Deutschland/Frankreich 2019 · 129 min. Regie: Ulrike Ottinger Drehbuch: Ulrike Ottinger Kamera: Ulrike Ottinger Schnitt: Anette Fleming |
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Das junge Ich der Künstlerin | ||
(Foto: Real Fiction) |
»Dies ist ja gar kein richtiger Film die sprechen ja deutsch.«
Ulrike Ottinger, als Kind, im französischen Kino sozialisiert
Ulrike Ottinger hat sich auf die Suche nach ihrer eigenen verlorenen Zeit begeben: Paris Calligrammes ist ein autobiographisches Projekt, aber nie narzisstisch. Dies ist auch die Geschichte einer Weltentdeckung mit den Mitteln des Kinos.
Paris – ein Paradies. Die Erfahrungen eines sehr jungen Menschen aus Westdeutschland. Die 20jährige Ulrike Ottinger hat sich in den Kopf gesetzt, nach Frankreich zu fahren, und sie lernt Frankreich kennen, genau gesagt Paris.. Und sie kam genau zur richtigen Zeit: 1962. Es war das Frankreich, das noch so sah so aussah wie in den Romanen von Pagnol, wie im »Cinéma de Papa« gegen das die Nouvelle Vague zur gleichen Zeit ankämpfte.
Denn dies war eben auch die Zeit des Abschieds vom Alten; vom alten Kino, von der alten Gesellschaft von den alten Herren in den Talaren. Es war die Epoche der Revolte, die hinführte zum Mai 1968 und genau in dieser Zeit, also in der ganz richtigen, idealen Epoche des »Vor-Mai« lebte Ottinger in Paris. Nun lässt sie uns teilhaben für wunderbare zwei Stunden voller sinnlicher Eindrücke, ja auch voller Nostalgie – vor allem aber voller Aufbruchs, Optimismus und Jugend.
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Die Filmemacherin Ulrike Ottinger ist eine Institution. Vor zehn Tagen wurde sie bei der Berlinale ausgezeichnet. Ihr neuester Film Paris Calligrammes ist eine autobiographische Spurensuche. Denn als junges Mädchen ging Ottinger ins Paris der Existentialisten und Emigranten und wurde dort, in der Begegnung mit der französischen Kultur, zu der Künstlerin, die sie ist.
Ottinger erzählt also von sich selbst. Aber nicht narzisstisch. Autobiographisch ja. Wer das langweilig findet und narzisstisch, der erzählt nichts über die Regisseurin, sondern über sich und unsere Zeit. Paris und Frankreich sind auch ein Filmthema. Ottinger findet überall Filmverweise, sie verbindet ihre ganz persönliche Autobiografie mit einer cinephilen Autobiographie, genau gesagt einer cinephilen Weltentdeckung: »'Ein Spektakel für die, die ihre Augen nicht in der
Tasche haben' heißt es in Les enfants du paradis. Meine Augen hatte ich noch nie in der Tasche stecken, aber in Paris wurden sie weit und weiter, groß und größer.«
Es geht darum, aus dem Ich ein Medium der Selbstkritik zu machen, aber auch der Selbsterfahrung und der Welterfahrung. Ins Kino als ein solches kongeniales Medium der Weltbetrachtung führt Ottinger uns schon in einer ganz frühen
Szene ein. Auf der Fahrt nach Paris musste sie wegen einer Panne ihrer Isetta Autostop machen: »Die Landstraße war damals noch nicht sehr stark befahren, und ich war froh, als ein großer schwarzer Citroen hielt. Darin saßen fünf Herren mit Hut und Mantel. Sie wirkten wie von einem Bankraub zurückkehrend oder wie die Darsteller eines Film noir. Entgegen dem, was ihr Aussehen vermuten ließ, waren sie sehr freundlich, rauchten wie die Schlote Gitanes, und ich hielt mit...«
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Es war zugleich ein ganz anderes Frankreich. Ein Frankreich, in dem die Endphase des Algerienkrieg tobte, des französischen Vietnam. Ein Frankreich, das in General de Gaulle seinen Retter zu finden glaubte und ihn in gewisser Weise auch fand. Ein Frankreich, das mit sich selbst ganz und gar im Unreinen war, das gut 20 Jahre nach der schrecklichen Niederlage im Blitzkrieg gegen Deutschland sich jetzt im Übergang von der Vierten zur Fünften Republik befand: Auf der einen Seite war die Linke radikalisiert, die kommunistische Gewerkschaft CGT ein Staat im Staat, auf der anderen Seite hatte sich aber auch die Rechte bis an den Rand des Faschismus radikalisiert. Terror kam damals in Frankreich von ganz Rechts außen unter dem Namem OAS. Man scheute sogar, um die geliebte Heimatkolonie Algerien zu verteidigen, nicht vor einem Attentat gegen den Kriegshelden de Gaulle zurück.
