Türkei/D/RO 2018 · 106 min. · FSK: ab 12 Regie: Ali Vatansever Drehbuch: Ali Vatansever Kamera: Tudor Vladimir Panduru Darsteller: Erol Afsin, Kida Khodr Ramadan, Saadet Isil Aksoy, Ümmü Putgül, Onur Buldu u.a. |
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Eine uneitle Inszenierung, ganz dem Neorealismo verpflichtet | ||
(Foto: Real Fiction) |
„Saf“ ist ein türkischer Begriff, der u. a. „pur“ und „rein“ sowie „gutmütig“ bedeuten kann, aber auch „naiv“, „gutgläubig“ und „einfältig“. Insbesondere in Bezug auf einen Mann schwingt auch eine negative Konnotation mit, im Sinne von „der lässt sich leicht über den Tisch ziehen“ oder gar „Schlappschwanz“.
Kamil ist so ein Mann, lebt mit seiner Frau Remziye in kärglichen Verhältnissen im Viertel Fikirtepe auf der asiatischen Seite Istanbuls, sie erwarten ihr erstes Kind. Remziye putzt die Wohnungen der Oberschicht, während Kamil auf Arbeitssuche ist. Was für schlechte Karten das Leben ihm auch immer ausgeteilt haben mag, Kamil bleibt immer aufrecht und ehrlich, selbst wenn ihm Remziye, die ganz und gar nicht „saf“ sein will, Druck macht, sich auch mal ohne übertriebene Rücksicht das zu nehmen, was ihm zustünde.
Kamil bekommt die Chance auf einen Job als Baggerführer – aber nur, wenn er den Lohn seines schwarz beschäftigten und derzeit arbeitsunfähigen Vorgängers, des syrischen Flüchtlings Ammar, akzeptiert, der deutlich unter dem gängigen Tariflohn liegt, was seine Landsleute auf der Baustelle, für die jeder dieser unerwünschten Einwanderer per se eine Bedrohung ihres Arbeitsplatzes und Lohnniveaus ist, gegen ihn aufbringt.
Saf feierte schon 2018 auf dem Toronto International Film Festival seine Premiere, doch hat der Film nichts von seiner Aktualität verloren. Er beschreibt zwei bis heute gültige Phänomene der türkischen Gesellschaft: Zum einen die seit Erdoğans Amtsantritt herrschende Bauwut, die neben Prestigeobjekten, z. B. die dritte Bosporus-Brücke oder der neue Istanbuler Flughafen, auch urbane Transformationsprojekte, wie der auch in Deutschland vielbeachtete Umbau des Roma-Viertels Sulukule, hervorbrachte. Mit diesen Mammutvorhaben einher geht ein dringender Verdacht auf Korruption und Günstlingswirtschaft, deren politische Auswirkungen sich seither in jeder Wahl niederschlagen. Gerade die asiatische Seite Istanbuls bietet ein geradezu endloses Potenzial, Marginalsiedlungen niederzuwalzen und an ihre Stelle kapitalträchtige Geschäfts- und Wohnviertel entstehen zu lassen. Arabische und russische Investorengelder haben bereits deutliche Spuren im Moloch Istanbul hinterlassen, und Spekulationen erscheinen trotz der derzeitigen Währungskrise weiter lukrativ in einer Stadt, die zu den größten Metropolregionen der Welt gehört.
Das Gentrifizierungs-Dilemma wird von den Figuren des Films aufgegriffen – viele Einwohner des strukturschwachen Fikirtepe haben den Geldkoffern der Bauherren nicht widerstehen können und sind aus ihrer Heimat weggezogen, während sich eine immer stärkere Protestbewegung aus der übrig gebliebenen Bevölkerung formiert. Kamil und Remziye möchten gerne bleiben, wie der harte Rest des Viertels, sich eine kleine Familie aufbauen, doch die Zeit rennt ihnen davon, lange können sie sich finanziell nicht mehr über Wasser halten. Dabei braucht Kamil schnell Geld, um den Baggerführerschein nachzuholen und somit seinen neuen Job behalten zu können. Er ist gezwungen, sich für kämpferische Solidarität oder einen schnellen Cash-Out zu entscheiden.
