Österreich/Deutschland 2009 · 99 min. · FSK: ab 0 Regie: Werner Boote Drehbuch: Werner Boote Kamera: Thomas Kirschner Schnitt: Ilana Goldschmidt, Cordula Werner, Tom Pohanka |
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Balanceakt Plastik |
Wir leben im Plastikzeitalter. Ohne Plastik ist unser tägliches Leben undenkbar geworden. Plastik umgibt uns – überall. Auf der Erde gibt es wohl keinen Flecken mehr, an dem man kein Plastik findet. Mit dieser Aussage und einem Hubschrauberflug über eine vermeidlich unberührte Natur beginnt Plastic Planet von Michael Boote.
Es ist nach Addicted To Plastic des kanadischen Regisseurs Ian Connacher, der 2009 auf dem Münchner Dok.Fest gezeigt wurde, binnen kurzem der zweite Film zum gleichen Thema. Die Kernaussagen der beiden Dokumentationen sind – bei etwas unterschiedlicher Gewichtung – identisch:
Plastik ist nicht gleich Plastik. Kunststoff besteht aus verschiedenen Grund- und Zusatzstoffen. Wie in einem Baukasten lassen sich diese kombinieren. »Ein Lego für
Erwachsene«, wie es ein Experte im Film in Plastic Planet ausdrückt. Maßgeschneidert können so die Eigenschaften des Kunststoffs an die unterschiedlichsten Anforderungen angepasst werden. Dies erlaubt viele tolle Einsatzmöglichkeiten. Aber die schöne, heile Kunststoffwelt hat auch Schattenseiten. Drei davon beleuchten die beiden Filme. Themen, von denen man in Zukunft wahrscheinlich noch mehr hören wird, nicht nur im Kino sondern auch in der
wissenschaftlichen und politischen Debatte:
Plastik verschwindet nicht, es zerbröselt allenfalls. Der Plastikabfall sammelt sich in der Natur. Auf den Ozeanen schwimmen schon riesige Teppiche aus feinstem Plastikmüll. Tiere schlucken das Plastik, können es aber nicht verdauen und verenden qualvoll – bei vollem Magen verhungert.? Plastik lässt sich nur schwer recyclen. Weil niemand die genaue Zusammensetzung kennt, können auch hochwertigste Plastikabfälle nur für
minderwertige, anspruchslose Produkte wiederverwendet werden.
Und Plastik enthält Weichmacher. Sie sind für die Verarbeitung notwendig und geben dem Plastik seine tollen Eigenschaften. Aber mit der Zeit entweichen sie aus dem Kunststoff in die Umwelt. So gelangen sie in die Nahrungsmittel, die wir in Plastik lagern. Schon geringe Mengen dieser Weichmacher haben in Tierversuchen große Störungen des Hormonsystems ausgelöst. Die Auswirkungen auf den Menschen sind nur
unzureichend erforscht. Die Industrie hat an solcher Forschung kein Interesse und sträubt sich gegen schärfere Grenzwerte.
Auch in der Wahl der filmischen Mittel ähneln sich die Filme. Beide Filmemacher beginnen ganz subjektiv mit ihrer persönlichen Beziehung zum Plastik und nehmen den Zuschauer dann mit auf eine Reise in die Welt des Kunststoffs. Sie jetten um die Erde, besuchen Orte an denen Kunststoff verarbeitet wird oder die Umweltverschmutzung durch Kunststoff besonders hoch ist. Dort lassen sie sich von Experten Kunststoff und die damit verbundenen Probleme erklären. Teilweise befragen sie sogar den gleichen Fachmann.
In beiden Filmen gibt es Szenen, die unsere Abhängigkeit eindrucksvoll illustrieren. Alle Kunststoffteile werden dabei aus einem Haushalt entfernt und vor die Türe gestellt. Plastic Planet demonstriert dies gleich vierfach in verschiedenen Erdteilen. Immer kommt ein riesiger Berg Plastik vor der Haustüre zusammen – selbst in einem indischen Slum, dessen Bewohner vorher noch stolz waren, dass sie möglichst wenig Plastik verwenden. Jedesmal sagt ein
Bewohner vor diesem Kunststoffberg dann brav den Satz auf »Ich hätte nie gedacht, dass wir soviel Plastik haben«. Die Gegenprobe sieht man in Addicted To Plastic. Dort ist die Wohnung ohne Kunststoff erschreckend leer.?
Der dank Fernsehgeldern höhere Produktionsetat von Plastic Planet zeigt sich vor allem in eleganteren Bildern, etwa dem Hubschrauberflug zu Beginn, oder einer sehr schönen und eindringlichen Szene auf dem
Dachstein in den österreichischen Hochalpen. Dort befragt Boote einen Umweltexperten vor grandioser Bergkullisse zur Schadstoffbelastung des Planeten. Der Zuschauer ist einen Moment unschlüssig, ob nun unsere Erde oder der aufblasbare Globus aus chinesischer Spielzeugproduktion gemeint ist.
