D/F 2024 · 167 min. · FSK: ab 16 Regie: Mohammad Rasoulof Drehbuch: Mohammad Rasoulof Kamera: Pooyan Aghababaei Darsteller: Missagh Zareh, Soheila Golestani, Mahsa Rostami, Setareh Maleki, Niousha Akhshi u.a. |
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Generationenkonflikte | ||
(Foto: Alamode) |
»Femme, vie, liberté«, Frauen, Leben, Freiheit – das ist der Schlachtruf der kurdischen Frauen, die auf eine feministische Gesellschaftsordnung in einem Staat, der erst noch kommen muss, hoffen. Der Dreiklang der kurdischen Hoffnung wurde auch der Slogan der Aufstände im Iran, die 2022 auf den gewaltvollen Tod der dreiundzwanzigjährigen Jina Mahsa Amini folgten. Mohammad Rasoulof hat mit Die Saat des heiligen Feigenbaums den Ereignissen auf der Straße seinen neuen Film gewidmet, nimmt sie als realen Hintergrund für einen politischen Thriller, der eine ganze Familie erfasst. Das Fazit des Regisseurs, der seit Mai nach einer spektakulären Flucht aus dem Iran in Hamburg im Exil lebt (er wurde wegen seiner Filme zu acht Jahren Haft und Peitschenhieben verurteilt), ist ernüchternd: Die iranische Gesellschaft kennt keinen Ausweg aus dem Doublebind der Scharia. Blut ist hier niemals dicker als Wasser.
Bereits seit seinem letzten, in Berlin mit dem Goldenen Bären ausgezeichneten Film Doch das Böse gibt es nicht (in ihm ging es, stark verkürzt, um die iranischen Henker) hat Rasoulof Beziehungen nach Deutschland geknüpft. So stecken in Die Saat des heiligen Feigenbaums bereits Gelder der Hamburger Filmförderung MOIN drin, die Postproduktion erfolgte in Deutschland, nachdem das Filmmaterial aus dem Iran geschmuggelt werden konnte, wie es heißt. Und auch wenn der Film eine internationale Co-Produktion ist (arte hat ebenfalls produziert), was für Filme unter Zensurbedingungen der Regelfall geworden ist, wurde Die Saat des heiligen Feigenbaums nun als deutscher Oscarbeitrag für den besten fremdsprachigen Film nominiert.
Die Saat des heiligen Feigenbaums ist ein Thriller von einer Familie, in deren Mikrokosmos sich die Spaltung der iranischen Gesellschaft konkretisiert. Als großer moralischer Gap, der sich zwischen den Generationen auftut und für die junge Generation sehr viel mehr Gerechtigkeitsbewusstsein vorgesehen hat, enthält Rasoulofs Film aber auch eindeutige Momente der Hoffnung. Wird Veränderung kommen, wenn nicht jetzt, dann später? Hoffnung zu geben ist, so könnte man formulieren, eine der Standardaufgaben des großen politischen Kinos. Und Hoffnung ist das Opium für die Unterdrückten, Ausgepeitschten, Ermordeten der Islamischen Republik. Die den Film nicht mehr sehen werden, nicht sehen können.
Rasoulofs Geschichte ist bedeutungsvoll angelegt. Im Zentrum steht die Familie des frisch zum Untersuchungsrichter des Revolutionsgerichts berufenen Iman, der natürlich nicht zufällig so heißt wie das Wort für Glauben im Islam. Er muss die Vollstreckungsurteile der Hinrichtungen unterzeichnen, ohne Einfluss nehmen zu können, ist also selbst nur ein Handlanger der iranischen Scharia mit der Rekordzahl von 853 Todesstrafen im Jahr 2023. Während er sich noch an seine Beförderung gewöhnt, die auch mit sich bringt, dass er eine Waffe bekommt, um notfalls auch seine Familie gegen Kritiker der Islamischen Republik zu verteidigen, beginnen auf den Straßen von Teheran die Aufstände der Frauen.