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Ottinger kam rechtzeitig genug, um noch den Überlebenden der von Hitler vertriebenen Emigranten zu begegnen.
Vor allem in der »Librairie Calligrammes« des deutschen Emigranten Fritz Picard – ein Büchergewölbe, ein expressionistischer kleiner Tempel der Literatur. Sie ist verschwunden. Die Buchhandlung – benannt nach Apollinaire und seinen »Calligrammes«, den Gedichten vom Frieden im Krieg – heißt heute anders und hat neue Besitzer. Wir sehen in einer wunderschönen Aufnahme, wie Georg Stefan Troller, auch so ein Überlebender aus früherer Zeit, Picard einmal für sein
»Journal« – wer kennt es noch? – interviewte.
Es geht in dem Film auch um den hohen Standard einer Buchkultur, die aus jedem Band ein kleines Kunstwerk machte. Um die Nachwehen der Dadaisten und der Surrealisten und anderer Avantgarde-Bewegungen aus den 1920er Jahren. Damals lebten diese Leute noch als Ältere, so wie heute die ‘68er sich an ihre Jugend erinnern. Die Buchhandlung war ein Ort an dem sich deutsche Künstler aller Richtungen trafen: Annette Kolb, Max
Ernst, Hans Arp, Ernst Jünger, Jacob Taubes, Paul Celan, Hans Richter. Bis unter die Decke reichten in der Librairie die Bücher, oft Exemplare, die der Buchhändler vor der Verbrennung von Nazi-Deutschland gerettet hat. Der deutschen Vergangenheit entkam Ottinger auch im Paris der 1960er Jahre nicht.
Es ist auch das Zeitempfinden einer ganz anderen Zeit voller Ruhe und Geduld, es sind auch die Töne einer anderen Zeit, die hier in einem Gedicht aus dem Exil liest. In einer
atemberaubenden Szene schildert Ottinger eine Lesung des Expressionisten Walter Mehring. Sie nahm sie mit dem Tonband auf:
»Es weht ein Blatt kaum leserlich, 'Die Dummheit, die wir persifliert, die macht Geschichte, die regiert. Herzlichst Tucholsky – ohne mich'. In Schweden krank, doch unbekehrt, hat er den Schierlingstrank gelehrt.
Der beste Jahrgang deutscher Reben ließ vor der Ernte so sein Leben.«
Es gibt das nicht mehr, wovon Ottinger erzählt – gegenüber dem, was sie zeigt sind, wir alle Spätgeborene und Epigonen.
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Paris war damals auch das Medium der Entdeckung eines ganz anderen Lebens. Eines Lebens, in dem die Buchhandlungen bis Mitternacht geöffnet haben, und die Jazzkeller erst ab Mitternacht öffnen. Das Gegenteil des Nachtwächter-Deutschland.
Ein Leben in der Öffentlichkeit – private Rückzugsorte gab es auch kaum –, das sich um die Pole »Brasserie Lipp«, »Café Deux Magots«, »Café de Flore«, »Café Le Select«, »Café Dome« und »Café La Rotonde« drehte.
Natürlich ist dies auch noch ein Paris der Klassenverhältnisse – warum auch nicht? Klassenverhältnisse, das hat sich gezeigt, seit es sie nur noch unausgesprochen gibt, sind möglicherweise nötig, damit Kultur entsteht. Sei es auch nur als Widerstand gegen sie. Totale Klassenlosigkeit könnte Kultur womöglich verhindern.
