Russland/D/BY 2020 · 127 min. · FSK: ab 12 Regie: Vadim Perelman Drehbuchvorlage: Wolfgang Kohlhaase Drehbuch: Ilya Zofin Kamera: Vladislav Opelyants Darsteller: Nahuel Pérez Biscayart, Lars Eidinger, Jonas Nay, Leonie Benesch, Alexander Beyer u.a. |
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Intensives Kammerspiel | ||
(Foto: Alamode Film/Filmagentinnen) |
»Was für unterschiedliche Dinge sind ihnen in den Lagern zugestoßen und angetan worden? Ob vielleicht die, die schlecht träumten, gefoltert worden waren und die anderen nicht. Auch das Schreckliche bedarf der näheren Untersuchung. Hinter dem Stacheldraht-Vorhang sind nicht alle gleich, KZ ist nicht KZ. In Wirklichkeit war auch diese Wirklichkeit für jeden anders.« – Ruth Klüger, weiter leben – Eine Jugend
Es ist fast müßig, es zu sagen, soll und muss aber doch gesagt sein: Filme über den Holocaust kann es nicht genug geben. Umso mehr, als die letzten Zeitzeugen sterben und den Holocaust-Leugnern und ihren Kindern nicht mehr entgegentreten können. Wenn also die realen Personen nicht mehr bezeugen können, dann muss es eben die Kunst tun.
Und das tut sie mit Vadim Perelmans Persischstunden ganz hervorragend. Perelman, der 2003 einen großen Erfolg mit seinem Debütfilm Haus aus Sand und Nebel feierte, ist selbst Jude und stammt aus Kiew, wo Verwandte und Freunde seiner Großmutter bei dem Massaker von Babyn Jar 1941 ihr Leben verloren. Doch was er in Persischstunden erzählt, ist keine Geschichte expliziter Vernichtung, sondern eine des Erinnerns, eine des Lügens, eine, die auch an Hans Christian Andersens »Des Kaisers neue Kleider« erinnert.
Was dem Kaiser seine neuen Kleider sind (die nur er sieht und als real empfindet), ist in Perelmans Film die Sprache. Und es ist kein Kaiser, sondern Hauptsturmführer Koch (Lars Eidinger), der in einem Durchgangslager die Verpflegung der SS-Leute und der Gefangenen organisiert und dringend jemanden sucht, der Farsi, also Persisch, spricht, damit er irgendwann nach Persien auswandern kann, um in Teheran ein Restaurant zu eröffnen. Koch wird schließlich fündig, denn die Soldaten eines Erschießungskommandos ziehen den französischen Juden Gilles (Nahuel Pérez Biscayart) vor ihren Gewehren weg, als sie bemerken, dass er ein Persischbuch besitzt und sich als Perser ausgibt. Koch handelt mit Gilles einen Deal aus: Sprachstunden gegen Überleben, was Gilles ohne nachzudenken annimmt und von nun an – ohne jegliche Persischkenntnisse – Koch eine aus dem Stand erfundene Sprache lehrt.
Der Plot, der auf der Erzählung »Erfindung einer Sprache« des Regisseurs, Drehbuchautors und Schriftstellers Wolfgang Kohlhaase basiert, bietet eine Gratwanderung zwischen Humor und Grauen an, die Perelman über ein intensives Kammerspiel dann auch einlöst. Das erinnert in seinen besten Szenen immer wieder an Roberto Benignis Das Leben ist schön – und ist ihm auch in der Inszenierung und traditionellen Exegese des Holocaust verwandt, geht also nicht den Weg einer radikal subjektiven Opferperspektive, so wie es László Nemes in Son of Saul 2015 versucht hat.
Stattdessen bietet Perelman detaillierte und immer wieder auch groteske Einblicke in den Organisationsalltag des Lagers. Seien es die mit Klatsch und Tratsch angefüllten »Office«-Stunden, oder die abstrusen Hierarchien innerhalb des Lagers, die ebenfalls an einen Büroalltag im modernen Kapitalismus erinnern, wären da nicht die Toten vor der Tür. Gerade diese Momente der NS-Binnenperspektive erinnern auch an die erzählerischen Mosaike von Jonathans Littells Tatsachenroman »Die Wohlgesinnten«, an Dr. jur. Maximilian Aue, Dr. Thomas Hauser oder Dr. Mandelbrod, nimmt doch auch Perleman fast schon kongenial Bezug auf den letzten Teil der »Orestie«, »Die Eumeniden« (deutsch: Die Wohlgesinnten), in dem Aischylos die Rachegöttinnen aus der griechischen Mythologie auf wohlmeinende Weise umgarnt, um ihren Zorn zu beschwichtigen.
In diesen kammerspielartigen Sequenzen, in denen Gilles Hauptsturmführer Koch mit einer Sprache umgarnt und einlullt, die es nicht gibt, brillieren sowohl Eidinger als auch Biscayart in einer Intensität, die das Grauen immer wieder vergessen lässt, die pures, großes »Schauspiel« ist, nur um im nächsten Moment untergründig und blitzartig zugleich den Horror wieder anzudeuten. Dass sich Perelman dabei immer wieder Zeit für Details lässt, kleine Nebenhandlungen in den Plot
integriert und die Spannung fast verebben lässt, um sie dann wieder überraschend zu forcieren, ist ihm hoch anzurechnen. Denn nur so wird deutlich, wie präsent »Alltag« selbst im Grauen sein kann, und wie trügerisch Alltag letztendlich ist.
Gleichzeitig entwirft Perelman über Gilles aber auch ein lebendes Symbol der Erinnerungskultur, die nicht nur die Bedeutung der fast ausgestorbenen Zeitzeugen manifestiert, sondern über diesen Film zeigt, dass Fiktion auch im Kontext des
»Holocaust« ein probates Mittel ist, nicht nur um die Realität zu erinnern, sondern sie erst recht auch zu manifestieren.