Dänemark 2020 · 117 min. · FSK: ab 12 Regie: Thomas Vinterberg Drehbuch: Thomas Vinterberg, Tobias Lindholm Kamera: Sturla Brandth Grøvlen Darsteller: Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen, Lars Ranthe, Magnus Millang, Maria Bonnevie u.a. |
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Alles bestens unter Kontrolle... | ||
(Foto: Weltkino) |
Vor rund 20 Jahren stellte der norwegische Philosoph und Psychologe Finn Skårderud die steile These auf, dass der Mensch mit einem Alkoholdefizit zur Welt kommt. Ein Pegel von 0,5 Promille sei eigentlich das Optimum. Diesen solle man nach Möglichkeit konstant halten. Das Ergebnis seien ein höheres Selbstbewusstsein sowie mehr Musikalität, Ausgeglichenheit und Mut.
Diese These stellt der Psychologielehrer Nikolaj (Magnus Milang) auf der Feier zu seinem vierzigsten Geburtstag seinen Freunden, dem Geschichtslehrer Martin (Mads Mikkelsen), dem Sportlehrer Tommy (Thomas Bo Larsen) und dem Musiklehrer Peter (Lars Ranthe) vor. Alle vier sind von ihrem Beruf mittlerweile ziemlich desillusioniert. Schon lange fehlt ihnen der alte Schwung. Wegen Martin wurde sogar schon eine Schulkonferenz einberufen, weil sich seine Schüler von ihm nicht gut auf die Abschlussprüfung vorbereitet fühlen.
Martin ist auch der Erste, der ausprobiert, wie sich Skårderuds These in der Praxis bewährt. In der Toilette der Schule holt er einen Flachmann heraus und geht anschließend deutlich beschwingt in den Unterricht. Dieser läuft daraufhin so gut wie schon lange nicht mehr. Kurzerhand beschließen die vier Freunde, ab sofort konstant einen Pegel von 0,5 Promille zu halten – allerdings ganz nach Hemingway nur unter der Woche und nur bis 20 Uhr. Und da es sich hierbei schließlich um ein ernsthaftes Experiment handelt, werden die aktuellen Pegelstände regelmäßig gemessen und deren Effekte fein säuberlich protokolliert. Ziel ist eine »optimale professionelle und soziale Leistungsfähigkeit«.
Der Rausch gewinnt sein Publikum durch die Darstellung einer etwas anderen Form der Selbstoptimierung: den kontrollierten Kontrollverlust. Es ist schon sehr lustig, wenn die vier Protagonisten in Der Rausch immer wieder in ihre Röhrchen blasen und anschließend auf einer schwarzen Leinwand die kleinen weißen Ziffern mit den emporschnellenden Alkoholpegeln erscheinen. Dabei nehmen die Werte im Verlauf der Handlung immer weiter zu. Denn in Phase 2 des Experiments werden individuelle Pegel und in Phase 3 gar der maximale Pegel als Zielvorgabe vereinbart.
Die Geschichte, die Thomas Vinterberg und sein Co-Autor Tobias Lindholm erzählen, mutet über weite Strecken wie eine einzige Lobpreisung auf die wohltuenden Wirkungen des Alkohols an. Plötzlich sprühen alle vier Freunde im Unterricht nur so vor neuem Elan und vor kreativen Ideen. Dabei thematisiert Martin gerne auch die scheinbar wichtige Rolle seines neuentdeckten Wundermittels. Churchill, Hemingway und andere prominente Figuren der Geschichte waren alle große Trinker. Nur Hitler war ein Abstinenzler. Ein Schelm, wer daraus irgendwelche weiterreichenden Schlüsse zieht...
Auch Martins schon lange eingeschlafene Ehe erwacht nun zu neuem Leben. Denn Martin ist seiner Frau Anika (Maria Bonnevie) auf einmal wieder zugewandt. Plötzlich ist er spontan und überrascht Anika mit neuen Ideen wie einem Kanuurlaub mit den beiden Söhnen. Dabei hält seine gehobene Stimmung und neue Leidenschaft auch während der abstinenten Zeiten an. Er scheint alles bestens unter Kontrolle zu haben.
Thomas Vinterberg wurde 1998 mit dem Dogma 95-Film Das Fest international bekannt und ein Hauch von Dogma-Geist weht auch durch Der Rausch. Zu diesem zählt die wilde Kameraarbeit von Sturla Brandth Grøvlen zu Beginn des Films, als der feuchtfröhliche traditionelle Bierkastenlauf einer Gruppe von Schülern um einen See gezeigt wird. Und dann spielt sich ein großer Teil der Handlung in schummrigen Innenräumen ohne künstliche Beleuchtung ab. In diesen heben sich die Protagonisten teilweise wie Scherenschnitte gegen das aus Fenstern ins Innere strömende Licht ab.