»In den Museen gab es keine Warteschlangen« – ja, denn es gab noch keinen Tourismus, die Museen waren fast leer, sie waren für die Künstler
da, und nicht fürs Publikum. Es gab noch nicht überall Publikum und Kultur als Konsumgut, überall »Publikumsfestival«, überall »Publikumsheranschmeißerei«, überall Populismus. Man muss sich nicht wundern über heute populistische Politik, wenn im Rest des Lebens alles populistisch ist.
Auch Ottinger, das sollten die bedenken, die sie jetzt (zu Recht!) feiern, ist – ungeachtet, dass sie auch Bohemienne ist, und Linke – eine bürgerliche Künstlerin, die nur im
Kontext unserer heutigen, viel viel konservativeren Verhältnisse, erstaunlich unbürgerlich wirkt. Sie traf »Künstler und interessante Leute aus aller Welt«, das genügt als Maßstab. Man muss »interessant« sein, nicht »gut«. Die Gespräche wurden in fünf Sprachen geführt, und zwar durcheinander, Menschen aller Nationen kamen zu den »richtigen« Leuten, zu Abendessen, etwa bei Jerry Friedländer, der wiederum mit seinem Atelier von einigen reichen »Engländerinnen und
Amerikanerinnen« ausgehalten wurde. Raymund Duncan war ein Spinner und das Faktotum des Viertels, aber er war eben auch »der Bruder der berühmten Tänzerin Isadora Duncan.«
Ottinger freut sich über ihre Begegnungen mit den Großen des Kulturlebens – übrigens vor allem großen alten weißen Männern –, die ihr offenbar nicht geschadet haben. Dieser Film ist auch völlig frei von allem politisch-moralischen Eifer, von allem zur Schau getragenen, plakativen Frauenrechtlertum. Stattdessen begegnet man der Selbstverständlichkeit, eine Frau zu sein, und damit auf alles ein Recht zu haben. Französischer Feminismus eben.
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Eine ganze Welt ersteht hier wieder auf: Trocadero, die monumentalen Überbleibsel der Weltausstellung von 1937, das »Museum der Geschichte der Menschheit«. Es hat sie gebildet, heute würde man auch diesen Ort schleunigst post-kolonialistisch dekonstruieren. Ulrike Ottinger hat er nicht geschadet.
Daneben lag ab 1963 der neue Standort der Cinématheque Française. Wir sehen auch André Malraux und Pompidou in den Reihen sitzen. Ottinger beschreibt ihre »Education
sentimentale« als Filmgeschichte von Lumière, der russischen Avantgardisten Eisenstein und Pudovkin und den deutschen Expressionismus, die sie an der Cinémathèque Française erlebte. Das Kino als Zusammenfassung aller anderen Künste, als Vereinigung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
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Der Kapitalismus hat dieses Paris zerstört und die Gesellschaft, die es schuf. Die es also erst ermöglichte, und gleichzeitig von ihm geschaffen wurde. Eine traurige, eine beschämende Geschichte.
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Man lernt auch einiges über Ulrike Ottinger selber und ihr Werk. Man sieht nämlich, wo es herkommt: Es stammt aus dem französischen Kino, es stammt aus den Museen des Imperialismus, die Sehnsüchte weckten, aus dem Geist des Dadaismus und des Jazz, dem sie in Paris begegnete, und aus den richtigen Filmen, die sie in den Sonntagsmatineen des französischen Militärs sah, denn Ottinger wuchs in Konstanz in der französischen Besatzungszone auf. Zum deutschen Kino bemerkte sie, als sie als Kind ihren ersten deutschen Film sah: »Dies ist ja gar kein richtiger Film die sprechen ja deutsch.«
So ist dieser Film auch die Geschichte einer deutsch-französischen Freundschaft, und des Treffens der verschiedenen Avantgarde-Bewegungen, auch derjenigen Franzosen, die sich für Deutschland interessierten und später Christa Wolf oder Volker Braun übersetzen. Im Konstanz der Nachkriegszeit, unter französischer Besatzung, hat sie früh ein eigenes Atelier gehabt, unter dem Dach eines mittelalterlichen Hauses. »Bitte folgen Sie dem roten Faden!« stand unten an der Tür.
