Mexiko/USA 2018 · 135 min. · FSK: ab 12 Regie: Alfonso Cuarón Drehbuch: Alfonso Cuarón Kamera: Alfonso Cuarón Darsteller: Yalitza Aparicio, Marina de Tavira, Marco Graf, Daniela Demesa, Carlos Peralta u.a. |
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Großes Kino, das man im Kino sehen sollte |
Sylvester 1971. Schöne Apokalypse, irgendwo in Mexiko. Dies ist, mehr als alles andere, ein nostalgischer Abgesang auf einen Lebensstil. Auf die Zeit, als man nicht an Gesundheit und ewiges Leben dachte, sondern das begrenzte Leben intensiver genoss, abends selbstverständlich Drinks und Mezcal aus schweren Kristallgläsern zu sich nahm, Zigaretten in Kette rauchte, und auf schweren Möbeln aus Holz saß.
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Roma – nicht die italienische Hauptstadt ist mit dem Filmtitel gemeint, sondern so heißt auch ein Stadtteil in Mexico-City. In einem Film mit offenkundigen autobiographischen Elementen reist der mexikanische Regisseur Alfonso Cuarón zurück ins Mexiko der Jahre 1970/71 und erzählt von einer wohlhabenden Arzt-Familie mit vier Kindern. Die Hauptfigur aber ist das Dienstmädchen Cleo, die gute Seele des Hauses und vertraute Ersatzmutter der Kinder. Das wird sie umso mehr, als der Vater eines Tages von einer Dienstreise nicht mehr zurückkehrt, sondern mit der neuen Geliebten zusammenzieht.
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Regie: Alfonso Cuarón; Drehbuch: Alfonso Cuarón; Kamera: Alfonso Cuarón; Schnitt: Alfonso Cuarón; Produktion: Alfonso Cuarón – die Eröffnungscredits laufen über ein Bild von Steinplatten, über die Wasser läuft. Es ist die Garage der Familie, das Wasser soll sie reinigen, aber es kann gar nicht so viel Wasser geben, um all die Sünden wegzuspülen, mit denen wir hier konfrontiert sind.
Sehr gelassen rekonstruiert der Regisseur das ganz normale Leben. Im Kinderzimmer, es ist
Cuaróns eigenes, sehen wir Plakate von der WM »Mexico ‘70« und für »Make Love not war«. Fernsehen kommentiert die Szenen mitunter von außen. Genauso wie im Kino eine Kriegs-Film-Komödie mit Louis de Funes, Sieghart Rupp, Reinhard Koldehoff.
Der Film ist durchgehend Schwarzweiß; es gibt – wie wohltuend – keinerlei Filmmusik, nur interne Musik, also welche, die sich aus den Szenen selbst ergibt. Zum Beispiel hört Cleo gerne Schlager, singt sie mit, wenn sie aus dem Radio
kommen.
Die zwei Frauen, Cleo und die mit vier Kindern verlassene Mutter, nähern sich einander an, es sind gegenläufige Bewegungen zueinander hin. Eines Tages sagt die Mutter: »Wir sind allein, Cleo. Egal, was sie dir sagen, wir sind immer allein.«
Am Ende hat Cleo ihr Kind verloren und ist darüber weniger unglücklich, als es die Moral verlangt. Längst ist sie zur zweiten Mutter der Kinder ihrer Arbeitgeber geworden. Sie riskiert ihr Leben, um die Kinder der Familie zu retten. Hier
gehört sie hin, so wie die Mutter sie als Teil der Familie ansieht.
Mit einer fließenden, gut beobachtenden Kamera, großer Sensibilität und Humor. Roma ist nostalgisch und melancholisch, aber durchzogen von apokalyptischen Momenten, wie einem heftigen Waldbrand, einem Erdbeben in einer Geburtsklinik und vor allem der historisch belegten blutigen Niederschlagung einer Studentendemonstration durch analphabetische Arbeiter. Sie hatte man extra in die Stadt gekarrt und mit Knüppeln und Pistolen auf die Unbewaffneten losgelassen – über 120 Demonstranten wurden ermordet.
