Le passé – Das Vergangene

Le passé

Frankreich 2013 · 125 min. · FSK: ab 12
Regie: Asghar Farhadi
Drehbuch:
Kamera: Mahmoud Kalari
Darsteller: Bérénice Bejo, Tahar Rahim, Ali Mosaffa, Pauline Burlet, Elyes Aguis u.a.
Vergangenheit im Koma?

Eine Familie ist niemals beendet

Vier Jahre zuvor: die Trennung. Jetzt: eine Rückkehr. Der Iraner Ahmad (Ali Mosaffa) kommt aus Teheran zurück in einen Vorort von Paris zu seiner Noch-Ehefrau Marie (Bérénice Bejo). Es soll nur für eine kurze Zeit sein, um den Schei­dungs­termin wahr­zu­nehmen, doch selbst in diesen wenigen Tagen wird Ahmad wieder in das Leben von Marie, ihren Kindern aus erster Ehe, ihrer neuen Liebe Samir (Tahar Rahim) und dessen kleinen Sohn hinein­ge­zogen. Einen Moment wehrt sich Ahmad dagegen, doch man merkt sehr schnell, dass er den Menschen, die er einst verlassen hat, immer noch sehr nahe ist. Diese Nähe ist es auch, die ihn zu einer Art Kata­ly­sator macht, er wirkt wie eine unab­hän­gige, beru­hi­gende Instanz auf alle. Er ist derjenige mit dem die 16-jährige Tochter von Marie, Lucie (Pauline Burlet) sprechen kann. Lucie verschließt sich aus uner­find­li­chen Gründen immer mehr, sie scheint eine starke Abneigung gegen den neuen Mann ihrer Mutter zu haben, die sich niemand erklären kann. Aber Lucie vertraut Ahmad, sie sind einander sehr ähnlich, fast wie Vater und Tochter. Der Film spielt zum Großteil in Maries Haus, es ist etwas herun­ter­ge­kommen, aber innen frisch gestri­chen. Die drei Kinder werden zu Geschwis­tern, man hat nicht das Gefühl, dass man sich Sorgen um sie machen muss, trotzdem liegt eine Beküm­me­rung über allem und langsam schält sich heraus, woran das liegt.

Der iranische Regisseur Asghar Farhadi erhielt 2012 für Nader und Simin – Eine Trennung den Oscar. Nader und Simin ist ein psycho­lo­gi­sches Fami­li­en­drama über eine Familie, die im Begriff ist, sich zu verlieren. Die einzelnen Figuren treffen in dem Film ihre zwar immer nach­voll­zieh­baren, aber auch fatalen Entschei­dungen, die meist in eine Sackgasse führen. Die Geschichten mehrerer Figuren verweben sich hier so komplex und faszi­nie­rend wie auch in Le passé. Mit einem Mal befindet man sich mitten­drin und kommt, genauso wie die Personen, nicht mehr raus aus der Geschichte, hat sich hinein gewoben und im Netz gefangen. Beide Filme leben durch ihre Geschichte oder besser durch die Vielzahl der Geschichten. Jede einzelne Figur hat ihr eigenes Leben, ihre eigene Vergan­gen­heit, etwas, das sie immer mit sich trägt. Diese an sich schon komplexen Einz­el­ge­schichten treffen durch die Begegnung der Figuren zusammen und pflanzen sich fort, das Ganze wird zu einem Netz, einem Rhizom. Linea­rität kommt im wahren Leben eben so gut wie nie vor.