Das zweite Thema betrifft die sogenannte Flüchtlingskrise, deren Auswirkungen die Türkei bereits lange vor 2015 zu spüren bekam und die seither Teile des Landes spaltet. Die Türkei hat auf Erdoğans Dekret schon früh den Flüchtlingsstrom hinter ihre Grenzen geleitet und mobile Camps eingerichtet. Es dauerte nicht lang, dass sich Millionen von Refugees nach Westen, vor allem in die türkischen Großstädte, aufmachten, um dort nach Arbeit zu suchen oder notfalls zu betteln. Vor allem syrische und afghanische Einwanderer bekommen nun zunehmend den Zorn türkischer Gruppen zu spüren, die – was aufgrund der in Deutschland herrschenden Klischees viele verwundern mag – sich nicht etwa uneingeschränkt zu ihren Glaubensbrüdern zugehörig fühlen, sondern, ebenso wie die Figuren im Film, Angst vor schwerwiegenden wirtschaftlichen, aber auch kulturellen Konsequenzen haben. Auch hier wird die Regierungspartei AKP dafür verantwortlich gemacht, aus politischem Kalkül die nach kemalistischen Prinzipien erfolgte Einheit des Landes aufs Spiel zu setzen. Es gab in einigen Großstädten bereits Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte, nachdem zuvor Übergriffe von Flüchtlingen auf türkische Bürger vermeldet worden waren. Die Lage ist unverändert komplex und kann jederzeit in die eine wie die andere Richtung kippen.
Für die beiden, diametral entgegengesetzten Seiten eines in einem Umbruch befindlichen Viertels, nein: Landes, stehen auch Kamil und Remziye, der Syrer Ammar ist lediglich der Katalysator. Bisweilen erinnert das an die Parabelhaftigkeit der Iranian New Wave. Der Autor und Regisseur Ali Vatansever, dessen zweiter Spielfilm Saf ist, fragt sich mit diesem Projekt, wie sehr man unter schwierigsten Bedingungen eben „pur“ und „rein“ bleiben, seine Humanität bewahren kann. Durch diesen Konflikt wird Kamil, hervorragend dargestellt vom Berliner Schauspieler Erol Afşin, vom Drehbuch sehr ökonomisch und dicht geführt – soll er dem verletzten Ammar (Kida Khodr Ramadan mal auf Arabisch) Proviant besorgen, oder soll er ihm, stellvertretend für alle Flüchtlinge, die Schuld an seiner Misere geben?
Der Einfallsreichtum ist in der ersten Hälfte des Films jedoch stark begrenzt, es wird eine kontinuierliche Abwärtsbewegung bis hin zum überraschenden Wendepunkt in der Mitte des Films durchgeführt. Figuren müssen die Last tragen, stellvertretend für bestimmte Prinzipien und Haltungen zu stehen, und ganz glaubwürdig sind so manche Begegnungen und Entscheidungen nicht. In der zweiten Hälfte des Films übernimmt Remziye das Ruder und ist eine deutlich aktivere Hauptfigur (zu Recht preisgekrönt: Saadet Işıl Aksoy), was dem Film gut tut – wobei Antworten auf viele der politischen Fragen aus- und das Ende offen bleibt.
Selbst wenn die Story arg konstruiert wirkt, die uneitle Inszenierung ist ganz dem Neorealismo verpflichtet und erdet den Film wohltuend. Hervorzuheben ist die hervorragende Bildgestaltung von Tudor Vladimir Panduru, der auch schon mit Cristian Mungiu in dessen letzten Film Bacalaureat zusammengearbeitet hat: der Kontrast urbaner Aussichten, die am Horizont drohen, zu der unromantisierten Härte einer Gecekondu-Siedlung in getönten Farben und dem alltäglichen Horror auf der lebensfeindlichen Baustelle wird durch seine Kameraarbeit erlebbar. Die schon erwähnten hervorragenden Schauspieler tun ihr übriges.
Ali Vatansever hat viel in seinen Film packen wollen, nach eigener Angabe vier Jahre alleine am Buch gearbeitet, und obgleich Saf trotz der langen Entwicklungszeit inhaltlich nicht das volle Potenzial abrufen kann, ist er doch ein sehr konzentrierter, eindringlicher kleiner Film geworden, der wie ein Schlüssel zum Verständnis drückender Probleme der heutigen Türkei wirken kann.