USA 2009 · 110 min. · FSK: ab 12 Regie: Lee Daniels Drehbuch: Geoffrey Fletcher Kamera: Andrew Dunn Darsteller: Gabourey Sidibe, Mo'Nique, Aunt Dot, Paula Patton, Mariah Carey u.a. |
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Idealtypischer Problemfilm |
Dies ist das, was man früher einen »Problemfilm« genannt hat: Man redet sich mit »cunt« oder »bitch« an, und auch sonst ist hier alles so wie sich gute Menschen das wahre Leben im Proletariat vorstellen. Precious, produziert von der edelschwarzen Talk-Meisterin Oprah Winfrey und auch sonst in jeder Hinsicht mehr im Radical-Chic-Moralisierungsmilieu der US-Eastcoast angesiedelt, als in einer differenzierten populären Kultur, ist ein Sozialdrama, das im Januar 2009 seine Premiere auf dem Festival von Sundance feierte, und seitdem vor allem in den USA einen Siegeszug erlebte, der im Februar mit dem Gewinn von zwei Oscars gekrönt wurde. Der Film, der jetzt ins deutsche Kino kommt, ist vor allem ein sozialkitschiges Drama, das man wunderbar auf Lehrveranstaltungen zur »Verhinderung von Teenagerschwangerschaften« oder Tagungen evangelischer Akademien zum Thema Rassismus oder »Bildungskonzepte fürs Prekariat mit Migrationshintergrund« vorführen kann. Aber unter den Schwarzen Amerikas wird der Film kritisiert.
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»Ich heiße Clarice Precious Jones. Ich hätte gern 'nen Freund mit heller Haut und richtig schönen Haaren. Und ich will aufs Cover von irgendso 'nem schicken Magazin. Aber zuerst will ich bei 'nem Video mitmachen, wie sie immer im Fernsehen laufen. Momma sagt, ich kann nicht tanzen. Und dann hat sie noch gesagt, meinen dicken Arsch will eh keiner tanzen sehen.
Jeden Tag sag ich mir: Irgendwas wird schon noch passieren. Vielleicht schaff' ich ja den Durchbruch. Ich will normal sein. Und
in der ersten Reihe sitzen. Irgendwann..«
Precious ist wie gesagt genau das, was man früher »Problemfilm« genannt hat. Er handelt von einem 16 Jahre alten Mädchen, das unglaublich fett ist, körperlich abstoßend, geistig beschränkt, eine Analphabetin, die noch immer wieder mal in die Hosen macht. Die Familienverhältnisse, in denen sie lebt, sind mit »asozial« noch freundlich umschrieben. Sie sind einfach eine Katastrophe: Die Mutter hält sie wie eine Sklavin, misshandelt sie mit Tritten und Schlägen mit der Bratpfanne, von ihrem Vater wie der Mutter wird sie vielfach vergewaltigt. Sie hat AIDS. Als sie von ihm zum zweiten Mal schwanger wird – wie gesagt: Mit 16! – fliegt sie von der Schule. Der Vater stirbt. Das Grauen, und die Tristesse, die diese Claireece erlebt, grenzen an eine Karikatur: »Du bist dumm geboren. Aus Dir wird doch sowieso nichts. Kein Schwein will Dich und kein Schwein braucht Dich. Du kriegst doch sowieso nichts auf die Reihe außer mit Deinem Alten zu ficken. Und dann kriegst Du auch noch zwei verdammte Kinder. Und die eine ist auch noch 'ne Missgeburt.«
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Precious ist aber auch ein Kultfilm. Denn er geizt nicht mit harten Reizen, mit grellen Effekten. Eine Geisterbahn des Elends, allerdings eine, deren grelle Bilder nicht übertünchen können, dass die Geschichte, die hier erzählt werden soll, letztendlich eine höchst erbauliche, sentimentale Moral hat: Durch Bildung, nämlich, indem sie lesen und schreiben lernt, erhält Precious die Möglichkeit, sich auszudrücken und auf diese Weise Distanz zu ihrem entsetzlichen Schicksal zu entwickeln. Nichts ist gegen solche Moral. Sie ist nur wahnsinnig politisch korrekt, und daher auch ziemlich langweilig.
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Vor allem ist Precious wie am Reißbrett entworfen. Underdog-Kino aus dem Labor, gemacht von der neuen schwarzen Oberklasse, die sich im Amerika schon vor Obama etabliert hat: Die schwarze Talkshow-Queen Oprah Winfrey – die schon vor Jahren öffentlich über eigene Missbrauchserfahrungen sprach – ist Produzentin des Films, die Schriftstellerin Sapphire, Autorin des Buches »Push«, das bereits 1996 erschien und die Vorlage des Films bietet, begann zwar
vor 25 Jahren als Sozialarbeiterin, ist aber längst renommierte Autorin des New Yorker, Regisseur Lee Daniels ist Produzent von Halle-Berrys Filmen, und in Nebenrollen sind in Precious unter anderem die schwarzen Musik-Weltstars Lennie Kravitz und Mariah Carey spielen mit.