Im letzten Drittel von Der Rausch kippt jedoch die Stimmung und es werden auch die negativen Auswirkungen eines fortgesetzten Alkoholkonsums gezeigt. Schließlich wird es sogar richtig tragisch. Doch weit davon entfernt zu moralisieren, schlagen Vinterberg und Lindholm ganz zum Schluss noch einmal eine Volte und präsentieren die Freunde erneut in angeheiterter Stimmung. Martin wird sogar richtig ausgelassen und zeigt, weshalb er früher als ein so guter Tänzer galt. Seine vorgeführten Kunststücke gipfeln in einem stilechten Abgang in das Hafenbecken.
Somit gelingt Thomas Vinterberg ein wahrlich rauschhafter Film, auf den inzwischen ein fast ebenso rauschhafter Verkauf an Kinokarten und ein Preissegen aus Oscar, British Academy Film Award und Europäischem Filmpreis niederging. Der Rausch ist eine wahre Ode an das Leben. Das ist umso bemerkenswerter, als die Dreharbeiten von dem Unfalltod von Vinterbergs ältester Tochter Ida überschattet wurden, die ursprünglich eine der Schülerinnen spielen sollte.
Vier Männer sind die Hauptfiguren dieser Geschichte. Alle sind sie Lehrer an einem renommierten Kopenhagener Gymnasium. Sie sind Freunde, sie haben Familie, leben in verschiedenen Beziehungsphasen, und sie haben etwas gemeinsam: Sie erleben gerade eine leichte Midlife-Crisis. Voller Idealismus haben sie einst ihren Lehrerberuf begonnen, doch der Alltag, die Bürokratie, der ermüdende Umgang mit Schülern und Eltern haben ihren Elan jeden Tag ein klein bisschen mehr verpuffen
lassen.
Und jetzt sind sie – das wissen sie selber – keine guten Lehrer mehr, sondern abgestumpfte Langweiler. Wenn die Schüler desinteressiert vor ihnen sitzen, sind sie selber schuld. Was tun?
Nicht allein und nicht in Liebes-Affären, sondern gemeinsam, als Freunde und im Alkoholrausch finden die vier Erleichterung. Als sie sich bei einer Geburtstagsfeier weinerlich ihr Leid klagen und dann ordentlich betrinken, kommen sie auf eine Idee. Sie beginnen ein Experiment: Sie nehmen die These mancher Wissenschaftler wörtlich, nach der ein bisschen Alkohol dem Menschen gut tut, totale Nüchternheit dagegen der Gesundheit schadet. Es gibt diese Forscher wirklich!
Und so beschließen sie, von morgens vor der Arbeit und bis um 20 Uhr regelmäßig zu trinken, um einen gewissen Alkoholpegel zu halten. »Wie Hemingway«.
Tatsächlich wird ihr Unterricht davon beflügelt, trotzdem gerät alles auch zwischendurch aus dem Ruder. Druk so der Originaltitel, heißt auf Dänisch nicht etwa Der Rausch sondern direkter »Suff«.
Der Däne Thomas Vinterberg, Jahrgang 1969, der mit 26 Jahren 1995 zu einem der Begründer der dänischen »Dogma 95«-Bewegung wurde, und 1998, immer noch keine 30 Jahre alt, mit Das Fest die Goldene Palme in Cannes gewann, blickt auf eine bewegte Karriere zurück: Er hat in Hollywood gedreht (It’s All About Love mit Joaquin Phoenix und Sean Penn), arbeitet seit gut 10 Jahren wieder in Dänemark, hat diverse Preise gewonnen, und versucht doch immer wieder etwas Neues. Mit Die Jagd erzählte er 2012 von einem Kinderbetreuer, der zu Unrecht des Missbrauchs beschuldigt wird – und wurde prompt selbst angegriffen, er würde die falsche Seite verteidigen.
In seinem neuen Film erzählt er in überraschender Weise in Form einer bittersüßen, erwachsenen Komödie von vier Freunden, die durch gemeinsamen Alkoholkonsum ihre Midlife-Crisis kurieren – und spottet ausgerechnet in Corona-Zeiten gegen die Wächter der Volksgesundheit und all jene, die im Rausch nur durch und durch Negatives entdecken können.
Was in den ersten Minuten so beginnt, dass das Publikum ein moraltriefendes Alkoholikerdrama erwarten könnte, verwandelt sich schnell in eine beschwingte Komödie über Exzess und Freiheit.