Marie (Beste Darstel­lerin in Cannes 2013), Ahmad, Samir und Lucie verknüpfen sich mitein­ander, selbst Samirs Ehefrau fließt in diese Choreo­gra­phie mit ein. Sie liegt seit einem Suizid­ver­such im Koma. Samirs kleiner Sohn weiß so nicht mehr, wo er hingehört, in welchem Bett er schlafen, in welcher Wohnung er sich zu Hause fühlen soll. Man sieht selten so komplexe und gute Kinder­fi­guren wie in diesem Film. Sie suchen nach Halt, aber auch den Erwach­senen geht es nicht anders. „Eine Familie ist niemals beendet.“

Wie schon bei Nader und Simin ist es auch hier die Frau, Marie, die an ein vorwärts glaubt, die nicht stagniert, sondern in die Zukunft strebt. Sie ist schwanger von Samir und versucht der zusam­men­ge­wür­felten Familie Halt zu geben und treibt sie in die Zukunft. Aber was wird mit der Vergan­gen­heit? Mögli­cher­weise liegt sie im Koma, man weiß nicht, was da noch kommt, aber man muss trotzdem weiter­ma­chen.

Le passé kann überall spielen, der Ort ist ganz gleich, denn der Film handelt ganz allgemein von der Verbin­dung und Trennung von Menschen, erzählt vom Fluss und den Bewe­gungen mensch­li­cher Bezie­hungen und das passiert selten so gekonnt und großartig wie bei Farhadi.

Die Schuld der Anderen

Mit dem persi­schen Schei­dungs­drama Nader und Simin – Eine Trennung gewann Asghar Farhadi vor zwei Jahren bei der Berlinale den Goldenen Bären – und in Frank­reich über eine Million Zuschauer.
In Deutsch­land wollten nur ein paar Tausend den faszi­nie­renden Film sehen, der ein privates Drama zugleich zum Abbild einer Gesell­schaft macht.
Kein Wunder, dass Farhadi mit seinem neuen Film dann lieber auch gleich in seiner Wahl­heimat Premiere feiert. Hier lebt er die meiste Zeit des Jahres, denn im Iran werden frei­geis­tige Künstler bekannt­lich bedroht und verfolgt.

Le passé (»Die Vergan­gen­heit«) spielt unter Immi­granten, und wieder geht es, wenn auch ganz anders, um eine Trennung: Zu Beginn fliegt Ahmad aus Teheran ein, um sich nach vier Jahren Trennung von seiner Frau Marie scheiden zu lassen. Die lebt mit zwei Töchtern aus erster Ehe in einem Haus am Rand von Paris. Man spürt, das noch viel Nähe zwischen dem Paar besteht, und schnell wird Ahmad wieder in die alten Verhält­nisse und einen Strudel aus Gefühlen hinein­ge­sogen. In dessen Mittel­punkt steht Maries 16jährige Tochter Lucie. Die hat heftige Konflikte mit ihrer Mutter, deren Ursachen zunächst völlig unklar sind. Der ausglei­chende Ahmad soll schlichten – und sein gutes Verhältnis zu Lucie, die sich ihren Stief­vater zurück­sehnt, einsetzen. Bald ist klar, dass auch Maries neuer Freund Samir, und der miss­glückte Selbst­mord seiner Frau, die nun im Koma liegt, hier eine Rolle spielen…

Wieder bietet Farhadi Innen­an­sichten zweier Familien, deren Schicksal mitein­ander verstrickt ist. Wieder erzählt er von Schuld und Vergebung, Trost und Sühne, Entschul­di­gung und Ausreden. Ein Rädchen der Erzählung greift ins andere, das mag man etwas konstru­iert finden, aber es ist eben zumindest sehr gut konstru­iert, und glänz­endes Regie­hand­werk im Hinblick auf Szenen­aufbau, Schau­spiel­füh­rung und Erzählö­ko­nomie.

Jeder schiebt in dieser Story die Schuld auf den Anderen, und jeder muss seinen eigenen Anteil erkennen; jeder hat etwas Schuld, aber Schuld hat keiner Alleine, Farhadi unter­nimmt also auch eine Absage an den Narzissmus der Schuld, den es ja auch gibt. Diese mora­li­sche Geschichte ist so unauf­dring­lich wie universal. Sie ist ein bisschen kitschig, aber es bleibt aus guten Gründen alles offen, alles Entschei­dende unklar.