Rey

Chile/F 2017 · 90 min.
Regie: Niles Atallah
Drehbuch:
Kamera: Benjamín Echazarreta
Darsteller: Rodrigo Lisboa, Claudio Riveros u.a.
Materieller Historienfilm

Magischer Materialismus aus Patagonien

Ein Reiter, dessen dunkler Vollbart wie der eines bibli­schen Propheten anmutet, darüber die tief im Gesicht versun­kenen Augen, beschattet von der Krempe eines düsteren Hutes, melan­cho­lisch und enig­ma­tisch, so durch­quert er, in einem Mantel mit langen Schößen, nur von einem orts­kun­digen und der indigenen Sprache mächtigen Führer begleitet, die gebirgige Wildnis im Süden Chiles. Er trägt eine selbst entwor­fene Flagge mit sich, die er beim Durch­reiten des Flusses Bío-bío im Wind flattern lässt.

So sehen wir in Rey des chile­nisch-ameri­ka­ni­schen Regis­seurs und Künstlers Niles Atallah den Anwalt Antoine de Tounens aus der südwest­fran­zö­si­schen Provinz. Er begab sich 1858 in Chile auf die Suche nach jenem Gebiet, über das er in dem Epos »La Araucana« (1569-1597) von Alonso de Ercilla gelesen hatte. In diesem nach dem Muster der antiken Ilias verfassten Helden­ge­dicht werden die kolo­nialen Unter­wer­fungs­kriege gegen die indigenen Mapuche (von den Spaniern Arau­ka­nier genannt) im Süden von Chile und Argen­ti­nien geschil­dert. Die Kämpfe sollten bis weit ins 19. Jahr­hun­dert immer wieder neu aufflammen. Der Anwalt und Aben­teurer Antoine de Tounens rief dort am 17. November 1860 das König­reich von Arau­ka­nien aus, das er kurz darauf um das östliche Pata­go­nien erwei­terte, so dass er als König Orélie Antoine I. von Arau­ka­nien und Pata­go­nien herrschte. Er hatte sich im Einver­nehmen mit den Mapuche und deren Anführer Quilapan auf den Thron wählen lassen, um den Mapuche eine dauer­hafte und aner­kannte Autonomie gegenüber Chile und Argen­ti­nien zu verschaffen. 1862 wurde er jedoch von Chiles Armee verhaftet, wegen Landes­verrat angeklagt und schließ­lich verbannt.

Der gegen den fran­zö­si­schen Aben­teurer geführte Prozess dient Niles Atallah als Rahmen, um die phan­tas­ti­sche Geschichte von diesem König­reich zu erzählen. Wie unge­wöhn­lich der Historien- und Aben­teu­er­film Rey ist, zeigt sich bereits an den Gerichts­szenen, in denen die Figuren in einer künstlich verfrem­deten Puppen­theater-Kulisse mit grotesken Pappmaché-Masken auftreten. Nicht um realis­tisch beglau­bigte Authen­ti­zität geht es Atallah, sondern um die imaginäre Dimension dieses Stoffes, um die Phan­tasmen, die sich an ihm entzünden. Ausgehend von den Aussagen im Prozess, entfaltet sich in mehreren Stationen ein faszi­nie­render Weg in ein apoka­lyp­ti­sches Delirium. Was histo­risch verbürgt und nach­voll­ziehbar ist, vor allem der Ritt durch die Land­schaft, die Über­que­rung des Flusses, eine erste Begegnung mit den Indigenen, wird in ruhig erzäh­lenden Einstel­lungen quasi-natu­ra­lis­tisch darge­stellt, aller­dings in verschie­denen Varianten, einmal insze­niert nach de Tounens eigener Aussage im Prozess, dann nach der Aussage seines Führers Rosales, der ihn schließ­lich verraten sollte, indem er ihm krie­ge­ri­sche Absichten gegen Chile unter­stellt.

Andere Szenen wie die seiner Krönung zum König kommen in phan­tas­ti­schem Gewand daher, mythisch überhöht, oder er scheint in animis­ti­scher Trance, umgeben von tier­köp­figen Menschen, mit der Natur zu kommu­ni­zieren.
Die Reibung, die sich zwischen den verschie­denen erzäh­le­ri­schen Ebenen ergibt, wird oft konkret spürbar, wenn die Bilder sich auflösen, wenn die Imagi­na­tion nebulös wird, wenn sie ange­sichts des Unvor­stell­baren versagen muss und die Bilder zu rauschen beginnen.