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Gewalt steht im Raum, wird aber selten explizit. Sie liegt in Gegenständen, wie dem Familienauto, einer protzigen US-Kutsche Ford Maverick. Als Running Gag fungiert die Hundescheiße im Eingang der Garage.
Bei dem Besuch bei Verwandten auf einer Hacienda sieht man zunächst viele ausgestopfte Hundeköpfe an der Wand hängen: Die Hunde des Hauses. Später sieht man Erwachsene und Kinder bei Schießübungen sinnlos im Wald herumballern.
So ist dies auch das Porträt einer Klasse und einer historischen Situation, mit Kindern als zentralen Charakteren – fernes Echo von Ang Lees Meisterwerk The Ice Storm. Alfonso Cuarón ist ein wunderschöner, mitreißender Film gelungen.
Man muss diesen Film im Kino sehen, weil er großes Kino ist. Man sollte ihn auch dort sehen, nicht auf dem Bildschirm, um den Ort der Filmkunst zu stärken.
In diesem Fall mehr denn je.
Denn die Gewalt, von der Cuarón erzählen will, die braucht heute keine prügelnden und schießenden Büttel mehr, sie hat das Internet. Und die Selbstversklavung der Menschen mittels digitaler Medien.
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Das muss man dazu sagen, denn mit der reinen Filmkritik ist noch nicht alles gesagt. Denn leider läuft Roma nicht in allen Kinos, sondern vor allem in einer bestimmten Kette und das für kurze Zeit. Die Münchner Verhältnisse mit dem schönen Theatiner und Isabella als Abspielorten sind eher die Ausnahme.
Nur eine Woche später ist er womöglich aus den Kinos verschwunden (so ganz klar war das bei Redaktionsschluss noch nicht), und läuft dann nur noch bei
Netflix – dem Bezahlstreamingdienst aus Amerika. Man muss ihn dann auf dem Handy sehen, dem Tablet, bestenfalls auf dem Beamer zuhause, jedenfalls auf einem Flachbildschirm, der qualitativ weit entfernt ist von Kinoqualität.
Eine absurde Vorstellung bei diesem Film, die nur Banausen einleuchten kann.
Eventprogrammierung heißt so etwas. Man könnte auch sagen: Öffentlich geförderte Kinos werden als Werbeplattform für Streamingdienste missbraucht, und zwar von jenen, die dem Kino das Wasser abgraben wollen.
Weil Roma ein hervorragender Film ist und im Sommer in Venedig den goldenen Löwen gewann, sollte man dies alles nicht an Cuaróns Film auslassen.
Aber die Überwältigungsstrategie von Netflix ist klar: Bildschirmglotzen kann Kino nicht ersetzen. Aber ein attraktives Programm entwöhnt das Publikum, vor allem die Jungen.
Darum sucht man sich hippe Kinoregisseure und ein paar Beispiele kunstvollen Autorenkinos, um seine eigentlichen Absichten geschickt zu kaschieren und den Widerwillen der Kinoliebhaber zu unterwandern.
Ist dies eine »zukunftsweisende Parallelauswertung«, wie manche unken? Wohl eher ein Trick und die große Ausnahme. Denn nach wie vor setzt Netflix vor allem auf eine problematische Streaming-Only-Politik.
Roma ist das trojanische Pferd der Kinofeinde. Erinnern wir uns: Es war nicht Kriegskunst, sondern eine List des Klügsten der griechische Helden, Odysseus, der in Homers Epos das unbeugsame Troja besiegte.
Allerdings können dieses Problem weder Kinobetreiber mit maulheldenhaften Boykottaufrufen und ihren Branchenabsprachen im stillen Kämmerlein beseitigen, noch wir Filmkritiker. Was Streaming-Diensten erlaubt ist und was man für den Erhalt der Kinos tun kann, muss der Gesetzgeber lösen.