D/F/TN/Saudi-Arabien 2023 · 107 min. · FSK: ab 12 Regie: Kaouther Ben Hania Drehbuch: Kaouther Ben Hania Kamera: Farouk Laâridh Darsteller: Hend Sabri, Olfa Hamrouni, Eya Chikhaoui, Tayssir Chikhaoui u.a. |
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Großartiges und originelles Dokumentarfilmkino... | ||
(Foto: Rapid Eye Movies/Real Fiction) |
Die alleinstehende vierzigjährige Tunesierin Olfa hat vier Töchter: zwei leben noch bei ihr, die anderen beiden sind aus ihrem Leben verschwunden.
Dies liegt nicht zuletzt an der Erziehung der Mutter. Sie ist liebevoll, aber sehr streng. Den Töchtern fehlt Freiraum, sie sind voller Sehnsucht nach dem ganz Anderen.
Es liegt aber zum anderen auch an der Umgebung und an der Indoktrination durch den streng-religiösen, fundamentalistischen Islam und an dessen Politisierung zum Islamismus – der längst von Wissenschaftlern auch als islamischer Faschismus beschrieben wird. Der Film zeigt, dass Islamismus längst nicht mehr nur ein Randphänomen islamischer Gesellschaften ist, sondern führt an einem Fallbeispiel vor, wie er diese bis ins Mark durchdrungen, und einen Kulturkampf entfesselt hat, der
viele Familien spaltet. In diesem Fall schlossen sich die zwei älteren Töchter der »ISIS« an, zogen nach Libyen und leben heute irgendwo unter den islamistischen Mordbanden. So endete die pubertäre Rebellion, die ursprünglich der Mutter galt, auf die schlimmstmögliche Art und Weise.
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Die Regisseurin Kaouther Ben Hania engagierte zwei Schauspielerinnen, um ihre Abwesenheit auf der Leinwand zu kompensieren, und nutzt dabei die Kraft des Kinos, um unsichtbare Wahrheiten zu enthüllen und sichtbar zu machen.
Das ist die Prämisse von Olfas Töchter, einer selbstreflexiven, herzzerreißenden und filmisch trickreichen Mischung aus Fiktion und Dokumentation, in der die Regisseurin erkundet, wie es zum Verschwinden der älteren Töchter kam, und wie unterschiedlich die Familienmitglieder heute auf das Geschehen blicken.
Zwei Schauspielerinnen spielen Rahma und Ghofrane, die ältesten Schwestern der Familie. Gemeinsam mit den beiden jüngeren, Tayssir und Eya, die sich selbst darstellen, ahmen sie die wichtigsten Momente ihrer Kindheit nach, um zu verstehen, was zum Verschwinden ihrer Figuren geführt hat.
Die Regisseurin wechselt also zwischen den rekonstruierten Szenen und Aufnahmen der Dreharbeiten und den Interview-Äußerungen der realen Protagonistinnen über das, was sie erlebt haben oder gerade erleben. In gewisser Weise fungiert der Film darum auch als Katalysator und als sein eigener Blick hinter seine Kulissen: Es gibt eine ständige Reflexion über den Einsatz von Film, um Situationen nachzustellen, sowie eine Selbstbefragung über das ethische Dilemma, das damit verbunden ist, Menschen schmerzhafte Ereignisse wiedererleben zu lassen.
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Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen im Verlauf immer wieder: Es gibt Momente, in denen wir ohne Vorwarnung von den Figuren, die über die Szene sprechen, zur erwähnten Szene selbst übergehen. Die Nachbildung ist so präzise, dass man manchmal vergisst, dass die beiden Schauspielerinnen nicht die Schwestern der Protagonisten sind, und ihre Dynamik ist so natürlich, dass sie ansteckend wirkt – wie in einem brillanten Moment, in dem sie alle lachen und dieses Lachen bei der Premiere beim Filmfestival in Cannes auf das Publikum übersprang.
Diese merkwürdige Dynamik ermöglicht es Olfas Töchter, schwere Themen auf eine Art und Weise zu erforschen, die sowohl für das Publikum als auch für die Figuren erträglich ist.
Der Film urteilt nie über Olfa und ihre Entscheidungen: Während ihre Töchter und die Schauspielerinnen ihre Meinungen teilen, lässt uns Kaouther Ben Hania erkennen, dass diese oft das Produkt jahrelanger ererbter Traumata und eines patriarchalischen Systems sind, das die Mutter
zu großer Härte motiviert hat. Dadurch hat sie viele Werte und Verhaltensweisen entwickelt, die letztlich ihren Töchtern geschadet haben.
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Der Kamera gelingen nicht nur schöne Kompositionen, sondern sie trägt auch dazu bei, dass wir Zuschauer in die Geschichte eintauchen. Wenn die Filmemacherin beispielsweise in das Thema einführt, werden die Figuren dramatisch und wirkungsvoll vorgestellt: die beiden jüngsten Töchter vor Olfa und die beiden fehlenden im Hintergrund, wobei letztere als Silhouette hinter farbigem Glas gezeigt werden, das aufleuchtet, wenn sie erwähnt werden, um ihre physische Abwesenheit, aber ihre gleichzeitige Präsenz zu betonen.
Olfas Töchter ist großartiges und originelles Dokumentarfilmkino, das mit Hilfe des Films das Leben einer ganzen Familie rekonstruiert und versucht, die systemischen und sozialen Ursachen zu erklären, die zur Tragödie führen. Trotz des schweren Themas behandelt die Regisseurin den Stoff ihres hochinteressanten, originellen Films auf eine erträgliche und verdauliche Weise, die mit viel Menschlichkeit, Sensibilität und sogar einer kleinen Dosis Humor einhergeht.