Damit ist der Film nicht so sehr im Inhalt­li­chen ein Abenteuer, sondern mehr noch, was die formale Gestal­tung betrifft. Atallah beschwört hier eine aura­ti­sche Magie, wenn er auf Mittel des expe­ri­men­tellen Films und der Avant­garde zurück­greift, die das filmische Material selbst akti­vieren. Digital gedrehte Szenen filmte er extra auf 35mm und 16mm ab, um dieses analoge Material dann zu vergraben und es teilweise bis zu mehreren Wochen verrotten zu lassen. Die daraus gewon­nenen Film­bilder tragen künst­liche Spuren der Zerstö­rung und archi­va­li­scher Vernach­läs­si­gung und wirken arti­fi­ziell histo­risch. Darü­ber­hinaus verwen­dete Atallah unbe­kannte histo­ri­sche Archiv­bilder, Found Footage aus den Beständen des Amster­damer Film­mu­seums EYE. Den so zugrun­de­ge­legten Mate­ria­lien unter­schied­li­cher Prove­nienz ließ er weitere Verfahren will­kür­li­cher Verfrem­dung wie Zerkratzen und Bemalen von Hand ange­deihen, dazu Über-, Doppel­be­lich­tungen und sonstige denkbare Formen direkter Bear­bei­tung. Das Prozess­hafte histo­ri­scher Rekon­struk­tion und ihrer Vergeb­lich­keit, auch ihrer Anfäl­lig­keit für Fabu­lier­freude und wahnhafte Imagi­na­tion geht so unmit­telbar in die konkrete Darstel­lungs­ebene und in das Medium ein. Die Faszi­na­tion für Stoff und Material wird greif- und spürbar: das ist kein magischer Realismus, sondern magischer Mate­ria­lismus. Rey ist ein hypno­ti­scher Trip, ohne die eigent­lich erzählte Geschichte aus den Augen zu verlieren. Das Delirium seines Prot­ago­nisten lässt die Bilder in einen fiebrigen, eksta­ti­schen, exzes­siven, verrückten, irrwit­zigen und damit immer wieder auch komischen Film abdriften, der die Grenzen zwischen Dokument, Expe­ri­ment und Fiktion nach­haltig in Bewegung versetzt.

Der histo­ri­sche Antoine de Tounens sollte nach seiner Verban­nung aus Chile noch mehrmals versuchen, sein König­reich zu erreichen. Es war ihm nicht gelungen, außer in der Imagi­na­tion. Die von ihm begrün­dete Dynastie von Königen des imaginären Reichs Arau­ka­nien und Pata­go­nien wird übrigens bis heute von einer Verei­ni­gung fort­ge­führt, die sich das Andenken an Antoine de Tounens und den Einsatz für die Unab­hän­gig­keit der Mapuche zum Ziel gesetzt hat. Aktueller Inhaber des Titels ist Frédéric Luz, Frédéric I.

Das Königreich der Träume

Dies ist kein gewöhn­li­cher Film. Schon in den ersten Szenen tauchen ulkige Figuren mit Masken aus Pappmaché auf, um Männern im Cowboy-Look Platz zu machen: alles ist ganz und gar surreal. Genau so inter­pre­tiert der kali­for­ni­sche Regisseur Niles Atallah in »Rey« die reale Geschichte des fran­zö­si­schen Anwalts, der im 19. Jahr­hun­dert auszog, um König der Mapuche im Süden Chiles zu werden. Historie verknüpft sich mit Fiktion und verges­sene Schwarz-weiß-Aufzeich­nungen mit poly­chromer Film­ma­ni­pu­la­tion.

Dabei ist allein die Historie schon recht kompli­ziert: Orélie-Antoine de Tounens (Rodrigo Lisboa) macht sich auf in die neue Welt, einen großen Traum im Kopf. Er lässt sich von dem orts­kun­digen Rosales (Claudio Riveros) nach Arau­ka­nien führen, mitten ins Terri­to­rium der Indianer, die sich dem jungen chile­ni­schen Staat erfolg­reich wider­setzen. Hier will er die indigenen Gruppen unter einem Banner vereinen, mit seiner eigenen Person als Staats­ober­haupt. Der Film ist um die Gerichts­ver­hand­lung herum aufgebaut, in der er zu einer Haft­strafe verur­teilt wird. In Nacher­zäh­lung wird die Ankunft des Franzosen, die Gründung des neuen Staates sowie der Verrat durch seinen Diener aus Sicht des Klägers sowie des Ange­klagten geschil­dert. Im letzten Drittel löst sich die Handlung fast gänzlich auf, es wird immer skurriler und die Wirk­lich­keit, zuvor schon beein­träch­tigt, scheint ganz verloren. Wie im Kopf des hallu­zi­nie­renden Franzosen wird uns zumute, wir werden an der Hand genommen und in ein Reich der Absur­dität entführt.

