil, wer man ist – das wird alles nur dazu benutzt, die Leute zu teilen, auseinander zu bringen. Das Gegenteil von Solidarität, das Gegenteil von Menschlichkeit, vom gemeinsamen Kampf für das, was wir glauben, was besser für uns ist.
artechock: Man könnte sagen, das ist ein politischer Strukturalismus...
Reygadas: Ja das finde ich ja auch. Wir hören da auf, wo wir angefangen haben.