Mit ihrer Ich-bezogenen-Herangehensweise folgen die Filmemacher einer aktuellen Modeströmung im Dokumentarfilm. Verstanden sich Dokumentarfilme früher häufig noch als »Lehrfilme«, die ihren Zuschauern in sachlichen Kommentaren die Welt erklären und harte Fakten vermitteln wollten, wurde seit den 60er Jahren das cinéma vérité populär. Der Filmemacher nimmt sich völlig zurück, ist stummer Beobachter und lässt allein seine Bilder, den Originalton und die Montage sprechen. Herausragende Vertreter dieser Schule sind z.B. Kim Longinotto mit Divorce Iranian Style und Gaea Girls oder D.A. Pennebaker und Chris Hegedus mitThe War Room.
Mit Michael Moores Roger & Me von 1989 und erst recht seinem großen Triumph Bowling for Columbine wurde eine ganz andere Tendenz im Dokumentarfilm populär: Der Filmemacher als Hauptperson, der aus einer persönlichen Neugierde und Betroffenheit heraus agiert und als »kleiner Mann« gegen »die Industrie« als großem Gegner ankämpft. Ebenso wichtig wie die Information ist dabei das Aufrütteln und die Unterhaltung des Zuschauers. In diese Kategorie fällt auch Plastic Planet.
Der Einstieg ist Werner Boote besonders gut gelungen. Er erzählt von seinem Großvater, der Geschäftsführer bei einem deutschen Kunststoffhersteller war. Super-8-Szenen von Anfang der 70er Jahre, als die Welt noch in Ordnung und »Umweltverschmutzung« ein Fremdwort war, zeigen den kleinen Werner wie er unbekümmert spielt – natürlich mit Plastik, geschenkt vom Großvater. Das weckt Kindheitserinnerungen, auch bei mir (obwohl mein Großvater Kinderarzt war.) Boote erzählt wie er den Geruch von Plastik – genauer: der ausströmenden Weichmacher – geliebt hat und ihn seither untrennbar mit Glückseeligkeit verbindet.
Ein starkes Bild verdeutlicht dann die Verbreitung von Plastikmüll. Es beginnt mit einer Szene aus Lawrence von Arabien. Schnitt. 40 Jahre später. Die gleiche Wüste. Ein Kameraschwenk. Statt Sanddünen sieht man nur noch Felder voller zerfetzter Plastiktüten. Ein marokkanischer Stuntman reitet ins Bild und erzählt, dass man heutzutage vor jedem Dreh erst einige Tage lang die Wüste aufräumen und von den unzähligen herangewehten Plastiktüten befreien muss.
Dann verzettelt sich Boote etwas. Er wärmt einen alten Skandal aus Italien auf. Dort sind viele Arbeiter einer chemischen Fabrik gestorben. Offensichtlich waren sie hohen Konzentrationen von Schadstoffen ausgesetzt. Die Konzernleitung wollte den Fall vertuschen und versuchte Mitarbeiter, die warnten, mundtot zu machen. Ein schlimmer Fall. Nur was hat er mit dem eigentlichen Thema des Films – dem Plastik das uns umgibt – zu tun? Er soll wohl die Gefährlichkeit des Kunststoffs suggerieren. Aber wenn einem Tischler die Finger abgesägt werden, sagt dies doch auch nichts über die Gefährlichkeit des produzierten Tisches aus.
Schließlich steigert sich Boote in die Idee hinein, dass man bei der Kunststoffproduktion viel zu verbergen habe und ihn deshalb die entscheidenden Schritte nicht filmen ließe. Dabei führt man ihn über das Gelände einer großen chemischen Fabrik. Die Kamera zeigt viele Kolonnen, ein Labyrinth von Stahlrohren und Ventilen. Ein Ingenieur erklärt ihm, dass dort Ethylen (ein gasförmiger Ausgangsstoff für die Kunststoffproduktion) hergestellt wird, das dann durch diese Rohr – Schwenk auf ein anderes, ebenso großes Gewirr von Stahlrohren – in einen anderen Werksteil geleitet werde, wo daraus Kunststoffgranulat produziert werde. Die eigentliche gro-industrielle Entstehung des Kunststoffes sieht man dabei natürlich nicht. Die findet in einem geschlossenen Kessel statt. Aber was hat Boote erwartet? Dass man ihn mit der Kamera im laufenden Betrieb in die Rohre kriechen lässt?