Die Geschichte von der Frau des Richters und den beiden Töchtern, die sich gegen das Familienoberhaupt stellen werden – und sich damit gegen das theokratische und patriarchale System per se wenden, ist gleichnishaft wie so oft im iranischen Kino. Zum großen Teil vollzieht sich die Handlung in den Privaträumen der Familie, zeigt, wie die Mutter versucht, ihre Töchter Rezvan und Sana auf System-Konformität zu halten, loyal dem Vater gegenüber, unberührt von den Ereignissen auf den Straßen von Teheran. Immer wieder schickt sie eine Freundin der Töchter weg, die im Studentenwohnheim in die Niederschlagung der Aufstände durch die Staatsgewalt gerät. In einer peniblen Szene hebt die Mutter vorsichtig die Schrotkugel aus der Haut des jungen Mädchens, die deren Gesicht zerfetzt haben.
Schließlich verschwindet die Waffe des Vaters, der Thriller-Plot hebt an. In den Gang der Handlung, und das macht Die Saat des heiligen Feigenbaums politisch so brisant wie ästhetisch interessant, montiert Rasoulof dokumentarische Aufnahmen von den Aufständen der Frauen, aufgenommen vom Schwarm der Mobiltelefone. Er kontrastiert das gewaltvolle und erschütternde Material auch mit dem Programm des Staatsfernsehens, das die Mutter von ihrer Couch im vielsagend grau-grün gehaltenen Wohnzimmer aus sieht und das anfänglich noch über die Aufstände berichtet. Bis die Sender wieder unter Kontrolle sind, Ratespiele und Soaps das Programm dominieren, die Nachrichten die Verlautbarungen der Mullahs ausstrahlen.
Rasoulofs Fiktion gibt ihm die gleichnishafte Geschichte vom Vater und seinen Töchtern, die er aber nicht in der Uneigentlichkeit über den realen politischen Verhältnissen verbleiben lässt. Er konkretisiert und expliziert sie in den dokumentarischen Aufnahmen der umwälzenden Realität. Und er schließt seine Geschichte und die politischen Ereignisse kurz, wenn die Töchter, die neue Generation, den Konflikt mit dem Vater, dem Patriarchen und Theokraten, zum Abschluss bringen.
Spektakulär ist der Showdown, in einer verlassenen Lehmstadt in den Bergen von Iran, in die sich die Mutter mit den Töchtern vor dem Vater geflüchtet hat, einer dem Western würdigen Szene. Im Häuserkampf der Schritte hört man nur das Getrippel der Schuhe auf den Lehmböden, den flach gehaltenen Atem der fliehenden Frauen, minutenlang, in einer stillen und kunstvollen Choreographie der Geräusche. Hier zeigt sich das Phantasma des engagierten Erzählens, Rasoulof beweist mit dieser finalen Szene seine große Kunst der politischen Poesie.
So ist Die Saat des heiligen Feigenbaums mehr als »nur« ein politischer Film. Er ist überaus kunstvoll, auch wenn er einen manichäischen Thrill zwischen dem Bösen des Systems und den Guten des Volkes entfaltet, der keine Ambivalenzen zulässt – und bei der Weltpremiere in Cannes das Publikum mitgehen ließ wie im Kasperletheater. Wenn der Böse eins auf die Rübe bekam, erntete das doch glatt Szenenapplaus.
Diese emotionale Rezeption des Films zur Premiere muss der politisch aufgeladenen Situation angerechnet werden, nicht etwa einer groben Inszenierung (es ist kaum zu erwarten, dass sich der Szenenapplaus wiederholt). Wenn der Vater qua Staatsbeamter gegen die Töchter ausgespielt wird, dann geschieht dies mit dem Blick auf das System der iranischen Theokratie, nicht als Überzeichnung der Verhältnisse. Die Werte der Familie sind hier ausgehebelt, und dass von den jungen Frauen die Kraft der Revolution ausgeht, ist für den Iran ebenso wie für Kurdistan, wo die Frauen gegen den IS kämpfen, eine immanente Logik.
Dieser Realität öffnet sich Die Saat des heiligen Feigenbaums bereitwillig. Rasoulof lässt mit dem dokumentarischen Material das Gleichnishafte des iranischen Kinos hinter sich, nennt die Dinge beim Namen und bringt sie erst dann durch seine Erzählung zu einer höchst kunstvollen, philosophisch-lehrhaften Anschauung. Und ist dabei alles andere als zurückhaltend. Eben weil er nicht nur Gleichnis bleibt, ist Die Saat des heiligen Feigenbaums alles andere als ein Feigenblattfilm.
