F/D/CH/J 1999 · 134 min. Regie: Léos Carax Drehbuch: Léos Carax, Jean-Paul Fargeau, Lauren Sedofsky Kamera: Eric Gautier Darsteller: Guillaume Depardieu, Yekaterina Golubyova, Catherine Deneuve, Till Lindemann u.a. |
»(...) when at last the idea obtruded, that the wiser and the profounder he should grow, the more and more he lessened the chances for bread«.
Herman Melville: Pierre or The Ambiguities
»We take up novels to be amused – not bewildered, – in search of pleasure for the mind – not in pursuit of cloudy metaphysics; and it is no refreshment after the daily toils and troubles of life, for a reader to be soused into a torrent rhapsody uttered in defiance of taste and sense.«
Athenaeum, Besprechung von Pierre, 1852
Ja, dieser Film ist eine Zumutung. Aber das ist noch lange kein Grund, ihn nicht zu schätzen.
Pola X handelt gewiss nicht umsonst von einem jungen, genialischen Künstler, der auf der Suche ist nach dem großen Tabubruch, der ihn endgültig herausschleudern wird aus den Grenzen der gemeinen Gesellschaft – und was Léos Carax schon jetzt offenbar gelungen ist mit diesem Film ist, sich gründlich herauszuschussern aus dem Kreis der Günstlinge von Kritik und
Publikum (in den ihn Filme wie Les amants du Pont-Neuf so schön gebracht hatten), sich ordentlich ins Abseits zu stellen.
Pola, das ist das Akronym von »Pierre ou Les ambiguités«, dem französischen Titel von Herman Melvilles Roman Pierre or The Ambiguitie. X, das meint mettre sous rasure, durchstreichen, aus-x-en, aber so, dass darunter der alte Text lesbar bleibt.
Es ist ein akkurates Bild dafür, was Léos Carax mit der Buchvorlage macht. Der Plot von Pierre ist bis in viele Einzelheiten noch klar erkennbar – die Geschichte des jungen
Mannes, der sich von seiner unschuldsweißen Familie abkehrt und, ge- und verführt von seiner dunklen Halbschwester, in einer radikalen Künstlerkommune der Welt mit einem großen Roman die Maske herunterreissen will.
Aber nicht nur ist all das vom Amerika des 19. Jahrhunderts verlegt in’s heutige Frankreich, sondern (auch das mag X bedeuten) wie über Kreuz stehen Melville und Carax zum Geschehen. Je distanzierter, ironischer der Romanautor im Verlauf des Buches wird, je mehr
zu Hause scheint sich der Filmemacher zu fühlen. Wo Melville (spätestens seit Moby-Dick ohnehin eher kritischer Kommentator als schwärmender Mitbastler des Projekts der – insbesondere amerikanischen – Romantik) anzweifelt, demontiert, parodiert, da greift Carax anscheinend ungebrochen hinein in den vollen Sahnetopf romantischer Künstlermythen.
Wenn er seinen Pierre schwarzgewandet und hungernd, brabbelnd und mit Irrsinn im Blick die
Manuskriptseiten füllen lässt, dann gibt es keinen Erzähler, der darüber Witze reisst. Dann hat man das Gefühl, dass Carax durchaus sein Selbstverständnis des Künstlers zum Besten gibt. Der Inzest (bei Melville nur angedeutet) rückt bei Pola X als Hardcore-Szene ausführlich und gänzlich unzweideutig (obgleich schwach ausgeleuchtet) ins Bild. Und will als Tabubruch (oder zumindest als Metapher für den totalen Tabubruch) ernst genommen werden.
Ich kann nicht behaupten, dass mir Pola X bei dem ersten und bisher einzigen Mal, wo ich ihn gesehen habe, wirklich gefallen hat. Er hat mich während seiner nicht unerheblichen Laufzeit stellenweise sogar arg genervt und geärgert. Aber er hat mich anschließend auch nicht so schnell losgelassen, ist immer noch erstaunlich präsent in meinem Kopf. Und insgesamt empfinde ich die Zumutung, das Ärgernis von POLA X aus meiner jetzigen Warte als durchaus
produktiv.
Es ist ein Film, der beschäftigt; ein Film, mit dem man sich beschäftigen kann.
Dass die Postmoderne (in der wir uns, je nach Auffassung, entweder immer noch befinden oder aber an deren Folgen wir laborieren) der Romantik aufs Innigste verwandt ist, ist keine neue Erkenntnis (und kaum ein Roman beweist sie so schön wie Melvilles Moby-Dick) – und allein deshalb kann einem Pola X heute etwas angehen, ist es von Belang zu sehen, was
passiert, wenn sich jemand auf komplexe Weise einem der Romantik so verpflichteten Text wie Pierre in aktualisierter Form annimmt.
Und wie virulent momentan vielerorts die Sehnsucht ist nach dem Ausbruch aus dem »System«, wie stark die Suche nach Positionen des Aussen, des Widerstands, das zeigt (um nur zwei beliebige Beispiele zu nennen) der Blick auf die Demos von Seattle ebenso wie Fight
Club. Vielleicht sind wir tatsächlich auf dem Weg, Pierre wieder ernster nehmen zu können und zu müssen, als es Melville noch konnte.
Persönlich ist mein größtes Problem mit Pola X der Hauptdarsteller Guillaume Depardieu, der auch aus der Familientradition seines berühmten Vaters Gérard auszubrechen scheint – indem er mich keinen Moment überzeugen konnte, nie die Ebene des offensichtlichen Spiels verließ.
Das zweitgrößte Problem war für mich die Optik des Films, die mir – überraschend bei Carax – seltsam glanzlos, banal, manchmal unbeholfen erschien.
Und wie
bereits angedeutet: Ich bin nicht der Einzige, der mit dem Film Probleme hatte. In einem ist der Regisseur seiner Vorlage absolut treu geblieben – in Sachen kritischem und finanziellem Erfolg ist Pola X (selbst im kulturbeflissenen Frankreich) nicht weniger ein Desaster, als es einst Melvilles Roman war.
Das allein aber sollte wohl beim vorschnellen Urteil schon vorsichtig stimmen, hat man die erhebliche Aufwertung vor Augen, die »Pierre« im Lauf der
Zeit erfahren hat.
Mag ja sein, dass Carax Film tatsächlich unrettbar mißlungen ist (vorausgesetzt, dass es soetwas überhaupt gibt – und dann auch nur, weil er zuviel gewagt hat, was, Scheitern hin oder her, erstmal löblicher ist als auf Nummer Sicher zu gehen). Oft aber macht das hektische Tagesgeschäft blind für Größe, erfasst die einmalige Lektüre nicht das Wesentlichste, fördert erst der distanziertere Rückblick die eigentliche Leistung eines (Film-)Texts zu Tage.
Mag
also auch sein, dass Pola X nur verkannt ist – ich möchte nicht drauf wetten, aber für gut möglich halte ich es. Das letzte Wort zu diesem Film ist jedenfalls gewiss noch nicht gesprochen.
Und auch das steht fest: Mit Pola X gibt Léos Carax schwer zu kauen – und nicht alles muss und sollte man wohl schlucken, was er da auftischt. Manchmal braucht’s halt aber auch mehr als löffelweise gefütterten Babybrei. Nicht immer sind wir da, wo wir uns am wohlsten fühlen, am besten aufgehoben. Es braucht manchmal gerade die Zumutungen, um weiterzukommen.