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Jetzt, 50 Jahre später, macht Ottinger einen Film über den Menschen, der sie damals war, und verarbeitet ihre Erfahrungen, das, was seitdem in ihrem Leben geschehen ist. Es gibt hier einige sehr selten zu sehende Filmaufnahmen und Ausschnitte aus alten Filmen und Archivmaterial. Sie arbeitet mit dem alten Material, aber oft genug auch mit neuem – und in gewissem Sinn zeigt sie in den ersten fünf Minuten einen zweiten Film, einen Film, bei dem sie einfach alles Material benutzen
durfte, das sie benutzen wollte.
Ottinger ist eine Antiquarin, Archivarin, Archäologin, sie legt die Schichten frei, aus denen sich die Geschichte zusammensetzt.
So steht das Paris der Existentialisten wieder auf. Ab und zu läuft Simone Beauvoir durchs Bild.
Neben die Nostalgie dieser Chronik eines Sommers, der sieben Jahre dauerte (Jean Rouch traf Ottinger selbstverständlich auch), tritt auch der Schrecken des Algerienkriegs und das Trauma, das er für die deutsche Gesellschaft bedeutete, die französische Gesellschaft bedeutete.
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Von einer Hass-Schraube erzählt sie, sie zeigt mit dem mir bislang leider unbekannten Film »Octobre à Paris« erschütternde Bilder der Algerier in ihren Pariser Elendsquartieren, Slums mitten in Paris. Die Algerier machten die Schmutzarbeit, sammelten, was die Pariser wegwarfen. Sie nannten ihre Slums »Bidonville«, Kanisterstadt.
Und dann die Eskalation am 5.Oktober 1961. Nur Michael Haneke hatte bisher über diese Geschichte erzählt. Der berüchtigte Polizeipräsident Papon,
mit einschlägiger Vichy-Vergangenheit, ließ algerische Demonstranten dutzendweise erschießen, erschlagen, verletzt in die Seine werfen, schwer verletzen. Vor dem »Cinéma Rex« wurden die Verletzten von der Polizei zusammengetrieben und die Toten übereinander gestapelt – vor den Augen der Passanten und Kinobesucher.
Sie zitiert Albert Camus, der den Vorschlag einer gleichberechtigten Föderation gemacht hatte – war nur einer seiner vielen eher naiven
politischen Vorschläge, wegen denen er leider, aber nicht ohne Grund zwischen den Fronten stand. Aber: »Mich hat er viel über Revolte nicht nur in Algerien verstehen lassen.«
Ihre Illusionen über Algerien und den Nationalismus der FLN verlor Ottinger durch den Kontakt mit den Soupaults. Ré Soupault (eine Deutsche, die Ende der Zwanziger als Studentin am Bauhaus und dem Umfeld von Hans Richter als Modekorrespondentin nach Paris gekommen war) und Phillippe Soupault (der als Surrealist begonnen hatte) hatten schon in den Vierziger Jahren im französischen Maghreb gelebt, und neben ihrem Widerstand gegen das Vichy-Regime auch wertvolle ethnographische Photo- und Filmreportagen produziert. »Eine Frau allein gehört allen« erschien erst in den 80er Jahren noch zu Ré Soupaults Lebzeiten. Sie waren wertvolle Gesprächspartner durch ihr Detailwissen über die vielen kleinen Ursachen des Algerienkriegs. »Sie dämpfen ein wenig die rückhaltlose Begeisterung für das sozialistische Algerien«.
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Dies ist ein revolutionärer Film. Er ist das, weil er komplett unzeitgemäß ist; weil er dabei wunderschön ist; weil er uns an das erinnert, was wir verloren haben oder nie gefunden; weil er uns die Neugier und den Aufbruch zeigt, die wir vergessen haben und uns an das erinnert, was wir mal waren, als wir jünger waren, als unsere Gesellschaft weniger satt war, weniger alt und verknöchert.
Eine überaus romantische Geschichte also – ein Film für alle, die Frankreich lieben. Ulrike Ottinger hat sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit begeben. Es ist ein Glück für uns, dass sie sie auch gefunden hat.