Mohammad Rasoulof hat heimlich und im Verborgenen gedreht, und ebenso heimlich musste der Filmemacher aus dem Iran fliehen, von der Regierung, die mit Gefängnis, Folter und öffentlichen Peitschenhieben die Geschicke seines Landes diktiert. Fliehen musste er, weil er von seinem Recht auf Rede- und Meinungsfreiheit, auf Kunstfreiheit Gebrauch macht, einem Menschenrecht. Und so ist auch sein Film Die Saat des heiligen Feigenbaums klandestin aus dem Iran
geschmuggelt, Contrabande eines anderen Iran. Am letzten Tag des diesjährigen Festivals in Cannes konnte er gezeigt werden.
Vor diesem Hintergrund war es eine moralische und politische Selbstverständlichkeit, dass Rasoulof in Cannes begeistert empfangen wurde. Dieser Empfang und der Applaus auf den Publikumsrängen des Grand Théâtre Lumière und die uneingeschränkte Unterstützung durch die Vertreter des europäischen Autorenkinos gelten der Person des Regisseurs.
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Die rein ästhetische und kinematografische Bewertung seines Films sollte eine andere sein.
Die Geschichte dreht sich um Iman, der als Ermittlungsrichter am Revolutionsgericht in Teheran arbeitet, und seine Familie, seine Frau und die beiden heranwachsenden Töchter. Während sich die landesweiten politischen Proteste gegen die Regierung verschärfen, steigern sich sein Misstrauen und persönliche Paranoia, die den Film von den ersten Bildern an durchzogen haben. Als eines Tages seine Pistole auf mysteriöse Weise verschwindet, verdächtigt Iman seine Ehefrau Najmeh und seine Töchter Rezvan und Sana, etwas mit der Sache zu tun zu haben. Er beginnt zu Hause drastische Maßnahmen zu verhängen, was die Spannungen in der Familie verschärft. Schon bald werden soziale Normen und die Regeln des Familienlebens außer Kraft gesetzt, das öffentliche Regime greift auf die privatesten Verhältnisse über.
Die Saat des heiligen Feigenbaums bewegt sich sehr nahe an den dramaturgischen Formeln des strengen klassischen europäischen Autorenfilms, des Autorenfilms eher der 50er Jahre vor den Befreiungsbewegungen der Nouvelle Vague und anderer.
Der Film ist ein etwas überzeichnetes Moraldrama, das sich schnell hemmungslos in das Gebiet der Metaphern stürzt. Der Film will zugleich eine politische, eine kulturelle und eine psychoanalytische Metapher
sein, die immer offensichtlich und nie subtil gemeint ist. Es ist die Metapher einer parasitären Feige, die ihren Wirt tötet – sie benutzt Mohammad Rasoulof, um die Geschichte eines Beamten in der Justizverwaltung des iranischen Regimes zu erzählen, der zunächst zwischen seinen streng religiösem islamistischen Überzeugungen und den Zwängen der Regierung gefangen ist. Diese Gefangenschaft wird zu einem paranoiden sadomasochistischen Familienalptraum, der keine
der Hauptfiguren verschont.
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Während der ersten Hälfte der Geschichte scheinen wir uns in einem bestimmten filmischen Terrain zu befinden, das Zuschauer aus den Filmen Claude Chabrols kennen: die Unterordnung der Ethik unter den sozialen Status der Figuren.
Hier hat der Film alle Elemente, um ein guter Film zu sein. Drehbuch und Schauspielerinnen funktionieren wunderbar. So gleicht alles einem perfekt geölten Uhrwerk, das reibungslos und fehlerfrei abschnurrt, wie das Räderwerk des Regimes, das der Film anklagen will. Die Hauptfigur, der Vater, glaubt an das System. Seine Frau ist bereit, alles zu tun, um ihrem Mann zu gehorchen und ihm den sozialen Aufstieg zu ermöglichen. Sie wird zur Komplizin und Kollaborateurin des Regimes, indem sie von ihren Töchtern verlangt, sich »zu benehmen« und sich der Macht des Vaters genauso zu unterwerfen wie sie selbst.
Vielleicht ist diese Figur in ihrer Kollaboration mit dem Bösen die moralisch verwerflichere. Denn der Vater glaubt wenigstens an das, was er tut, er ist überzeugt, dass, auch wenn sich die Welt ändert, Gott dies nicht tut.
