Deutschland 2016 · 76 min. Regie: Marita Neher, Tatjana Turanskyj Drehbuch: Nina Kronjäger, Anna Schmidt Kamera: Kathrin Krottenthaler Schnitt: Kathrin Krottenthaler Darsteller: Nina Kronjäger, Anna Schmidt u.a. |
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Die Zäune der Migration |
Die titelgebende Orientierungslosigkeit ist hier Programm: Nach und nach verlieren eine Journalistin (Nina Kronjäger) und eine Aktivistin (Anna Schmidt) die Kohärenz in ihrem ideologischen Weltbild. Aus dem Zusammenprall ihrer unterschiedlichen Perspektiven zum politischen Engagement, der Arbeit aus Idealismus und dem (selbst)ausbeuterischen Kapitalismus entspringt ein Roadmovie voller Fragen. Es führt durch Thrakien, dem griechisch-türkisch-bulgarischen Grenzgebiet und Backland von Europa, in das Flüchtlinge über die Balkanroute gelangt sind. Immer wieder tauchen am Straßenrand unvermutet Lager auf, hinter Zäunen liegende Zeltunterkünfte, oft verborgen in einem Tal: Menschen am Rande Europas, anschaulich marginalisiert.
Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen entstand in Zusammenarbeit zweier recht unterschiedlicher Regisseurinnen, was sich in vielen Ebenen, auch in den Protagonistinnen, widerspiegelt. Tatjana Turanskyj, die zuletzt die ersten beiden Teile ihrer »Frauen- und Arbeitstrilogie« (Eine flexible Frau, 2010, und Top Girl, 2014) ins Kino brachte und als Mitbegründerin von Pro Quote Regie seit 2014 auch filmpolitisch agiert, kann hier leicht als »Aktivistin« gelten; ihre Co-Regisseurin Marita Neher ist Dokumentarfilmerin, die sich in ihren Filmen mit Themen wie der prekären Arbeitssituation von Freiberuflern (Prekär, frei und Spaß dabei?, 2008) oder der europäischen Sicherheitspolitik befasst, und die Figur der Journalistin ins Projekt gebracht haben mag.
Einen »Essayfilm, getarnt als Roadmovie« nennen Neher und Turanskyj ihren Film. Die Suche des Essays konkretisiert sich in einer geopolitischen Fahrt, die wie die lange Reise des Griechen Odysseus eine Irrfahrt ist. Es geht »Richtung Drama«, weiß immerhin die Journalistin, die die Aktivistin als Anhalterin am Straßenrand aufliest.
Gedreht wurde 2014, und Nehers und Turanskyjs Film macht deutlich, wie lange die Flüchtlingskrise schon anhält. Von »desaströsen Zuständen« in den Lagern war damals schon die Rede, bis heute hat sich daran nichts verändert. Einen direkten Kontakt zu den Flüchtlingen gibt es im Film indes nicht. Neher und Turanskyj nähern sich ihnen eher indirekt, über die Einheimischen, die die Existenz der in den Lagern Verfrachteten spiegeln. Damit wählen die Regisseurinnen den suchenden Umweg, der an Gianfranco Rosis Fuocoammare erinnert, aber auch das Nichtwissen und die orientierungslose Ohnmacht darüber akzentuiert, wie man tätig werden solle. Das aufgerufene »Drama« bleibt ungreifbar und unbegreifbar, was die Frauen auf ihre eigene Situation zurückwirft: Die Journalistin befindet sich in einer prekären Arbeitssituation und versucht, aus der Krise noch letzten Profit herauszuschlagen; die Aktivistin ist passiv geworden und verheddert sich in ihren eigenen Ansprüchen.
Dieser Twist auf die Figuren bringt eine große Ehrlichkeit in den Film hinein. Nicht nur die geopolitische Situation der Welt, sondern auch das soziale Individuum in seiner Biographie in Frage zu stellen, bestimmt den offenen Grundton des Films. Die filmische Form ist gleichermaßen unentschiedenen, mischt Spielelemente mit dokumentarischen Bildern und verlangt nach Improvisation, wenn die Schauspielerinnen zu Performern werden und sich in Situationen mit den Einheimischen hineinbegeben, deren Ausgang nicht absehbar ist. Bei allem schwebt über dem Film auch das Experiment in seiner ganzen Künstlichkeit, die sich im Sprachduktus niederschlägt. Ähnlich wie in den Filmen der Berliner Schule, insbesondere von Angela Schanelec und Thomas Arslan, wirken die Sätze oftmals wie aufgesagt, entdramatisiert wie die dem Drama entwundene Plotebene.
Dies setzt sich auf Bildebene fort: Das Griechenland von Neher und Turanskyj ist anti-touristisch, wolkenverhangen, farbentsättigt und rückhaltlos trist. Kamerafrau Kathrin Krottenthaler zeigt uns die graue, vorwinterliche Landschaft der weiten Felder und unbestimmten Horizonte als lost landscape, die konturlos und doch von erhabener Schönheit ist: In ihr werden sich die Figuren mehr und mehr verlieren, in ihr sind die Flüchtlinge gestrandet. Allein die Landkarte, der Festhaltegegenstand für alle Orientierungslosen, spendet Trost. Dies findet den finalen Höhepunkt, wenn sich die Journalistin, erschöpft von der ganzen Sucherei, mit der Landkarte zudeckt.
Neher und Turanskyjs haben ein Stück ungezähmtes deutsches Kino geschaffen, das kraftvoll und wutentbrannt ist, sich nicht um Erzählkonventionen schert und über Strecken auch streitbar ist. Wohltuend begnügt sich der Film nicht vorschnell mit Antworten: Am Ende bleibt das Fragezeichen spürbar über dem Bild der weiterziehenden Aktivistin stehen. Orientierungslosigkeit ist eben auch ein Statement.