USA 2019 · 100 min. · FSK: ab 6 Regie: Chris Sanders Drehbuch: Michael Green Kamera: Janusz Kaminski Darsteller: Harrison Ford, Dan Stevens, Omar Sy, Karen Gillan, Bradley Whitford u.a. |
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Gezähmte Wildheit bei Mensch und Tier | ||
(Foto: Disney) |
»There is an ecstasy that marks the summit of life, and beyond which life cannot rise. And such is the paradox of living, this ecstasy comes when one is most alive, and it comes as a complete forgetfulness that one is alive.«
This ecstasy, this forgetfulness of living, comes to the artist, caught up and out of himself in a sheet of flame; it comes to the soldier, war-mad in a stricken field and refusing quarter; and it came to Buck, leading the pack, sounding the old wolf-cry, straining after the food that was alive and that fled swiftly before him through the moonlight.
― Jack London, The Call of the Wild (1903)
Was für ein Leckerbissen, endlich mal wieder eine Jack London-Verfilmung serviert zu bekommen! Wem Jack London, immerhin durch Ruf der Wildnis, Der Seewolf, Wolfsblut, Martin Eden oder Lockruf des Goldes einer der erfolgreichsten Schriftsteller seiner Zeit, und spätestens durch den ZDF-Mehrteiler »Der Seewolf« auch aus den spießigsten deutschen Wohnzimmern nicht mehr wegzudenken – wem London also dennoch nicht mehr ganz präsent sein sollte: London war und ist ein wirklich toller, aufregender Autor. Nicht nur sein Leben , das schon frühzeitig mit 40 Jahren (1876-1916) tragisch endete und so ziemlich alles an Liebe, Beziehungskapriolen und Abenteuer abdeckte, was ansonsten wohl nicht einmal die Bewohner eines Münchner Mietshauses in ihren Leben erleben. Nein, auch die politisch-philosophischen Wandlungen, die London durchlaufen hat, sind eine Geschichte für sich. Mal Sozialdarwinist und Rassist, dann Marxist und Nietzsche-Bewunderer, Modernismus- und Kapitalismuskritiker, viel mehr geht auch auf dieser Ebene eigentlich nicht. Und dann ist da natürlich noch ein Werk, mit dem London, aus ärmsten Verhältnissen stammend, sehr wohlhabend geworden ist und das immer auch sein eigenes Leben reflektiert hat.
Das gilt auch für seinen ersten großen Erfolg, »Ruf der Wildnis«, der fast so wie Londons Leben an Verfilmungen schon so ziemlich alles mitgenommen hat, was möglich ist – vom Stummfilm 1923 über Clark Gable (1935) bis zu Charlton Heston (1972)
oder Rutger Hauer in der Hauptrolle .
Was umso verständlicher ist, als Londons Roman so ziemlich alles ist, was London erlebt hat und was ihn interessiert hat. Er erzählt über den Goldrausch am Klondike River Ende des 19. Jahrhunderts und folgt dabei einem Hund, dem eigentlichen Helden des Romans, auf dem beschwerlichen Weg seiner
»Wiedertierwerdung«. Gestohlen aus seinem bildungsbürgerlichen, zivilisierten Haushund-Haushalt, muss er sich plötzlich als Schlittenhund und Expeditionshund im hohen Norden Kanadas durchschlagen. Doch neben diesem Abenteueraspekt ist Londons »Call of the Wild« viel mehr, ist der Roman, wie der Schriftsteller E.L. Doctorow 1998 schrieb, auch eine Geschichte über unsere fragile Zivilisation und ihre latent immer wieder aufflammende Gewalt, ist ein marxistisches
Pamphlet, das gnadenlos die menschliche Motivation durch materielle Werte aufzeigt und ist auch eine literarische Umsetzung von Nietzsches »Übermensch«, der in Form eines Hundes mystische Qualitäten erlangt. Aber es ist auch die völlig überraschende Karikatur des klassischen Bildungsromans oder der heute so gern benannten Coming-of-Age-Geschichte, in der der junge Mensch bzw. das junge Tier eben nicht »zivilisiert« wird, sondern den umgekehrten Weg geht. Damit ist »Ruf der
Wildnis« natürlich auch heute wieder modern, wird doch hier der Weg zurück zur Natur regelrecht propagiert, mit all der Kritik an unserer Moderne, die man sich nur wünschen kann. Allerdings erzählt London auch davon, wie gnadenlos und blutig Natur sein kann, und dass den Kampf zwischen Natur und Zivilisation nur die Stärksten überleben.
Bis auf den Aspekt »Abenteuer« taucht allerdings nichts von dem eben geschriebenen Absatz in Chris Evans Disney-Neuverfilmung auf. Es gibt zwar einen herrlich gealterten Harrison Ford als John Thornton in der Hauptrolle und einen wunderbaren Omar Sy als Postschlitten-Führer. Und es gibt sogar Rudelkämpfe und ein paar böse Wesen, menschliche wie tierische. Aber es ist fast schon über-klassischer Disney. Alle Wildheit ist hier gezähmt, Natur von Weichzeichnern und CGI genauso zurechtgestutzt wie die Kämpfe zwischen Mensch und Mensch, Mensch und Tier und Tier und Tier. Es ist ein Film, in dem kein Blut fließt und selbst der Tod romantisch ist. Es ist ein Film unserer Zeit, die inzwischen ja nicht einmal mehr »schmutzigen« Sex auf der Leinwand verträgt und hier ihr Meisterstück abliefert. Bisweilen sieht sich Londons Roman so grotesk verzerrt, dass ich an die Softpornos der 1970er denken musste oder an David Hamiltons »Bilitis«.
Der Höhepunkt dieser »virtuellen« Domestizierung ist allerdings »Buck«, der eigentliche Held dieses Hundefilms und im Buch Jack Londons Alter Ego, der auf fast schon groteske und gleichermaßen beeindruckende und unheimliche (!) Weise computer-animiert zu einem völlig neuen Wesen unserer gegenwärtigen Naturvorstellung wird. Wild und doch zahm, Übermensch und doch auch Kuscheltier, sterblich und dann auch wieder Ausdruck und Sehnsucht einer immer wieder prognostizierten technologischen Singularität.
Das taugt als Familienfilm unserer Zeit durchaus, und dürfte auch die größte Hundeangst eines irgendwie traumatisierten Kindes lindern helfen. Und wer weiß, vielleicht hilft es ja sogar dem einen oder anderen, Jack London wiederzuentdecken, allerdings unter der nicht zu unterschätzenden Gefahr, dadurch nachhaltig traumatisiert zu werden.