Geschickt und einfallsreich spielt Vinterberg mit den Gewissheiten unserer Selbstoptimierungsgesellschaft, auch mit einem – inneren oder sozialen – Moralregime, das verlangt, »perfekt« zu sein, »gesund« zu leben, den Körper zu stählen, zu trainieren, möglichst immer weiter zu verbessern, aber mindestens so zu erhalten, wie er ist. Für wen eigentlich? Für sich selbst oder vielleicht eher für diejenigen, die ihn ausbeuten wollen?
Vinterberg stellt große
Fragen: Warum lebt man überhaupt? Was will man vom Leben? Wo liegt sein Sinn? Vinterbergs Antwort lautet am ehesten: Freundschaft und Geselligkeit sind das Wichtigste. Sein Film widerspricht der allgegenwärtigen Überzeugung, dass Sucht immer böse und Leistung immer wichtig ist: Alkohol kann auch gut tun. Und wozu sollte man eigentlich perfekt sein? Wozu in tugendhafter Reinheit leben?
Vinterberg hält diesen Anti-Moralismus erstaunlich gut durch. Sein Film polemisiert vor allem gegen all jene, die immer genau wissen, was gut und richtig ist. Und gegen alle Spaßverderber, die mit medizinischen Gründen und gesundheitlichen Argumenten Menschen das ausreden, was ihnen Vergnügen bereitet. Dafür lässt er eine seiner Figuren sogar den dänischen Philosophen Kierkegaard zitieren: »Akzeptiere dich selbst als fehlbar.«
Luftig und versoffen, fröhlich und melancholisch, gelegentlich wild und oft weise – so ist Der Rausch ein berauschender Film-Cocktail, ein Film über das Trinken, der sich nicht anmaßt, es besser zu wissen und vor dem Gebrauch von Alkohol zu warnen. Wenn man es genau nimmt, ist dies nicht wirklich ein Film über das Trinken. Sondern es geht um Freundschaft und um die Paradoxie unseres Lebens, dessen erste Jahrzehnte wir damit verbringen,
herauszufinden, wer wir sein wollen, und den Rest unseres Lebens damit, dieser Vision nicht gerecht zu werden.
Menschen, die Spaß haben wollen, werden nicht notwendig zu Alkoholikern. Und manche Abstinenzler sind gemeingefährlich: In einer Szene macht Mads Mikkelsen, der neu aufgeblühte Geschichtslehrer im Holzfällerhemd, mit seinen Schülern einen Test: Welchen von drei Kandidaten würden sie wählen? Einen untreuen Alkoholiker, der außerdem medikamentenabhängig war;
einen Mann, der schon zum Frühstück seinen ersten Drink nahm, dabei zwischen Cognac, Whiskey und Brandy schwankte und Sport verabscheute; oder einen Vegetarier, der höchstens am Abend ein einziges alkoholisches Getränk zu sich nahm und der nie seine Frau betrogen hat?
Als sie intuitiv zum dritten neigen, erklärt er ihnen: Ihr habt gerade Hitler gewählt, statt Roosevelt und Churchill.
Umgekehrt gibt es natürlich auch Spießigkeit und lächerliche Korrektheiten unter den Alkohol-»Kennern«: Etwa wenn die Kellner in einem Restaurant jeden Drink mit Fachbegriffen und Zusatzwissen kommentieren und darüber klugscheißen, was zum Beispiel der Weinexperte Robert Parker auf seiner Liste hat.
So heiter und fröhlich er ist, hat der Film auch traurige, bittersüße Momente. Doch sie haben nichts mit Rausch und Alkohol zu tun, sondern mit dem Tod und mit dem Verschwinden der Jugend, was gerade den vier Lehrern alljährlich vor Augen geführt wird, wenn sie einen neuen Jahrgang erfolgreich zum Abitur geführt haben.
Dies hat für den Regisseur auch eine sehr traurige, persönliche Komponente. Denn mitten im Dreh starb seine gerade 19-jährige Tochter Ida bei einem Autounfall. Mit diesem Wissen sieht man die ausgelassenen Abschlussfeiern dieses schönen Films und sein Plädoyer für Lebensfreude und das Auskosten der Gegenwart noch ein bisschen anders.
Am Schluss tanzt Hauptdarsteller Mads Mikkelsen beschwingt über die ganze Leinwand. Bei allen Klischees, die solchen Begriffen innewohnen – aber wenn es noch so etwas wie einen »Männerfilm« gibt, dann ist es dieser.