Deutschland 2022 · 124 min. · FSK: ab 12 Regie: Sophie Linnenbaum Drehbuch: Sophie Linnenbaum, Michael Fetter Nathansky Kamera: Valentin Selmke Darsteller: Fine Sendel, Jule Böwe, Henning Peker, Noah Tinwa, Sira Faal u.a. |
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Rollenspiele | ||
(Foto: Port-au-Prince) |
Thematisch schließt The Ordinaries an die vielen Science-Fiction-Dystopien wie Die Tribute von Panem oder Die Bestimmung – Divergent der 2010er Jahre an: Eine junge Frau sucht ihren Platz und ihre Aufgabe in einer diktatorisch gesteuerten und streng hierarchisch gegliederten Gesellschaft. Da hier allerdings kein Riesenbudget mit internationalen Stars und entsprechender Vermarktung zur Verfügung stand, ist das Filmset eher unspektakulär, die Drehorte aber sehr geschickt gewählt, und der Film erinnert im Look teilweise an die grau-trostlose Welt aus Orwells 1984. Man sieht, dass ein Science-Fiction-Film – wie der fantastische Hell von 2011 – durch das Spiel mit Licht, Farben und Räumlichkeiten (Kamera Valentin Selmke) keine spektakulären CGI-Effekte braucht, um atmosphärisch zu überzeugen.
Beim Filmfest München gewann The Ordinaries den Förderpreis Neues deutsches Kino für die beste Regie, weitere Preise folgten. Ein Film, der prall gefüllt ist mit originellen Ideen und liebevollen Details. Die alles in allem auch sehr verspielte und leichte Liebeserklärung an das Kino macht auch mehrmaliges Sehen lohnenswert, und es ist zu hoffen, dass der Film jetzt auch ein großes Publikum findet.
Die Grundidee: Wir befinden uns in einer geschlossenen Filmwelt von Filmfiguren, die unabhängig von einem Publikum existieren und dort ihr Eigenleben führen.
Paula Feinmann (Fine Sendel) ist die Tochter einer Nebenfigur und einer verstorbenen Hauptfigur und bereitet sich gerade auf ihre Abschlussprüfung an der Hauptfigurenschule vor. Dort will sie nach fünf Jahren harter Arbeit u. a. an Cliffhanger-Szenen und Panikkreischen, enthusiastisch angetrieben von ihrem Schauspiellehrer, einen sentimentalen Monolog über ihren verstorbenen Vater aufführen, der ihr den Eintritt in die glamouröse Welt der Hauptfiguren ermöglichen soll. Die passende dramatische Musik liefert ihr dabei ein sogenannter »Herzleser«, den jede Hauptfigur an sich trägt. Doch die ohnehin schon etwas mutlose und an sich selbst zweifelnde Paula wird irritiert von dissonanten Tönen ihres Herzlesers (Musik Fabian Zeidler), die ihr signalisieren, dass etwas nicht stimmt. So geht sie zunächst zu einer Ärztin, die sie routiniert untersucht – »Nennenswerte Wendepunkte oder Cliffhanger in den letzten Wochen?« – und tatsächlich zu einem fatalen Ergebnis kommt: »Verdacht auf Missbrauch von Emotionspotenzial.« Zudem muss Paula feststellen, dass über ihren angeblich märtyrerhaft verstorbenen Hauptfiguren-Vater im Archiv keine einzige Bildaufzeichnung besteht. So macht sie sich mit Hilfe der »Fehlbesetzung« Hilde, einem männlichen Hausmädchen in Kleid und Häubchen (absolut wundervoll verkörpert von Henning Peker), in der Zone der Outtakes und verblassenden Charaktere auf die Suche nach ihrem Vater.
Eindringlich werden die Klassenunterschiede in Szene gesetzt: Während Paula mit ihrer Nebenfiguren-Mutter (überragend gespielt von Jule Böwe), die nur einen äußerst begrenzten Satzvorrat zur Verfügung hat – »Ich habe mir Sorgen gemacht« –, in einem trostlosen monochromen Plattenbau lebt, wohnt ihre Schulfreundin Hannah (Sira-Anna Faal) mit ihrer Familie in einer großen bunten Villa. Wenn dort der Vater nach Hause kommt, beginnt die ganze Familie auf Stichwort bestens gelaunt eine kleine Musical-Nummer aufzuführen, wobei sie sich dabei selbstkritisch auf kleine Fehler hinweist, denn Perfektion ist das erklärte Ziel. Die klare Farbgebung und Lichtgestaltung unterstreichen die unterschiedlichen Lebenswelten, die noch einmal kontrastiert werden von dem stets dunkel-nächtlichen, umzäunt und streng bewachten Areal der Outtakes, Schwarz-Weiß-Figuren und ähnlichem im hellen Hauptbezirk nicht geduldeten Rollenpersonal. Die Unzufriedenheit der an den gesellschaftlichen Rand gedrückten und in slumähnlichen Verhältnissen wohnenden Outtakes schafft sich mit kleinen Explosionen und Störungen der Filmaufnahmen Gehör. Aber der Polizeistaat unterdrückt dies mit allen Mitteln und hat sich mit dem »Großen Massaker« eine Erinnerungsideologie geschaffen, die eine großangelegte Verfolgung der Opposition verschleiern soll.
Man könnte jetzt tatsächlich in Versuchung kommen, den gesamten Film nachzuerzählen, weil er gespickt ist mit filmreferentiellen Details (zum Beispiel kleinen Aussetzern und Filmfehlern bei Simon, einem Outtake und Freund Paulas – Montage Kai Eiermann) und lustigen Einfällen (Lassie-Cameo etc.), zusammengehalten von der dramatischen Selbstfindung und Emanzipation der Protagonistin, die dann auch gesellschaftlich-politische Implikationen entwickelt und die strenge Filmfiguren-Hierarchie in Frage stellt. Das ist natürlich vor allem ein Kompliment an das außergewöhnliche Drehbuch von Sophie Linnenbaum und Michael Fetter Nathansky. Aber auch der gesamte Cast (Karl Schirnhofer) ist toll zusammengestellt und überzeugt, wie man so schön sagt, bis in die kleinste Nebenrolle. Allen voran die Protagonistin Fine Sendel, die immer wieder im Close-up die tragikomische Filmhandlung letztlich tragen muss und dies bravourös leistet. Vor allem in den Szenen mit Mutter und Tochter erzählt der Film eine psychologisch stimmige und berührende Geschichte des Erwachsenwerdens. Paula erkennt die absolute emotionale und sprachliche Beschränktheit ihrer im Nebenfiguren-Korsett agierenden Mutter, reagiert darauf aber mit Mitgefühl und Achtung statt mit Abwertung und Aggression und kann sie dadurch am Ende ein wenig von ihrer Beschränkung befreien. Das ist eine wunderbar weise und stille Botschaft. Wie sich überhaupt alle hoffnungsvollen Botschaften, die diese Dystopie vermittelt, in ihrer Unaufdringlichkeit wohltuend abheben von den immer lauter und penetranter vorgetragenen Aussagen amerikanischer Blockbuster wie etwa Avatar: The Way of Water, wo zum Beispiel der Familienzusammenhalt (als letzter verbindenden Ideologie einer zersplitterten Gesellschaft?) in endlosen pathetischen Schleifen beschworen wird, bis einem die Ohren dröhnen.