Wenn man die Entstehung von Kunststoff wirklich filmen will, muss man zu einem Schulexperiment greifen. In einem Glasbecher werden zwei Flüssigkeiten geschüttet. An der Grenzfläche reagieren sie mit einander und verbinden sich zu einem Kunststoff, den man als langen Faden herausziehen kann. Später führt das einer der interviewten Experten vor. Doch das ist so unspektakulär, dass es weitgehend unkommentiert bleibt. Um im Film wirklich zu erklären, wie aus den Ausgangsstoffen ein Kunststoff entsteht, muss man ohnehin zu einer Animation greifen und zeigen, wie sich die einzelnen Moleküle zu langen Ketten verbinden. Das macht Connacher in Addicted To Plastic. Boote verzichtet darauf. Er reitet lieber darauf rum, dass die Hersteller die genaue Rezeptur ihrer Kunststoffartikel nicht veröffentlichen. So wisse niemand, welche Stoffe dort drin sind. Schon mal etwas von chemischen Analysen gehört?
In der Mitte des Filmes kommen dann die kritischen Experten zu Wort. Sie haben teilweise wirklich Bedrohliches zu berichten, etwa von der Zunahme intersexueller Fische in England oder amerikanischen Labormäusen, die erkrankten, weil ihre Kunststoffkäfige einmal mit dem falschen Reinigungsmittel ausgewaschen wurden und seitdem Schadstoffe absondern. Hier hält sich Boote angenehm zurück. Die vorgetragenen Beispiele, Erkenntnisse und offenen Fragen sprechen für sich und bleiben neben den starken Bildern zu Beginn am positivsten in der Erinnerung.
Gegen Ende häufen sich dann die (Möchtegern-) »Moorerismen«, etwa wenn Boote mit einem kleinen Megaphon im Eingang eines japanischen Elektronikmarktes steht und den herein strömenden Kunden – auf Deutsch! – entgegen brüllt, sie sollen kein Plastik kaufen, oder auf Verpackungen im Supermarkt Warnhinweise »Plastic Kills!« klebt. Das bringt dem Zuschauer leider keinen Informationsgewinn. Michael Moore setzt solche Stilmittel gerne ein, um das vorher Gezeigte auf den Punkt zu bringen und in eine Szene zu verdichten, die dem Zuschauer dann im Gedächtnis hängen bleibt. Boote gelingt das nicht. Dafür sind seine Einfälle nicht prägnant und unterhaltsam genug. Vielleicht hängt für den wirkungsvollen Einsatz Stilmittel die Messlatte durch amerikanische Beispiele von Moore oder The Yes Men inzwischen auch zu hoch.
Völlig peinlich wird es, wenn Boote mit einem Koffer voller Studien, die die Gesundheitsgefahren durch Weichmacher belegen sollen, über die Kunststoffmesse stakst und ein Interview mit einem hohen Industrievertreter einfordert, aber abgewiesen wird. Da werden dann die Unterschiede zum amerikanischen Vorbild überdeutlich. Michael Moore ist ein begnadeter Satiriker. Er hätte auch in dieser Situation seinen Kontrahenten demaskieren und so für die Zuschauer einen Erkenntnisgewinn erzielen können (Und wenn nicht, wäre die Szene dem Schneidetisch zum Opfer gefallen). Nichts davon bei Boote. Hier wird es einfach nur langweilig und ärgerlich.
Der Zwang, unbedingt »unterhalten« zu wollen, korrespondiert mit panischer Angst den Zuschauer mit Fakten oder sachlichen Informationen zu »behelligen«. So wird in den Animationssequenzen nicht erklärt, wie Kunststoff wirklich entsteht oder wie er funktioniert, dafür sind die Weichmacher als giftgrüne Kugeln mit fiesen, hämische grinsenden Gesichtern zu sehen. Was will der Zuschauer auch über Molekülen, die so böse reinschauen, noch wissen?
Ihren Höhepunkt erreicht die Phobie vor harten Fakten zum Schluss, wenn Boote sich groß brüstet, er habe die erste wissenschaftliche Studie in Auftrag gegeben, die untersucht, ob Weichmacher im Blut der Menschen Unfruchtbarkeit verursachen. Vom Ergebnis der Studie erfährt man dann – nichts! Es wird ein Pärchen mit unerfülltem Kinderwunsch gezeigt, dem der Arzt erklärt, dass im Blut hohe Konzentrationen eines Weichmachers gefunden wurden. Das war’s. Keine einzige Aussage darüber, ob die Studie eine derartige Korrelation gefunden und bestätigt hat oder ob es sich da um einen einmaligen Ausreißer in der Statistik handelt. Schade.
Nach den erhellenden Expertenmeinungen in der Mitte des Films hätte man gerne mehr erfahren.
Denn das Thema ist brisant und wird – hoffentlich – weiter in der Diskussion bleiben. Da hätte man schon gerne mehr Fakten als Grundlage für die eigene, sachliche Auseinandersetzung mit dem Problem gehabt. So hat man den Eindruck, dass die Weichmacher nicht nur im Plastik sondern auch im Dokumentarfilm lauern.