Die Handlung des Films spielt im Herbst 2022, als die iranischen Frauen auf die Straße gingen und ihre Schleier abnahmen. Universitäten wurden geschlossen, Gymnasiasten provozierten ihre Lehrer und die Polizei tat nichts anderes als hart zu unterdrücken: Strafen wurden erhöht, die Gefängnisse waren voll, aber die Revolution war da. In Alis Haus dringt der Hauch der Revolution auch in den ersten Teil ein, als ein Freund der ältesten Tochter zu Besuch kommt, der auf einer Demonstration angegriffen wurde. Bis zu diesem Punkt ist dies kein perfekter Film, aber wir sehen die Realität, die existiert und nach einer Erklärung verlangt. Und wir sehen, wie ein Filmemacher mit einem gewissen Mangel an Können versucht, ein gutes Drama zu schaffen.
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Im weiteren Verlauf des Films entfernen sich die aufeinanderfolgenden und ziemlich kapriziösen Wendungen der Handlung aber bald aus diesem Terrain. Die soziale Handlung wird metaphorisch. Es scheint, als ob die äußere Realität in den Hintergrund gedrängt wurde und die Metapher zum perfekten Instrument geworden ist, um alles zu erzählen und alle mögliche Komplexität aufzugeben. Die Metapher setzt sich im Herzen der Familie fest. Der Realismus verwandelt sich in recht
aufdringlichen Symbolismus, der zugleich eine kulturelle wie eine politische Komponente hat: Der Vater will herausfinden, welche der drei Frauen seine Waffe gestohlen hat, und das Monster beginnt, den Verstand zu verlieren. Die Bedeutung der Metapher ist so offensichtlich, dass sie lächerlich ist und fast zu einer elementaren Einführung in die Psychoanalyse wird. Durch den Verlust der Waffe ist der Vater von einer seiner Frauen kastriert worden. Die Kastration macht den Vater
nervös, weil er den Phallus verloren hat, der ihm Macht verleiht, und von da an beginnt er zu treten wie ein verwundetes Tier. Die Familienrevolution beinhaltet die Zerstörung des Patriarchats als Vorläufer einer umfassenderen politischen Revolution, die darin besteht, das Patriarchat der Ajatollahs, die den Iran regieren, zu vernichten.
Die Pistole als freudianisches Symbol des in Frage gestellten Patriarchats und die verlassene Stadt, in der die letzten Sequenzen
des Films spielen, und die aus Höhlen und Tunneln besteht, die die Form eines in sich zerstörten Labyrinths hat, als solle sie als Metapher für einen Iran fungieren, der durch den Wahnsinn, zu dem die Paranoia eines Polizeistaates führen kann, zerstört ist.
Dazwischen streut Rasoulof als explizite, vollkommen eindimensional-unmissverständliche Anprangerung der Herrschenden auch noch einige Videos der gewaltsamen polizeilichen Unterdrückung der Demonstranten bei den
jüngsten Aufständen in seinem Land ein – Machtkritik aus der Klippschule.
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Der ideologischen Sympathie, die dieser Film bei einer Mehrheit des Publikums erzielen wird, steht eine große dramaturgische und erzählerische Uneinheitlichkeit entgegen. Die zweiten Hälfte ist voll von absurden Situationen und selbstgefälligen Zugeständnissen an die in den Vordergrund geschobene Metapher: der Feigenbaum, dessen Äste sich, wenn sie wachsen, um den eigenen Stamm wickeln, bis sie ihn fast ersticken – wie es bereits in dem Zitat heißt, das am Anfang zu lesen ist, bevor der Film beginnt.
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Dass Rasoulof in Cannes den Hauptpreis nicht bekommen hat, war richtig. Dies ist ein Film, den man respektieren kann, aber kein Film, der Leidenschaft entfesselt. Es ist einfach ein Film, der ohne Frage über weite Strecken achtbar gemacht ist, aber er ist nicht perfekt, aber das ist auch nicht weiter schlimm.
Tatsächlich ist es auch ein gutes Zeichen, dass allein politische Verfolgung und Haft noch kein Argument für einen künstlerischen Preis sein können.
Am wichtigsten ist aber daran zu erinnern: Es gibt weitaus bessere Filme aus dem Iran. Sie sind zeitgemäßer, aktueller, sie handeln von Menschen, nicht von Bedeutungsträgern. Critical Zone zum Beispiel.