Deutschland 2005 · 92 min. · FSK: ab 12 Regie: Hans-Christian Schmid Drehbuch: Bernd Lange Kamera: Bogumil Godfrejow Darsteller: Sandra Hüller, Burghart Klaußner, Imogen Kogge, Friederike Adolph, Anna Blome u.a. |
Ein Mensch verlässt seine Welt und findet sich in der neuen nicht zurecht. Eine Tochter wird mit der Lieblosigkeit ihrer Mutter nicht fertig. Eine Tiefgläubige flüchtet sich in religiöse Visionen. Eine Kranke wird von ihrer Krankheit eingeholt; eine immer schon Labile endgültig verrückt. Es ist nur eine einzige Person, von der hier die Rede ist: Michaela, die Hauptfigur von Requiem, mit großer Intensität gespielt von der Basler Theaterschauspielerin Sandra Hüller in ihrer ersten Filmrolle. Wer sie hier sieht, der kann das Staunen wieder lernen. Hüller sorgt dafür, dass sich das Mädchen dem Zuschauer immer wieder entzieht, und genau deswegen wird man nicht fertig mit dieser Michaela, glaubt nicht, sie verstanden zu haben und tut sie nicht vorschnell ab.
Diese Michaela ist ein junges Mädchen, das in den frühen 70ern aus der schwäbischen Alp nach Tübingen kommt und ein Pädagogik-Studium beginnt. Ihre Eltern und sie selbst sind streng katholisch, Epileptikerin ist sie auch noch, und irgendwann im ersten Semester beginnen die Probleme: Sie hat Anfälle, arbeitet ununterbrochen, verhält sich zunehmend etwas wunderlich, und schließlich bekommt sie auch noch religiöse Visionen. Mal meint sie »ein Dämon« sei in sie gefahren, dann wieder identifiziert sie sich mit einer Heiligen; von Außen glaubt man eher, die verständnislose Mutter sei schuld oder ihre eigene Bigotterie, und vielleicht gehört sie einfach in eine Klinik. Immer weiter spitzt sich das Drama zu, bis irgendwann ein Teufelsaustreiber geholt wird Doch Requiem ist nie eine schwäbische Version des Exorzist – Hans-Christian Schmids Film, der vage auf einem realen, seinerzeit Furore machenden Exozismus-Fall in Unterfranken basiert, interessieren die feinen Nuancen, der Ernst, der in dieser obskuren, auf Ausstehende nur bizarr wirkenden Wendung liegt.
Man kann Requiem als Fallstudie eines religiösen Wahns verstehen, als Untersuchung darüber, wie aus Glauben Fanatismus wird, der sich hier, anders als etwa bei religiösen Gewalttätern, nach Innen kehrt. Zugleich ist es aber auch fast eine normale Erschütterung, deren Zeuge man wird: Ein junger Mensch versucht, sich von seiner Herkunft zu befreien und gegen sie zu finden. Es ist Schmids große – von der Berlinalejury leider übersehene – Inszenierungskunst, dem Betrachter eine Figur nahe zu bringen, gegen die er sich erst einmal mit allen Mitteln sträubt. Und zu zeigen, dass in dem, was man gern Verrücktheit nennt, auch ein persönlicher Befreiungskampf liegen kann, oder sein Scheitern. Wenn mit dem Exorzismus am Ende dann der Wahnsinn auf Michaelas Umgebung überspringt, ist das nur ein letztes Beispiel für das Unvermögen, sich auf sie einzulassen und mit ihr zu kommunizieren.
Schmid bleibt seinen Anfängen – in Nach Fünf im Urwald, 23, Crazy – als Regisseur des Erwachsenwerdens, der jugendlichen Gefühlslagen treu – und ist doch im Ton meilenweit davon entfernt. Ein anderer Ernst, ein Verlangen nach Genauigkeit, eine frische Neugier aufs Unbekannte durchziehen Requiem, seinen bisher besten Film. Atemberaubend spannend, dicht und sehr gegenwärtig – denn außer um den Stellenwert der Religion geht es auch um Freiheitsdrang und Selbstbehauptung des Einzelnen – ist dies eine mit sparsamen Mitteln gradlinig und konsequent erzählte Geschichte, die einen nicht loslässt. An Lars von Triers Breaking the Waves darf man dabei natürlich auch noch denken, den späten Kieslowski, an Bressons Tagebuch eines Landpfarrers – mit anderen Worten: Requiem ist ein erstaunlich guter Film.