Der Ausgangs­stoff eignet sich aufgrund seiner legen­den­haften Art hervor­ra­gend für eine surrea­lis­ti­sche, traum­ar­tige (und mitunter trau­ma­ti­sche) Nacher­zäh­lung, die keine genaue Über­lie­fe­rung sein will und diese inhalt­liche Unge­nau­ig­keit auch stilis­tisch heraus­ar­beitet. Wie die Erin­ne­rung des im Kerker schmach­tenden Franzosen verschwimmt und mit fiebriger Wahn­vor­stel­lung verschmilzt, so werden auch die Aufnahmen gegen Ende hin immer stärker verfälscht. Außerdem ist diese mani­pu­lierte Materie der Streifen eine Anspie­lung auf die je nach Auslegung verän­der­li­chen und teils verges­senen histo­ri­schen Daten, die eine genaue Verfil­mung ohnehin unmöglich gemacht hätten.

Dass man Niles Atallah nicht auf seine Fähig­keiten fürs Regie­führen beschränken darf, wird in »Rey« klar sichtbar. Er schreibt, foto­gra­fiert, macht Kunst­in­stal­la­tionen und expe­ri­men­tiert schon länger mit dem Vergraben und ander­wei­tiger Bear­bei­tung von Film­rollen, teilweise bis zur gänz­li­chen Unkennt­lich­keit des Ausgangs­ma­te­rials. Dass der Film durch und durch sein Werk ist, merkt man an der orgi­as­ti­schen Verwen­dung dieser Technik, sowie dem Einsatz zahl­rei­cher Papp­masken, ander­welt­li­cher Kostüme und psyche­de­li­scher Farb­effekte. In »Rey« benutzt er zwei Schmal­film-Formate, hoch­auf­lö­sende Digi­tal­auf­nahmen und zudem echte Archiv­auf­nahmen, die er teils mit eigenen Einstel­lungen über­blendet. Ein Großteil der Dreh­ar­beiten war bereits 2011 abge­schlossen, jedoch ließ Atallah die Film­spulen jahrelang in seinem eigenen Garten verbud­delt, um den Effekt von alters­be­dingter Verwit­te­rung zu erzeugen. Durch die Mischung aus unter­schied­li­chen Auflö­sungen, mal bear­beitet und mal nicht, vermi­schen sich Fakt und Fiktion, es entsteht eine eigene verwor­rene Realität, die aufgrund ihrer Absur­dität gleich­zeitig fesselt und abstößt.

Durch den Aufbau der Geschichte rund um den Gerichts­pro­zess setzt der Regisseur seinen Fokus klar auf den Umgang der chile­ni­schen Regierung mit dem Straf­täter und dessen Spirale in den Wahnsinn, und so fühlt sich der Film auch an – aus einem verrückten Abenteuer wird ein regel­rechter Horror­trip. Die Szenen im Gericht wirken durch die von oben herab beleuch­tete, dunkle Kammer, in der sie statt­finden, und die Masken, die die Figuren tragen, wie ein groteskes Theater. Dies spiegelt den Inhalt der Szenen gut wieder: Das Urteil der Verhand­lung stand von vorn­herein fest, alles war nur Schein, ein juris­ti­sches Schau­spiel eben. Und wer hat den längeren Para­gra­phen? Wie so oft ist es der Staat. Der fran­zö­si­sche Usurpator selbst kriti­siert im Film, dass keine seiner indigenen Unter­tanen bei der Verhand­lung anwesend waren, dass ihre Meinung in der Entschei­dung nicht berück­sich­tigt, nicht einmal wahr­ge­nommen wurde. Es ist heute nicht mehr klar zu sagen, zu welchen Teilen es die Intention des selbst­er­nannten Königs war, den Mapuche Autonomie zu schenken, oder doch selbst einmal auf dem Thron zu sitzen. Selbst wenn sein Reich jedoch anerkannt geworden wäre, so wäre es für die Mapuche aller­dings nur eine andere Form des Kolo­nia­lismus, nicht etwa die verspro­chene Freiheit gewesen. Am Ende waren alle Ambi­tionen des Möch­te­gern-Monarchen umsonst, niemand kennt heute mehr den Namen Orélie-Antoine de Tounens. Auch wenn heute auf dem Papier der Staat Arau­ka­nien immer noch Bestand hat (aber von keinem Staat anerkannt wird) und der aktuelle Herrscher den Titel Frédéric I. für sich bean­sprucht, hat dies keine Auswir­kungen für die Bewohner des Gebietes. Die Mapuche leben in Wirk­lich­keit in einengenden Reser­vaten, abge­schirmt und fern von gerechter Behand­lung, geschweige denn von einem eigenen Staat.

Der filmische Fieber­traum des Halb-Chilenen Niles Atallah ist visuell zum Teil durchaus anspre­chend, jedoch auch anspruchs­voll und schwierig anzusehen, da er Stilbruch nicht meidet, sondern zele­briert. Auch gibt es einen merkbaren Hänger, an dem die Story sich verflüch­tigt und die skurrilen Zwischen­se­quenzen kein Ende zu nehmen scheinen. Außerdem wirft er bei weitem mehr Fragen auf, als er beant­wortet. Was natürlich an sich keines­wegs schlecht ist. Und: Exis­tieren nicht alle König­reiche nur im Kopf?