Und Hauptdarstellerin Gabourey Sidibe – 168 Kilo, 26 Jahre alt – war inzwischen in jeder Talkshow der Staaten und auf fast jedem Glamour-Magazin auf dem Titelblatt.
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Die Leistung dieses Films, der bei der Oscarverleihung vor einigen Wochen gleich zwei Preise gewann, bleibt allerdings, dass er beim Zuschauer Interesse und vielleicht sogar Anteilnahme an einer Art Mensch vermittelt, um die man gewöhnlich einen großen Bogen macht. Mädchen wie Precious seien unsichtbar, sagt die Schriftstellerin Sapphire. Diese Anteilnahme gilt allerdings einer Kunstfigur. Die einstige Sozialarbeiterin Sapphire hat sie aus diversen Fällen zusammengesetzt,
die ihr während ihrer Arbeit im Harlem der 80er Jahre begegneten.
Zugleich bedient der Film damit alle mehr oder weniger bekannten Vorurteile und Klischees über das Leben der Schwarzen und ist damit latent rassistisch in seiner Darstellung von Schwarzen. Die Klischees werden hier nie durch Gegenbeispiele relativiert.
Aber möglicherweise ist es nicht so sehr die Welt des schwarzen Amerika, die hier ausgestellt wird, als die Welt des zurückgeblieben Amerika, jener Leute, die an Fast Food aufgedunsen, an Unbildung dumm geworden, sozial wie moralisch verwahrlost:
»Schule ist jetzt Scheißdreck. Schieb' Deinen Arsch gefälligst zur Fürsorge. Du hättest mal Dein verdammtes Maul halten sollen. Nur weil er Dir mehr Kinder gemacht hat, als mir, denkst Du, Du bist was Besonderes. Fick Dich und ihn
gleich mit!! Komm runter Du Stück Scheiße. Schleppst Du mir diese weiße Fotze ins Haus...«
So etwas kommt gerade bei gebildeten Wohlstandsbürgern gut an, sie können sich dann schön gruseln
und gleichzeitig als etwas Besseres vorkommen.
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Die Begeisterung für den Film wird daher auch keineswegs von allen Schwarzen geteilt. Der Kritiker Armond White sprach von einer »post hip-hop freak show« und verglich Precious mit dem rassistischen Bürgerkriegsklassiker Birth of a Nation von D.W. Griffith. Der Film sei reines Exploitation-Kino. Die Washington Post schrieb, der Film habe »so viel sozialkritischen Wert wie ein Pornofilm«. Und die ehrwürdige New York
Times warf dem Film eine »stereotype Vorstellung von den Afrikanern als primitiven und naiven, wenn auch mit erstaunlichem Talent für Tanz und Gesang begnadeten Menschen« vor.
Die positivsten Figuren im Film sind denn auch die Schwarzen mit der hellsten Haut, und die Stars mit dem größten Starfaktor: die spröde Sozialarbeiterin Miss Weiss (grandios gespielt von Mariah Carey), der Krankenpfleger John McFadden (Lenny Kravitz) und die Lehrerin (Paula Patton) – das
schmeichelt nicht nur dem weißen Publikum.
Das alles heißt nicht, dass der Film die Oscars und das Lob gar nicht verdient hätte. Es heißt nur, dass man die Begeisterung etwas relativieren sollte. Und es heißt allerdings auch, dass man die kulturellen Klischees des Films genausowenig übersehen sollte, wie die Tatsache, dass hier mit dem Holzhammer inszeniert wird.
Es ist die alte Frage, ob das Glas halbleer oder halbvoll ist. Precious ist einerseits ein Film, der Realität zeigt und den Finger in Wunden legt, andererseits ein Film, der alles Negative in die Schonverpackung eines Wohlfühlfilms verpackt, mit regelmäßigem »comic relief«. Damit ist Precious der idealtypische Problemfilm für unsere Zeit. Wer ihn aber mit kritischem Blick und ein wenig Distanz anschaut, kann in dem Film trotzdem vieles finden.
Vielleicht erzählt Precious allerdings weniger von der Lage der meisten Schwarzen in Amerika, sondern mehr über das Denken und die Haltung der neuen schwarzen Elite in Obamas Amerika.